Als Folge des Krieges haben wir im Westen begonnen, uns intensiver mit der ukrainischen Vergangenheit und Kultur zu befassen. Die faszinierenden Bilder der deutschen Fotografin Isolde Ohlbaum leisten einen wunderbaren Beitrag.
Die Fotos des jetzt neue aufgelegten Bildbandes «Czernowitz und Lemberg» entstanden in den Jahren 2008, 2012 und 2013 . Sie sind wertvoll, weil sie das Leben nach dem Zweiten Weltkrieg vor dem jetzigen Krieg dokumentieren.
Isolde Ohlbaum gehört zu den berühmtesten zeitgenössischen deutschen Fotografinnen. Bekannt wurde sie unter anderem durch die Porträts fast aller bedeutenden Schriftsteller deutscher Sprache sowie zahlreicher internationaler Autoren des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Zudem verfasste sie zwanzig Bücher.
Gegenüber Journal 21 erzählt sie von ihren Reisen nach Lemberg (Lwiw) und Czernowitz.
Journal 21: Frau Ohlbaum, die Ukraine spielte vor der russischen Annexion der Krim und dem Ukraine-Krieg im westeuropäischen Bewusstsein doch eine marginale Rolle. Wieso wählten Sie gerade die Ukraine für Ihren Bildband?
Isolde Ohlbaum: Ja, von der Ukraine wussten wir damals nicht viel. Umso erstaunlicher war es, als die «Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung» 2008 beschloss, ihre mehrtägige Jahrestagung in Lemberg abzuhalten. Anschliessend wurde noch eine Fahrt nach Iwano-Frankiwsk und Czernowitz angeboten. Beide Städte waren für mich eine Entdeckung, und ich war angenehm überrascht.
In Lemberg habe ich mich an Wien erinnert gefühlt, was die Architektur betraf. Und im idyllischen Czernowitz war mir manchmal, als sei die Zeit zurückgedreht. Es war die Stadt, in der Celan und Rose Ausländer geboren sind, aber auch Erwin Chargaff und Gregor von Rezzori, die ich beide noch fotografiert hatte. Es war für mich klar, dass ich noch einmal einmal zurückkommen würde.
Journal 21: Was empfinden Sie angesichts des Krieges?
Isolde Ohlbaum: Ich bin einfach nur fassungslos. Herr Putin sitzt bequem am Schreibtisch und opfert sinnlos das Leben so vieler junger Menschen für seinen Machterhalt und seine Phantasien. Und er belügt schamlos ein ganzes Volk, sein eigenes Volk. Schlimm ist aber auch die Rolle der russisch-orthodoxen Kirche. Das macht nur noch wütend.
Isolde Ohlbaum: Als eine Freundin nach Lemberg und anschliessend zum Poesiefestival MERIDAN fuhr, habe ich mich angeschlossen. Der Übersetzer Jurko Prochaska zeigte uns dann sein Lemberg und anschliessend fuhren wir mit dem Bus nach Czernowitz weiter.
Dort habe ich mir dann zwar die eine oder andere Lesung internationaler Lyriker angehört, doch ich bin stundenlang allein mit meiner Kamera unterwegs gewesen, um die Stadt zu erkunden. Und ich habe an einem Tag eine Journalistin vom WDR begleitet, die eine Führung durch das jüdische Czernowitz organisiert hatte und die Genehmigung erhielt, die eingezäunte Ruine von Sadagora zu betreten, die inzwischen renoviert wurde. Im darauffolgenden Jahr habe ich dann die Reise noch einmal wiederholt.
«Es wird uns nie gelingen, Lemberg voll zu erfassen»
Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch, eine der wichtigsten kulturellen Stimmen seines Landes, steuerte einen sehr persönlichen, informativen Text über Lemberg und Czernowitz bei – zwei Städte, die er, wie er sagt, vielleicht Tausende Male besucht hat.
«Wie viel auch über Lemberg geschrieben wird, wird es doch keinem von uns je gelingen, es mit seinem Geschriebenen voll zu erfassen.»
«Die Stadt der Huren»
In Lemberg, so erzählt er, sei «die erste Gaslaterne der Welt» entzündet worden. Er zitiert einen Bibliothekar aus dem Jahr 1784, der Lemberg «die Stadt der Huren» nennt. Lemberg sei die Stadt der Ukrainer, Polen, Deutschen, Juden, Armenier, Serben, Dalatiner, Arnauten, Türken, Tataren, Araber, Tschechen. Die Stadt mit einem der grössten Konzentrationslager, der Folterkammern, der «viehischen Vernichtungen». Hier wurden Hunderttausende Menschen umgebracht.
Lemberg später: ein Touristenmagnet mit zwei Millionen Besuchern pro Jahr, die Stadt der literarischen Volksfeste, das kulinarische Mekka der Ukraine, lebensfreudig, farbig, die Stadt der Kneipen, Cafés, Bars, der Festivals. «Lemberg ist ungemein erotisch, seine Luft elektrisiert vom Flirten, Tanzen, Blickewechsel».
«Ein phänomenaler Basar»
Dreieinhalb Eisenbahnstunden südlich liegt Czernowitz, die Stadt, in der laut Andruchowytsch der erste Kebab der Ukraine hergestellt wurde, in der die erste Wasserpfeife geraucht und der erste Tschador getragen wurde, eine Oase der Toleranz im österreichisch-ungarischen Imperium. Die Stadt auch, von wo aus Juden zu Tausenden in Güterwaggons verfrachtet und nach Transnistrien in den Tod geführt wurden.
Czernowitz mit dem Kalyniwskyj-Markt, «ein phänomenaler Basar, ein Monsterbasar ... so vollgestopft mit allem möglichen Kram aus der Türkei, dass ein naiver Kulturologe die Rückkehr der balkanischtürkischen Einflusssphäre konstatieren könnte», so Andruchowytsch.
Die aus aktuellem Anlass vom «Wunderhorn»-Verlag jetzt vorlegte neue Auflage des Bildbandes «Czernowitz und Lemberg» *) gibt einen tiefen Einblick in das, was man «die westukrainische Seele» nennen könnte. Die Bilder von Isolde Ohlbaum und der Text von Juri Andruchowytsch fügen sich zu einem überraschenden Ganzen zusammen.
***
Lemberg, das heutige Lwiw, das nahe der polnischen Grenze liegt, wurde seit Beginn des Krieges mehrmals von russischen Raketen beschossen. Das südlicher gelegene Czernowitz blieb bisher weitgehend verschont.
*) Isolde Ohlbaum, Juri Andruchowytsch: «Czernowitz und Lemberg».
Wunderhorn-Verlag Heidelberg, 2017, 2022, 96 Seiten, Euro 23.00 (Übersetzung des Textes von Juri Andruchowytsch: Sabine Stöhr)