In seinem Essay «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr» (NZZ Libro) zeichnet Ex-Botschafter Paul Widmer ein stark nach innen gerichtetes Bild unseres Landes. Im Zentrum seiner Überlegungen: die Neutralität. Zwei andere aktuelle Bücher zum gleichen Themenkreis setzten deutlich andere Akzente als der bekennende Konservative Widmer.
Als er später zurückblickte auf seine Zeit als amerikanischer Chefspion in der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, stellte der nachmalige CIA-Chef Allen W. Dulles durchaus anerkennend fest, ihm gegenüber hätten die Schweizer strikt die Regeln der Neutralität beachtet. «Es war jedoch», fügte er vielsagend hinzu, «eine wohlwollende Neutralität.»
In der Tat: Die Spitze des schweizerischen Nachrichtendienstes liess die Geheimdienste der Westalliierten nicht nur ungehindert gewähren, weshalb die Schweiz denn auch von deutscher Seite als «Spionagezentrum schlimmster Sorte» betrachtet wurde. Darüber hinaus war Allen W. Dulles ein gefragter Gesprächspartner für Politiker und Offiziere bis hinaus zum General. Und: Auf unterer Ebene versorgte man sich gegenseitig rege mit Informationen über die Achsenmächte Deutschland und Italien.
Die Schweiz als Modell
Was der Neutrale darf – und wovon er seine Finger lassen sollte – das ist sehr variabel. Das wird spätestens dann deutlich, wenn man sich beim schmalen Buch, um das es hier gehen soll, dem letzten Teil nähert. «Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr»: Schon mit dem Titel seines gerade bei NZZ Libro erschienenen Essays will Paul Widmer nicht nur verdeutlichen, sondern aufrütteln. In den Debatten unserer Zeit ist er kein Unbekannter. In politischen und historischen Büchern hat der ehemalige Diplomat vor allem die Schweizer Aussenpolitik und ihre Geschichte ins Visier genommen, und in Beiträgen für Zeitungen greift er gern in aktuelle Debatten ein. In «Die Schweiz ist anders» verbinden sich das historische und das politisch-gegenwartsbezogene Interesse.
Das wird, zu Beginn, noch nicht so recht deutlich. Da stellt Paul Widmer Überlegungen an zur Schweiz als Modell und skizziert ihre Sonderentwicklung. Das Modell kennzeichnet er mit vier Stichworten, die in seinen Augen zugleich die Trümpfe der Schweiz darstellen: Demokratie, Mehrsprachigkeit, Föderalismus, Neutralität. Ihnen allen sei eines gemeinsam: «Sie schränken die Machtkonzentration im Staat ein.» Und sie finden weitherum Beachtung, wie mit einer stattlichen Reihe von Zitaten quer durch die Jahrhunderte belegt werden kann. Denn die Schweiz, das ist – so Karl Schmid – auch immer ein «Ort des Gegenläufigen» gewesen.
Gegenläufigkeit der Schweiz – nur teilweise
Dieses «Gegenläufige» nun klopft Widmer auf seine Substanz ab – und auf seinen gegenwärtigen Zustand. Er kommt auf Entwicklungen zu sprechen, die der Schweiz geholfen haben in ihrem Streben nach Eigenständigkeit – etwa das Zerwürfnis der Zwinglianer mit den Lutheranern, das die Schweiz zusammen mit dem Calvinismus zur religiösen Insel hat werden lassen. Doch so ergiebig diese Erkundungsfahrten in die Vergangenheit auch sind: Es zeigen sich grosse, vielsagende Lücken, die vor allem auf eines zurückzuführen sind: auf ein statisches und isoliertes Schweiz-Bild.
Paul Widmer beschwört den Geist der Freiheit, aus dem heraus die moderne Schweiz mit ihrer direkten Demokratie gewachsen ist, legt aber nicht ausreichend dar, dass diese Freiheit nicht nur immer wieder erkämpft werden musste, sondern dass sie sich in ihrem inneren Gehalt auch massiv gewandelt hat. Bis hin zur Einführung des Frauenstimmrechts 1971. Was auch ein – freilich der herkömmlichen Erfolgsgeschichte entgegenstehendes – Thema gewesen wäre: die Verspätungen der Schweiz, ihr gemächliches Tempo, ihr konservativer Geist, der Neues be- und manchmal auch verhindert.
Eine Erfolgsgeschichte ist die Schweiz vor allem wirtschaftlich und sozial, was von Paul Widmer kaum thematisiert wird. Wirtschaftlich durch eine schon früh einsetzende und aus der Not geborene Vernetzung mit der Welt, sozial durch den in Konflikten erstrittenen Einbezug immer neuer Schichten und Gruppen in die Entscheidungsprozesse. Von unten her ist da ein Staatswesen herangewachsen, dessen kleinräumige Elemente grossen Wert darauf legten und legen, möglichst eigenständig zu bleiben. Dass dies auch ein gehöriges Mass an Engagement und Eigenverantwortung voraussetzt, betont Paul Widmer zu Recht.
Ohne Napoleon keine moderne Schweiz
Aber er tut so, als habe sich diese Entwicklung in einer selbst gewählten Isolation vollzogen, unter Rückgriff nur auf eine bis ins Mittelalter zurückreichende Freiheitstradition. Damit steht er in deutlichem Widerspruch etwa zu Thomas Schuler, der in seiner vor kurzem publizierten Untersuchung über «Napoleon und die Schweiz» konstatiert: «Fest steht, dass ohne den räuberischen französischen Überfall von 1798 die festgefahrenen Strukturen der Schweiz des Ancien Régime noch sehr lange nicht aufgebrochen worden wären. Durch die von Napoleon gestiftete Mediation von 1803 wurden die Grundlagen für die Entwicklung eines modernen, föderalistischen Staatswesens – ohne Untertanen – geschaffen.»
Wegweisend für die aussenpolitische Zukunft der Schweiz sei die auf dem Wiener Kongress von den Grossmächten auferlegte Neutralität, fährt Schuler fort. Sie habe dazu geführt, «dass die Schweiz von den Stürmen zweier Weltkriege im 20.Jahrhundert nahezu unberührt blieb und zu dem kulturell vielfältigen und prosperierenden Land wurde, das sie heute ist».
Dieser Einschätzung dürfte Paul Widmer zustimmen, der im letzten Teil seines Essays erläutert, wie sich auf dem Wiener Kongress die Interessen der Grossmächte mit jenen der Schweiz getroffen hätten. Allerdings: «So erfreulich dieser Erfolg ist, darf man darob nicht vergessen, dass die Neutralität etwas Fragiles ist.» Der neutrale Staat finde sich immer in Machtkonstellationen eingebettet, die Respektierung der Neutralität hänge dabei von zwei Faktoren ab: «Erstens von der Pflichterfüllung des Neutralen selbst und zweitens vom Interesse der Grossmächte an dessen Neutralität.»
Einseitige Kritik an der Ukraine-Politik
An dieser Pflichterfüllung hegt Paul Widmer mit Blick auf die bundesrätliche Ukraine-Politik deutliche Zweifel – obschon er eingesteht, dass nirgends verbindlich festgehalten sei, wie weit ein Neutraler in der Gestaltung seiner Nautralitätspolitik gehen dürfe. Sicherheitspolitische Kreise innerhalb und ausserhalb der Verwaltung wollten «die Neutralität Schritt für Schritt entkernen», kommentiert er einen Bericht des Verteidigungsdepartements zur verstärkten Kooperation mit der Nato, und die rasche Übernahme der EU-Sanktionen gegenüber Russland durch den Bundesrat nennt er «fragwürdig».
Damit landet er mitten in jenen Debatten, auf die der Historiker Marco Jorio in seinem materialreichen Buch «Die Schweiz und ihre Neutralität» nach einem Gang durch 400 Jahre Geschichte zu sprechen kommt. Während Paul Widmer den gleichbleibenden Kerngehalt der Neutralität betont, unterstreicht Jorio jene veränderten Zeitumstände, die zu einem Wiederaufflammen der Neutralitätsdebatte geführt haben.
Den Aggressor gleich behandeln wie das Opfer?
Die Neutralität, so Jorio, «lebte von den Konflikten zwischen den Nachbarmächten». Heute, unter anderen Umständen, laufe sie Gefahr, bei einer militärischen Bedrohung allein gelassen zu werden. Sie müsse erkennen, dass die Haager Konvention von 1907, auf die sich das Neutralitätsrecht noch immer stützt, in Teilen gar nicht mehr gültig sei. Weil damals der Krieg nicht derart geächtet gewesen sei wie heute. Damit habe sich etwa Artikel 9 erledigt, der die Gleichbehandlung aller Kriegsparteien – des Aggressors wie des Opfers – verlangt. Und der Neutrale müsse und dürfe den Aggressor nicht mehr gleich behandeln wie das Opfer.
Was bedeutet: «Unterschiedslose Waffenausfuhrverbote gegenüber dem Opfer und dem Aggressor sind nicht neutral und moralisch fragwürdig, da sie in der Regel dem mächtigeren Aggressor nützen.»
Paul Widmer: Die Schweiz ist anders – oder sie ist keine Schweiz mehr. NZZ Libro, Basel 2023, 125 Seiten
Thomas Schuler: Napoleon und die Schweiz. NZZ Libro, Basel 2022, 295 Seiten
Marco Jorio: Die Schweiz und ihre Neutralität. Eine 400-jährige Geschichte. Verlag Hier und Jetzt, Zürich 2023, 502 Seiten.