Ist die Maske gefallen? Hat die italienische Ministerpräsidentin ihren ersten grossen Fehler begangen?
Immer wieder reiste Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission, nach Italien zu Giorgia Meloni. Man umarmte sich, unaufhörlich. Man küsste sich. Sogar auf die Insel Lampedusa, wo die Migranten aus Nordafrika ankamen, verschlug es die Kommissionspräsidentin.
Natürlich geschah das nicht nur aus Sympathie für die italienische Ministerpräsidentin. Ursula von der Leyen wollte erneut als Kommissionspräsidentin gewählt werden, und sie fürchtete, im EU-Parlament nicht genügend Stimmen zu erhalten.
Zwar verfügten die gemässigten, pro-europäischen Kräfte im Parlament – die Konservativen, Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberale – klar über eine Mehrheit. Doch von der Leyen hatte sich viele Feinde gemacht. Und da die Abstimmung über die Wahl der Kommissionspräsidentin geheim ist, fürchtete sie in ihren eigenen Reihen Heckenschützen, die gegen sie stimmen.
So hoffte sie denn auf Unterstützung der Giorgia Meloni und ihrer rechtspopulistischen «Fratelli d’Italia». Die Hoffnung war nicht unbegründet, denn Meloni gab sich in ihren eindreiviertel Jahren als Regierungschefin als klare Pro-Europäerin zu erkennen. Und immerhin hat die EU dem Belpaese einen Aufbaukredit von fast 200 Milliarden (!) Euro zugesprochen. Immer wieder reiste Meloni nach Brüssel, wurde dort hofiert und geküsst. Man küsst viel in der Brüsseler EU-Zentrale.
Doch Melonis Fratelli d’Italia gehören im EU-Parlament der rechtspopulistischen, teils rechtsextremen «Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer» an. Von der Leyen hoffte nun, Meloni, die einst eine rabiate, laute Rechtsaussen-Frau war, habe sich geläutert und wolle mit den gemässigten Kräften im Parlament zusammenarbeiten. Auch ihre Distanz, die sie zum rechtspopulistischen, oft sehr degoutanten Vize Matteo Salvini pflegte, hat in vielen die Hoffnung genährt, sie könnte sich aus dem rechtspopulistischen Sumpf entfernen.
Dann die Abstimmung am letzten Donnerstag. Die CDU-Frau von der Leyen wurde mit einem komfortablen Ergebnis von 401 Stimmen erneut zur Kommissionspräsidentin gewählt. «Ursula II» titelten die italienischen Zeitungen.
Und wie stimmten Melonis Fratelli d’Italia? Sie stimmten gegen Ursula II. All die Reisen von der Leyens nach Italien, all die Küsse und Umarmungen – vergebens.
Das Nein von Melonis 24 Euro-Deputierten zu von der Leyen ist ein Affront nicht nur der Kommissionspräsidentin, sondern der ganzen EU gegenüber, von der Italien so sehr profitiert.
Damit schwimmt Meloni im alten Fahrwasser. Jahrelang hatte sie die EU verflucht, wollte auch den Euro abschaffen. Einmal in einem Interview fabulierte sie sogar – analog zum Brexit – von einem «Italexit». Lange Zeit hatte sich die Postfaschistin in die Reihe der rechtspopulistischen, EU-kritischen, teils ultrarechten Fauna eingereiht.
Jetzt ist sie dort zurück. Jetzt steht sie wieder auf Seiten ihrer alten «souveränistischen» Kollegen und Kolleginnen – auf Seiten ihres Freundes Viktor Orbán und auf Seiten von Marine Le Pen, Geert Wilders und Matteo Salvini. Sie alle wollte sie mit einem Ja zu von der Leyen nicht vor den Kopf stossen. Die Regierungschefin werde völlig von Orbán dominiert, sagt ein italienischer Mitte-Politiker. «Vergessen sind all die Konzessionen, die die EU im letzten Jahr Italien gemacht hat», schreibt die Römer Zeitung «La Repubblica».
«Fratelli d’Italia ist wieder in die Opposition zur EU gegangen», schreibt die sehr bürgerliche Zeitung «La Nazione». Meloni stehe nun wieder «in der Ecke der radikalen Rechten».
Die Ministerpräsidentin hat sich mit ihrem Nein in Europa isoliert. «Das Ergebnis könnte für Italien dramatisch werden», schreibt die einflussreiche La Repubblica. «Noch nie hat sich unsere Regierung gegen die europäische Exekutive ausgesprochen. Das Land sieht sich jetzt isoliert und von den Positionen des souveränistischen ungarischen Präsidenten Orbán erdrückt.»
«Die Ministerpräsidentin, die so vielen Sand in die Augen streute, hat ihre Maske fallen gelassen», heisst es in oppositionellen Römer Politkreisen. Im Inneren bleibe sie eben die alte Postfaschistin. «Diese rechtsradikale DNA kriegt sie nicht weg», sagt uns ein Journalist einer grossen Römer Zeitung.
Die italienische Regierung sieht nach dieser Wahl nicht gut aus. Die Regierung besteht aus drei Koalitionspartnern, neben den Fratelli und Salvinis Lega ist auch die einstige Berlusconi-Partei «Forza Italia» mit Aussenminister Antonio Tajani dabei. Während die Fratelli und die Lega gegen von der Leyen stimmten, votierte Forza Italia für sie.
Meloni galt seit jeher als enge Freundin des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und seiner illiberalen Demokratie. Jetzt hatte Orbán im EU-Parlament eine eigene Fraktion, die «Patrioten» gebildet. Ihr gehören unter anderem die österreichische FPÖ, Marine Le Pens «Rassemblement national» und Salvinis Lega an. Es ist jetzt anzunehmen, dass Melonis «Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer» künftig eng mit Orbáns «Patrioten-Fraktion» zusammenarbeiten wird. Vielleicht steht bald einmal auch eine Fusion der beiden teils ultrarechten Fraktionen ins Haus.
Italien ist jetzt in der EU klar geschwächt. Im EU-Kosmos verfügt das Land über keinen einzigen wirklich einflussreichen Posten. Eigentlich wäre Italien, mit seiner phänomenalen Staatsschuld und seiner geografischen Lage als Ankunftsland für Migranten für Hilfe aus Brüssel angewiesen. Die EU wird sich nun sicher zweimal überlegen, ob es Italien helfen soll. «Hat es sich wirklich gelohnt, gegen von der Leyen zu stimmen?» fragt La Nazione.