Einmal muss es sein. Das Projekt geistert schon eine ganze Weile in unseren Köpfen herum. Schliesslich wird man nicht jünger. Und Meteo Schweiz kündigt gutes Wetter an. Also setzen wir* uns in die Rhätische Bahn, fahren das Albulatal hinauf bis Preda, steigen aus und wandern am malerischen Lai da Palpuogna vorbei, erreichen die kleine Ebene, auf der die ETH die hochalpine Kuh- und Schafhaltung erforscht, überqueren die Passstrasse und steigen weiter auf dem schmalen, mit den vertrauten Weiss-Rot-Zeichen markierten Pfad Richtung Fuorcla Crap Alv.
Diese Fuorcla zieht ziemlich viele Berggänger an, die Route ist angenehm, bietet herrliche Aussichten und führt an zwei Seelein vorbei, die in der Sonne lächeln und somit zum Bade laden – deren Temperatur allerdings jene, die die Einladung annehmen, ziemlich schnell auch wieder auslädt. Aber soweit kommen wir gar nicht, wir müssen vorher abbiegen. Uns lächelt kein See, sondern eine steile Gras- und weiter oben eine noch steilere Geröllhalde.
Kunst, die den Atem verschlägt
Hier hinauf? Muss das sein? Es muss. Wir fassen Mut, wir fassen Tritt. Das Wanderauge ist ganz auf das abschüssige Terrain konzentriert, es nimmt von der Bartanemone kaum Notiz, auch nicht von den zartfarbenen Flechten auf den Steinen, und nur flüchtig vom gebleichten Gemsskelett, das auf den Steinen liegt. „Wandern“ ist jetzt ohnehin der falsche Ausdruck, wir kraxeln – und bei diesen ziemlich ungewohnten Bewegungsabläufen laufen oder fahren oder schiessen einem Erinnerungsfetzen durchs Hirn. Was hat Peter von Matt unlängst über die Kunst gesagt? Sie sei Verschwendung. Sie lasse einen die Zeit vergessen. Man erinnere sich noch nach Jahren jener Momente, in denen der Anblick eines Kunstwerks einem den Atem verschlagen habe.
Dann ist die Geröllhalde bezwungen, es wird wieder flacher? Jetzt müsste das Objekt, dem wir auf der Spur sind, allmählich sichtbar werden. Doch wo steht es? Wir wissen nur, dass der Künstler es mit Absicht nicht so platziert hat, wie die traditionellen Steinmannli platziert sind. Also weiter gehen, um ein kleines Felsband herum – und da taucht es auf. Auf Distanz sieht es aus wie eine abgebrochene römische Säule. Aber eine Säule ist es nicht, schon gar keine römische.
Der russische Grosshelikopter
Heinz Niederer, der Künstler, nennt sein Schaffen „timeart“. Seine Werke sind oft massive, wuchtige Eisenplastiken (z.B. die 15tönnige „Chapalki“, die in Schlieren steht). Aber er verwendet auch andere Materialien, etwa Eis (in Gestalt eines Eisschiffs, das auf der Donau schwamm und in einer knappen Stunde dahin schmolz), oder Graphiteier, die er in den Schlund des Vulkans Kilauea auf Hawaii warf, wo sie eines Tages (aber nicht vor 1,8 Millionen Jahren) in Form von Diamanten zum Vorschein kommen werden, möglicherweise. Die Dimension Zeit gehört zum Werk wie das Material.
Doch zurück zur Säule, die keine ist. In der Beschreibung dieses Werks vermerkt Niederer, er habe während Jahren d i e Wasserscheide zwischen Schwarzem Meer und Nordsee gesucht. Die Wasserscheide? Das tönt etwas merkwürdig; solche Wasserscheiden gibt es in den Bündner Bergen unzählige. Aber Niederers Sinn stand nicht nach irgendeiner Wasserscheide, er wollte d e n Wasserscheide-Punkt finden, der für ihn stimmte. Und er fand ihn westlich des pyramidenförmigen Dschimels, in der Nähe von Punkt 2543, in völliger Weglosigkeit. Das war Ende der 1980er Jahre.
Dann machte er sich ans Werk. Er schmiedete eine viereckige Stahlplastik, 110 cm hoch, die Seitenlängen 80 cm, 4 Tonnen Gewicht, und taufte sie „Sparzava“. Oben ist eine trichterförmige Vertiefung eingelassen, man könnte darin ein Taufbecken sehen, doch es ist kein Taufbecken, das Becken hat einen Abflussschacht, der von zwei Seiten schräg angebohrt ist. Das Problem des Transports löste ein russischer Grosshelikopter, der 1990 zu Testzwecken im schweizerischen Luftraum herumflog und die „Sparzava“ an Niederers Wasserscheide-Punkt deponierte.
Seit damals steht die künstliche Wasserscheide nun auf der natürlichen, und wir stehen um sie herum, befühlen sie, begutachten die Austrittslöcher und bedauern ein bisschen, dass kein zumindest lokales Regengüsschen niedergeht, dessen Tropfen wir hätten beobachten können, wie sie ihren langen Lauf Richtung Inn, Donau, Schwarzes Meer bzw. Albula, Rhein in die Nordsee antreten. Und wir fragen uns, wie ein Künstler auf die Idee kommen kann, seine Kunst dermassen systematisch vor Publikum zu verstecken. Exakt in dem Moment kommt ein einsamer Berggänger auf uns zu und erkundigt sich, was cheibs es mit diesem Klotz auf sich habe…Ein merkwürdiger Ort, dieser Punkt 2543.
Anzufügen ist, dass der Eintritt zur Besichtigung des Objekts frei ist, sieht man vom mühseligen Auf- und noch mühseligeren Abstieg ab. Ausserdem: Es trifft zu, was Peter von Matt über die Kunst gesagt hat - ihre Betrachtung kann Einfluss nehmen auf den Atem. Und noch dies: Der Künstler rechnet, dass es 6000 Jahre dauern wird, bis Regen und Rost, Blitze, Schnee und Eis sein Werk demoliert haben werden. In dieser Zeitspanne dürfte es für seine timeart immer wieder mal besondere Momente geben; dann, die „Sparzava“ im Lichtschein des Elmsfeuers steht. Schade nur, dass dies kaum jemand sehen wird.
*Mein Dank geht an journal21-Autor Emanuel LaRoche, der den Impuls für den Besuch der „Sparzava“ gab.