Das Eisentor öffnet sich. Die vier stapfen durch den Schnee Richtung Waldrand. Vor einem Grab bleiben sie stehen. Sie zünden Kerzen an. Ein junger Mann klaubt ein dickes Buch aus der Manteltasche. Laut rezitiert er:
Every life is in many days, day after day. We walk through ourselves, meeting robbers, ghosts, giants, old men, young men, wives, widows, brothers-in-love. But always meeting ourselves.
Nun stehen die vier stumm vor der Grabplatte. Jetzt beginnt es wieder zu schneien, und jetzt beginnen die zwei jungen Männer und zwei jungen Frauen zu singen. Laut schmettern sie die irische Nationalhymne in die kalte Nacht hinein.
Der Star unter den Toten
Das Grab von James Joyce ist der wichtigste Anziehungspunkt auf dem Zürcher Friedhof Fluntern. Der irische Schriftsteller und Verfasser von „Ulysses“ wird 1941 hier begraben. Er ist hier der Star unter den Toten. Doch er ist nicht der einzige Prominente auf diesem Friedhof, der vor genau 125 Jahren eingeweiht wurde. Wohl nirgendwo sonst in der Schweiz ruhen so viele berühmte Tote. Zürich rühmt sich, die Stadt mit den meisten Nobelpreisträgern zu sein, den toten und den lebendigen.
Neben James Joyce ruhen hier der Schriftsteller Elias Canetti, die Schauspielerin Therese Giehse, die zwei Chemie-Nobelpreisträger Paul Karrer und Leopold Rucicka, der Filmregisseur Kurt Früh, der Physiker Paul Scherrer und viele andere.
Die Villa der schönen Klara
Alles beginnt im Januar 1887. Damals weiht die Gemeinde Fluntern ihren Gemeindefriedhof ein. Der Ort auf dem Zürichberg ist idyllisch. Der Schriftsteller Robert Walser liebt ihn. Er nennt den angrenzenden Wald „warm, lebendig und süss. Welch ein Atmen aus den Tannen, welch ein Rauschen! Das Rauschen der Bäume macht jede Musik überflüssig.“
Damals, 1887, ist die Allmend Fluntern fast unverbaut. Nur ein elegantes Haus befindet sich einen Steinwurf vom Friedhof entfernt. Es ist die Villa der schönen und reichen Klara Aggapaia. Sie ist es, die sich in diesem Haus gleich in zwei junge Männer verliebt. So steht es in Walsers Roman „Geschwister Tanner“. Der Friedhof, der neben dieser Villa entsteht, hätte schon 1893 geschlossen werden sollen. Die Gemeinde Fluntern wird damals in die Stadt Zürich integriert. Fluntern soll jetzt zum weit entfernten Friedhof Enzenbühl auf der Rehalp gehören. Doch die Bevölkerung begehrt auf. 1905 wird eine Petition eingereicht. Der Friedhof Fluntern bleibt.
“Wir sind stolz auf diesen Friedhof“
In dieser Zeit kehrt Simon, Walsers Romanheld, auf den Zürichberg zurück. Die Villa von Klara Aggapaia ist abgerissen. An ihrer Stelle steht jetzt ein grosses Kurhaus des Frauenvereins, das heutige Hotel Zürichberg. Jetzt ist es die Hoteldirektorin, die sich verliebt. „Kommen Sie“ sagt sie Simon „wir gehen hinaus in die Winternacht. In den brausenden Wald“. Den Wald neben dem Friedhof.
Schon 1907 wird die Friedhofsfläche verdoppelt. 1937 folgt eine weitere und 1948 die bisher letzte Ausbauetappe.
Heute ist es mit der Ruhe auf dem Berg vorbei. Überall wurde gebaut. Sportanlagen und Restaurants entstanden. Der FIFA-Hauptsitz liegt hier. Der nahe Zoo bringt am Wochenende ein Verkehrschaos. Doch der Friedhof, sicher einer der schönsten der Schweiz, ruht würdevoll vor sich hin. „Wir sind stolz auf diesen Friedhof“, sagt Rolf Steinmann, der Leiter des Zürcher Bestattungs- und Friedhofamtes.
Die Toten hören mit
Doch auch auf dem Friedhof geht es oft hektisch zu. Ruedi Köpfli, der Friedhofverantwortliche, ist hier eine Art „Herr über die Toten“. Er berichtet von Invasionen ausländischer Touristen. Cars fahren vor, Geschichtsreisen machen hier halt, Literaturreisen. Viele Japaner kommen, Amerikaner, Briten – und natürlich Iren.
Und auch Professoren und Lehrer kommen. Sie scharen ihre Studenten und Schüler um die Gräber und legen dann mit ihren Open Air-Vorlesungen los. Neben dem Grab von James Joyce liegt jenes von Elias Canetti. Er nimmt in der Hitparade der meistbesuchten Gräber den zweiten Platz ein. Canetti lebte lange Zeit am Zürcher Römerhof. Dass sein Grab direkt neben jenem von James Joyce liegt, ist günstig für die Professoren und Lehrer. Sie brauchen nur wenige Schritte zu gehen – und schon können sie ihren Schülern und Studenten den nächsten grossen Literaten vorstellen.
Vögel zwitschern, Eichhörnchen huschen vorbei – und die Professoren reden und reden. Die Toten unter der Erde hören mit. Sie erfahren, was die Nachwelt Gescheites über sie herausgefunden hat.
“Ein katholischer Priester – das kann ich ihm nicht antun“
Dann geht die literarische Pilgerreise weiter zu den Gräbern zweier Theater-Grössen. Zunächst zu jenem der grossen Therese Ghiese. Sie spielt die Hauptrolle in der Uraufführung von Brechts „Mutter Courage“. Auch in den Uraufführungen von Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“ und „Die Physiker“ ist sie die Nummer eins. Sie, die dem Zürcher Schauspielhaus lange Jahre treu war, hatte den ausdrücklichen Wunsch, in Fluntern begraben zu sein.
Dann geht’s zum legendären Oskar Wälterin. Er leitet ab 1938 das Zürcher Schauspielhaus und macht es zu einer der bedeutendsten europäischen Bühnen.
Trotz all diesem Glamour – James Joyce ist die Nummer eins hier. Er leidet am 9. Januar 1941 nach einem Abendessen in der Kronenhalle unter starken Magenkrämpfen. Er stirbt am frühen Morgen des 13. Januar 1941 im Zürcher Rotkreuz-Spital. Diagnose: Durchbruch des Zwölffingerdarms. Ein katholischer Priester will die Abdankung halten. „Das kann ich meinem Mann nicht antun“, protestiert seine Frau Nora Barnacle. Statt des katholischen Priesters kommt der halbe Bundesrat zur Beerdigung.
Nora besucht das Grab fast täglich. „Ich denke, der Friedhof muss ihm gefallen“, sagt sie. „Er liegt nahe beim Zoo und man kann die Löwen brüllen hören“.
Depressionen, Geldmangel
James und Nora waren lange mit Zürich verbunden. 1904 treffen sie erstmals im Gasthof Hoffnung ein. Hier schlafen sie zum ersten Mal miteinander. Doch eine versprochene Stelle als Lehrer kriegt Joyce nicht. So pendelt er ein Leben lang zwischen Zürich und Triest, zwischen Istrien und Rom, zwischen Paris und Dublin. Häufig ist er krank, von Depressionen und chronischem Geldmangel geplagt.
Die Schweiz, die ihn nun so verehrt, verhält sich oft schäbig ihm gegenüber und seiner Frau. Dass er die letzten Monate in Zürich verbringt und hier stirbt, verdankt er vielen Freunden. Sie sind es, die eine Kaution für die Fremdenpolizei aufbringen. Nach seinem Tod hätte Nora die Kaution zurückzahlen sollen. Nur wenige helfen ihr. Unter ihnen befindet sich die Besitzerin der Kronenhalle. Bei ihr darf Nora gratis essen.
Mann und Frau, im Tod getrennt – vorerst
James Joyce lag nicht immer dort, wo er heute liegt. Er kommt zunächst ins Reihengrab Nummer 1449. Zehn Jahre später stirbt Nora. Auch sie wird in Fluntern beerdigt, doch neben ihrem Mann gibt es keinen Platz. So wird sie im Grab Nummer 1790 begraben.
1965 werden James und Nora exhumiert. In der sogenannten Apsis des Friedhofs wird ein Ehrengrab für beide angelegt. 1966 wird hinter dem Grab eine Bronzestatue des Amerikaners Milton Hebald eingeweiht
Wein und Whiskey für den Toten
Ruedi Köpfli könnte man lange zuhören, wenn er enthusiastisch von „seinem“ Friedhof berichtet. Er kennt fast jedes Grab. Er kennt viele Geschichten, die dahinter stehen. Eigentlich sollte er ein Buch schreiben. Er erzählt von irischen Besuchern, die Blumen oder Münzen aufs Grab von James Joyce legen – oder immer wieder auch volle Whiskey- oder Weinflaschen. Joyce liebte Whiskey und Wein, und so soll er auch jetzt etwas zu trinken haben. Wie heisst es doch in „Ulysses“: „Eat, drink and be merry. For tomorrow we die“.
Köpfli erzählt auch von Joyce-Liebhabern, die seine Bücher aufs Grab legen – um sie - sozusagen - vom Toten signieren zu lassen. Am letzten Freitag, seinem Todestag, liegt eine SBB-Fahrkarte neben der Grabplatte. Auf die Rückseite schrieb jemand: „A man's errors are his portals of discovery (James Joyce)“.
“Gewisse Bräuche der Touristen“
Einmal erhielt das Zürcher Friedhofsamt einen Brief von Stephen J. Joyce. Er ist der Enkel von James Joyce und sein nicht ganz unbestrittener Erbverwalter. Der Enkel dankte dem Friedhofsamt dafür, dass sich das Grab seines Grossvaters in so gutem Zustand befindet. Doch er habe sich über „gewisse Bräuche von Touristen geärgert“. So habe er selbst eine irische Flagge entfernt. Das Taxi hat auf die vier eingeschneiten Grabbesucher gewartet. Sie fahren hinunter ins Stadtzentrum. Dort, in der Pelikanstrasse, stehen sie jetzt an einer Bar. Sie bestellen Murphy's Irish Stout und singen. Auf dem Tresen liegt eine Ausgabe von „Ulysses“ – eben signiert.
Die Bar heisst: „James Joyce Bar“. Die Iren sind ein treues Volk.
Die berühmten Toten auf dem Friedhof Zürich-Fluntern
Emil Abderhalden (1877-1950), Arzt
Anita Augspurg (1857-1943), Frauenrechtlerin
Nora Barnacle (1884-1951), Jocyes Lebensgefährtin
Elias Canetti (1905-1994), Literaturnobelpreisträger
Louis Conne, (1905-2004), Bildhauer
Walter Robert Corti (1910-1990), Philosoph
Kurt Früh (1915-1979), Filmregisseur
Therese Giehse (1898-1975), Schauspielerin
Ernst Ginsberg (1904-1964), Schauspieler und Regisseur
Friedrich Hegar (1841-1927), Komponist
Jakob Heusser (1895-1989), Regierungsrat
Lida Gustava Heymann (1868-1943), Frauenrechtlerin
Warja Honegger-Lavater (1913-2007), Grafikerin
Fritz Hug (1921-1989), Maler
James Joyce (1882-1941), Schriftsteller
Paul Karrer (1889-1971), Nobelpreisträger Chemie
Mary Lavater-Sloman (1891-1980), Schriftstellerin
Albert Meyer, Bundesrat
Karl Moser (1860-1936), Architekt
Wilhelm Oechsli (1851-1919), Historiker (Grabstätte aufgehoben)
Emil Oprecht (1895-1952), Verleger
Eduard Osenbrüggen (1809-1879), Rechtswissenschaftler
Hans Roelli (1889-1962), Liedermacher
Leopold Ružička (1887-1976), Nobelpreisträger Chemie
Max Rychner (1897-1965), Schriftsteller
Paul Scherrer (1890-1969), Physiker
Ernst Streckeisen (1905-1978), Neuapostolischer Geistlicher
Leopold Szondi (1893-1986), Psychoanalytiker
Péter Szondi (1929-1971), Literaturwissenschaftler
Fridolin Tschudi (1912-1966), Schriftsteller
Oskar Waelterlin (1895-1961), Regisseur
Hans Wagner (1905-1985), Augenarzt
Sigmund Widmer (1919-2003), Stadtpräsident