Zehntausende von Briefen soll Marcel Proust geschrieben haben. Ungefähr 5000 davon sind bis heute bekannt und in französischer Sprache publiziert. Aus diesem Material hat der Herausgeber Jürgen Ritte nicht ganz 600 Briefe für die deutsche Ausgabe ausgesucht. Er, Achim Russer und Bernd Schwibs haben übersetzt, kommentiert, alle nur denkbaren Informationen in Fussnoten zusammengetragen und ein Verzeichnis der Adressaten mit Kurzbiografien dazugestellt.
Eine Lebensnotwendigkeit
Man kann die beiden nahezu 1500 Seiten umfassenden Bände akribisch wissenschaftlich lesen, sich also über den Editionsapparat bis ins Detail informieren und belehren lassen oder man überlässt sich dem Charme, dem Sog, dem formvollendeten Sprachkunstwerk der reinen Texte, lässt den Apparat ausser Acht und wird auch so die vielen Ichs des grossen Proust nicht verfehlen.
Briefschreiben, das muss man sich vor Augen halten, war in intellektuellen Milieus des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhundert eine vielfach geübte, eine selbstverständliche Disziplin. Gerade im Paris des Marcel Proust war sie unter Literaten, Journalisten, im gehobenen Bürgertum und im Adel besonders beliebt und verbreitet. Die Stadtbehörden taten alles, um das Zirkulieren zu erleichtern. Drei Mal am Tag wurden Briefe von der Post zugestellt, zusätzlich gab es ein Rohrpostsystem, das die Zustellung beschleunigte und schliesslich war es üblich, dringende Mitteilungen mit privat engagierten Boten auf den Weg zu schicken.
Hauptsächlich im Bett geschrieben
Für Marcel Proust, der über ein umfängliches Netz an Bekannten und Freunden verfügte, ein eifriger Kommunikator war und als schwerer Asthmatiker das letzte Drittel seines Lebens hauptsächlich im Bett verbringen musste, waren Briefe so etwas wie das tägliche Brot. Existentielle Notwendigkeit, ohne die er nicht hätte sein können. Als Romancier warnte er Leser und Kritiker davor, aus der Biografie des Autors Schlüsse für das Werk zu ziehen.
Aus diesem Grund und mit zunehmender Berühmtheit zu Recht befürchtend, dass Empfänger seiner Briefe versucht sein könnten, aus ihnen Kapital zu schlagen, bat er seine Adressaten, die erhaltenen Briefe zu vernichten. Was sie natürlich nicht taten. Glücklicherweise: Hätten sie uns Nachgeborene doch um einen wertvollen Schatz gebracht!
Dandy, Spekulant und Freund
Man begegnet beim Lesen in den Briefen den verschiedenen Ichs des Autors – und wird sich doch, nach und nach, der einzigartigen Persönlichkeit Prousts gewahr, des Charakter-Gefässes, das all diese Ichs beherbergt.
Da gibt es den jungen Mann als mondänen Dandy, der gerne klatscht, sich um Zutritt zu den Salons der Pariser Schickeria bemüht, Freundschaften zu jungen Männern und Frauen der guten Gesellschaft sucht und pflegt, sich in schwule Liebschaften verstrickt; wir entdecken den Spieler, den Börsenspekulanten, der ein beachtliches Vermögen in den Sand setzt, den zeitlebens an Erstickungsanfällen Leidenden, der sich mal tapfer, mal fatalistisch, mal hypochondrisch mit seiner Krankheit auseinandersetzt; den hoch gebildeten Literatur-, Kunst- und Musikkenner, der sich mit Hingabe einem literarischen Genre widmet, das sich zu seinen Lebzeiten in Zeitungen und Zeitschriften grosser Beliebtheit erfreute, dem Schreiben von sogenannten „pastiches“ (das sind literarische Kunststücke, meist satirisch grundiert, in denen der Autor den Stil eines berühmten Schriftstellers imitiert).
Einblicke in die Werkstatt
Je weiter man kommt in der chronologischen Lektüre, umso präsenter wird das literarische Ich des Autors. Die Briefe, vor allem die aus dem letzten Lebensdrittel, gewähren faszinierende Einblicke in die Werkstatt des Autors. Als Sprachschwerarbeiter ist Proust während der nächtlichen Stunden, die ihm die Krankheit belässt (tagsüber hütet er das Bett), damit beschäftigt, seinen jedes Mass sprengenden Roman „A la recherche du temps perdu“ zu schreiben und umzuschreiben, zu korrigieren, zu gliedern – und ihn unter die Leute zu bringen.
Vor allem die Briefe an seinen Verleger Gaston Gallimard und an den Redaktionssekretär der „Nouvelle Revue Française“ Jacques Rivière, der sein Lektor war und der eine Schlüsselrolle in der frühen Rezeptionsgeschichte der „recherche“ spielt, zeugen von diesem Prozess, in dessen Verlauf eines der genialsten literarischen Werke des 20. Jahrhunderts entstanden ist.
Schwerarbeit mit Korrekturen
Proust schrieb von Hand, liess dann Schreibmaschinenfassungen seiner vollgeschriebenen „cahiers“ anfertigen. Diese Typoskripte, oft von wenig geschulten Sekretären bereitgestellt, wurden in der Druckerei nicht immer mit der nötigen Umsicht behandelt, so dass der verzweifelte Proust Nächte und Nächte damit verbrachte, Fahnen zu korrigieren, handschriftlich natürlich, was zu neuen Fehlerquellen führte.
Um sich einen Begriff von der Bedeutung dieser Korrekturarbeiten zu machen, die erste Fassungen einzelner Romanteile bis zur Unkenntlichkeit verändern konnten, muss man sich eine Faksimile-Ausgabe von „Du côté de chez Swann“ anschauen. Man wird feststellen, dass der ganze berühmte Anfang des Romanzyklus erst in der Korrektur seine Form gefunden hat – sogar der Titel wurde noch geändert!
Der Perfektionist
Proust war – und auch davon handeln die Briefe – ein besessener Sprachperfektionist. Scharf- und eigensinnig, keinen verbalen Aufwand scheuend, konnte er sich seitenlang mit Verleger und Lektor, mit Freunden, vor allem aber mit Journalisten, die ihn falsch verstanden, seines Erachtens zu Unrecht kritisiert hatten, streiten. Die magische Wirkung seiner mäandernden oder vielfach verschachtelten Sätze, seiner Prosa, kann in den Briefen naturgemäss nicht durchgehend erzeugt werden. Vieles bleibt leichtgewichtig, skizzenhaft, angedeutet oder rein informativ. Die übertriebenen Schmeicheleien, mit denen Proust bei Freund und Feind nach Zuneigung heischt, amüsieren, die vollendete Höflichkeit und Liebenswürdigkeit, mit der vertraute und fremde Partner behandelt werden, beeindruckt.
Letztlich kann sich der in viele Ichs gespaltene Autor in seinen Briefen nicht verleugnen. Wenn er Natur, Architektur oder Situationen beschreibt, feinsinnige Kunst-Interpretationen vornimmt, mit engen Freunden mutwillige Sprachspiele spielt, couragierte politische Stellungnahmen begründet, philosophische und psychologische Theorien entwickelt und analysiert oder eben bis ins letzte Detail seinen Roman erklärt, verändert, vervollkommnet, dann erkennen wir im Privatmann, im notorischen Briefeschreiber den Dichter der „recherche“ – bis hinein in die halbseitenlangen Sätze, die er uns gelegentlich, oft selbstironisch, kommentiert, zum Geschenk macht.
*Marcel Proust: Briefe, Suhrkamp Verlag, CHF 102.–