Die gegenwärtigen Unruhen in Tunesien und in Algerien haben einige Ursachen gemeinsam. Doch dies sind Missstände, die auch andere Länder der islamischen Welt betreffen, die gegenwärtig nicht, oder noch nicht von Unruhen ergriffen sind.
Vergleichbare Rahmenbedingungen
Von den beiden nordafrikanischen Staaten aber auch von fast allen anderen sogenannt « gemässigten» arabischen Regierungen gilt: Es sind scheindemokratische Regime, in Wirklichkeit werden sie von einem Machthaber kontrolliert und kommandiert. Sie haben eine junge Bevölkerung, welche die Schulen durchlaufen hat, aber nur selten eine einigermassen lohnende Arbeit findet.
Die reichen Leute, die in enger Verbindung mit dem Regime stehen, werden rasch immer reicher. Dabei ist die Grenze zwischen Geschäft und Korruption weitgehend unsichtbar geworden. Diese Reichen lassen eine wachsende Bevölkerungszahl hinter sich zurück, die immer ärmer wird. Dieser Unterschicht steht das Wasser am Hals und droht darüber hinaus zu steigen, so dass die weltweit steigenden Lebensmittelpreise für sie die Gefahr von Hunger mit sich bringen.
Überall gibt es Landflucht und ein entsprechendes chaotisches Wachstum der Grossstädte. Die Regime suchen der Spannungen Herr zu werden, indem sie mehr oder weniger scharfe Zensur üben und die « Information » ihrer Bevölkerung weitgehend selbst in die Hand nehmen. Sie betreiben staatlich kontrollierte Medien und halten die nicht-staatlichen unter Druck und strenger Kontrolle.
Die Macht der Geheimdienste
Die Regime üben auch Druck auf die Gerichtsbarkeit aus, um mit ihrer Hilfe missliebige Stimmen zum Schweigen zu bringen. Doch letzten Endes beruht ihre Macht auf den Geheimdiensten und der Angst, die diese unter der Bevölkerung verbreiten.
All diese Regime sehen sich oder sahen sich in der jüngsten Vergangenheit bedroht durch die Entwicklung einer islamistischen Opposition, die meist im Untergrund agierte, und vom Untergrund aus auf den Sturz der von ihr als « unislamisch » eingestuften Machthaber hinarbeitete. Die Regime haben diese Opposition durch Polizei- und Sicherheitskräfte entmachtet - doch sie bedienen sich ihrer aussenpolitisch, indem sie ihre Verbündeten in Europa und Amerika warnen, wenn man von ihnen mehr Rücksicht auf Menschenrechte und mehr Demokratie fordere, würden die Islamisten zurückkehren.
Politische Unterschiede
Doch trotz all diesen Gemeinsamkeiten ist in einem jeden Land die Lage spezifisch, die konkreten Entwicklungen hängen von so vielen Einzelfaktoren ab, dass diese Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten höchstens ein allgemeines Gefälle abgeben, auf dem die Einzelentwicklungen sehr verschiedene Wege gehen und in einem jeden spezifischen Zeitraum unterschiedliche politische Konstellationen ergeben.
Dies dürfte auch von den beiden maghrebinischen Nachbarstaaten Tunesien unds Algerien gelten. Dass die Unruhen beinahe gleichzeitig ausgebrochen sind und sogar, dass sie ähnliche Auslöser aufwiesen, heisst noch lange nicht, dass sie gleich verlaufen werden und auch nicht, dass sie von gleichem Gewicht für die beiden Regime sind.
Ein Aufstand der arbeitslosen Gebildeten in Tunesien
In Tunesien hat man es gegenwärtig mit einem Aufstand der jungen Ausgebildeten aber Arbeitslosen zu tun. In Algerien ist es die Jugend der ländlichen und städtischen Unterschichten, die ihrem Unmut über die steigenden Lebensmittelpreise Luft macht. Algerien kannte zahlreiche ähnlich gelagerte Proteste, die gegenwärtigen zeichnen sich nur dadurch aus, dass sie in zahlreichen Orten gleichzeitig ausbrachen.
In Tunesien hat sich die Bevölkerung über Jahrzehnte ruhig und diszipliniert verhalten, allerdings unter der minutiösen Polizeikontrolle des seit 23 Jahren regierenden Diktators und früheren Sicherheitschefs Ben Ali, dessen Schergen Grausamkeiten gezielt einsetzen, um Furcht zu verbreiten.
Bildung - eine hohe Priorität
Die Schulung der tunesischen Bevölkerung, weitgehend noch immer nach dem französischen Vorbild und Schulsystem, hat seit der Zeit Bourguibas (1956-1987) eine zentrale Stellung in der tunesischen Innenpolitik eingenommen. Die Bevölkerung trug sie mit. Alle Familien stimmten darin überein dass die Erziehung ihrer Kinder eine der wichtigsten Aufgaben sei, die der Staat und die Familien selbst zu bewältigen hätten. Die Bürger brachten grosse Opfer dafür, dass ihre Kinder eine gute Ausbildung erhielten, und der Staat stimmte in dieser Hinsicht mit ihnen überein. Er gab einen bedeutenden Teil des Budgets für die Erziehung und Schulung aus. Dies war für die Bürger ein wichtiger Grund, den Staat nicht zu erschüttern, auch wenn er in anderer Hinsicht nicht all ihre Wünsche erfüllte.
Doch das Vertrauen darauf, dass eine gute Erziehung und Ausbildung auch zum wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg der nächsten Generation führen werde, ist heute erschüttert. Die Absolventen der Mittelschulen und die Diplomierten der Hochschulen finden immer seltener Arbeit. Heute gilt: wer nicht über Beziehungen zu den reichen Klans um die Präsidentschaft herum verfügt, bleibt arbeitslos. Er muss mit Gelegenheitsarbeiten niedrigster Art versuchen irgendwie durchzukommen. Seine heiss erkämpfte Erziehung und Ausbildung war vergebens.
Die Enttäuschung darüber trifft nicht nur die Absolventen der Schulen und Universitäten sondern auch ihre gesamten Familien. Denn oft hat sich eine ganze Familie, Eltern, Geschwister, Verwandte, jahrelang angestrengt, um dem einen, begabtesten unter ihnen das Studium zu ermöglichen, und sie verbanden auch all ihre Hoffnungen auf Aufstieg und Fortschritt mit der erwarteten Karriere dieses von ihnen geförderten «Vertreters der Familie ». Der Geförderte selbst, weiss, was man von ihm erwartet, und wenn er erfolglos bleibt, trotz einer erfolgreichen Ausbildungskarriere, lastet dies doppelt auf ihm, in Bezug auf seine eigenen Aussichten und auch in Hinsicht auf die enttäuschten Hoffnungen seiner ganzen Familie.
Nutzlose Ausbildung
Das Auslösungsereignis der gegenwärtigen Unruhen passt sehr genau in dieses Allgemeinbild. Ein Universitätsabsolvent, der keine Arbeit finden konnte, suchte sich als fahrender Gemüsehändler durchzubringen. Doch die Polizei beschlagnahmte ihm seine Ware, weil er keine Polizeierlaubnis für Strassenhandel besass. In seiner Verzweiflung setzte er sich selbst ind Brand und beging so Selbstmord.
Dies geschah am 17. Dezember im Ort Sidi Bouzid tief im Landesinneren. Was insofern von Bedeutung war, als ein starkes Wohlstandsgefälle besteht zwischen den relativ entwickelten Küstenregionen mit ihren Häfen, Verkehrswegen, Tourismus und Industrie und dem Landesinneren, wo es einige Bergwerke und viel wasserarme Landwirtschaft gibt.
Die Internetblogs aus Tunesien berichten, es gäbe «überall» Mathematiker, die als Tagelöhner arbeiteten; Ingenieure, die Altpapier sammelten; Doktoren der Philosophie als Strassenhändler, und es waren die digitalen Verbindungen, die entscheidend zur Mobilisation der protestierenden Jugend beitrugen. Es kam zu einem weiteren Selbstmord aus ähnlichem Anlass im gleichen Flecken Sidi Bouzid.
Die Berufsassoziation der Advokaten und die offizielle Gewerkschaftszentrale UGTT stellten sich offen hinter die Proteste. Die Polizei ging mit der in Tunesien üblichen Gewalt gegen die Protestierenden vor, indem sie Schusswaffen einsetzte und über die nächsten zwei Wochen 24 Protestierende tötete. Nicht offizielle Quellen sprechen sogar von 35 Todesopfern. Als die Unruhen nach mehr als zwei Wochen immer noch andauerten und sich sogar auf die Küstenstädte ausdehnten, schritt Ben Ali zur Schliessung sämtlicher Schulen und Hochschulen. Er zeigte damit, dass er selbst sehr genau wusste, woher die Proteste kamen und dass er seine Behauptung, es handle sich bei den Protestierenden um «Terroristen» selbst nicht glaubte.
Erstmals direkte Angriffe gegen den Machthaber Ben Ali
Der Diktator-Präsident hielt auch beschwichtigende Reden. Er versprach am Fernsehen: «Wir werden in den nächsten zwei Jahren 300 000 Arbeitsplätze schaffen». Doch Niemand glaubt, dass er dies zu tun vermöchte, selbst wenn er es wirklich wollte. Die Demonstranten und ihre Sympathisanten im Internet wagen zum ersten Mal, die Person des Machthabers selbst direkt anzugreifen. Sie beschreiben ihn mit seiner Familie, besonders seiner Gemahlin und deren Verwandten, als den Hauptschuldigen an der bestehenden Misswirtschaft und Korruption, und sie forderten seinen Rücktritt.
Die Zensur versuchte, die Kommunikation im Internet stillzulegen. Daraus entwickelte sich eine Art Internetkrieg entwickelte sich, in dem die protestierende Jugend all ihr Können einsetzte, um Wege zu finden, doch noch vernehmbar zu bleiben. nach den jüngsten Informationen soll Ben Ali seinen Innenminister entlassen haben. Was anzeigen dürfte, dass der Machthaber die zunehmend kritische Lage seines Regimes erkannt hat.
Es fehlt nicht an Stimmen, die in diesen Demonstrationen «den Beginn einer neuen Epoche» erblicken wollen. Viele glauben, die bisherigen Methoden der Machtausübung könnten nun nicht mehr wirksam bleiben. Sie räumen auch ein, Niemand könne wissen, was genau bevorstehe. Doch die Macht der Polizeikräfte ist ungebrochen und die tunesische Armee musste bisher nicht eingesetzt werden. Was sehr wohl bedeuten könnte, dass die gegenwärtigen Unruhen schlussendlich niedergeschlagen werden und der « Präsident» seine Macht weiter verlängern könnte.
Mit einiger Sicherheit lässt sich nur aussagen: die Proteste zeigen der tunesischen Innenwelt und dem Ausland sehr deutlich, was die staatliche Propaganda jahrelang zu verschleiern suchte, die Stagnation des Regimes und das auf die Schicht seiner Mitprofiteure beschränkte «Wachstum » sowie seine Unfähigkeit, der Jugend Tunesiens einigermassen befriedigende Zukunftsaussichten zu bieten. Sogar wenn sie erstickt werden, dürften die gegenwärtigen Proteste bewirken, dass die Glaubwürdigkeit des Regimes weitgehend und allen sichtbar zusammengebrochen ist. Eine seiner wichtigsten Stützen war bisher die Erziehungspolitik und die mit ihr verbundenen Hoffnungen der Bevölkerung. Diese Stütze ist in Rauch aufgegangen.
Keine politischen Forderungen in Algerien
Die algerischen Proteste sind sehr viel weniger politisch als die tunesischen. Dort protestieren die Jungen gegen «la malvie», was ihre Lage in jeder Hinsicht beschreibt. Die Regierung hat sie zu besänftigen versucht, indem sie verkündete, sie habe Massnahmen getroffen, um die Preise von Zucker und Speiseöl um 41 Prozent zu senken. Die Regierung fügte bezeichnenderweise hinzu, sie erwarte von den Händlern, dass sie ihre Preise auch wirklich diesen Massnahmen entsprechend senken würden.
Die algerischen Unterschichten haben Erfahrung im Protestieren. Kleinunruhen und Proteste brechen regelmässig hier oder dort im Lande aus. Sie bewirken meist, nachdem einige Opfer gefallen sind, eher Verletzte als Tote, dass die Regierung sich zu kleineren Konzessionen bequemt, bevor die Unruhen allzuweit um sich greifen.
Dank dem Erdöleinkommen verfügt Algerien über bedeutende Devisenreserven. Es scheint – nichts ist dabei wirklich durchschaubar - dass die eigentlichen Machthaber hinter der Regierung von Präsident Bouteflika, die hohen Armeeoffiziere, eine Anhäufung der Devisen bevorzugen. Vielleicht sehen sie diese Reserven als eine Garantie für das Fortdauern ihres privilegierten und vom Lande weit abgehobenen Lebensstils an. Sie sehen sie sozusagen als «ihre » Reserven, wie ihnen ja auch das Erdöl in der fernen Sahara als «ihr» Erdöl gilt.
Angst vor neuen Gewaltexzessen
Doch wenn Unruhen es notwendig machen, dürften sie der Regierung erlauben, ein wenig davon zu verwenden, um wieder Ruhe zu schaffen. Was die protestierenden Unterschichten angeht, so scheinen sie nicht mehr von « Revolution » zu träumen, eher nur von einer leichten Aufbesserung ihrer Lage. Die islamistischen Revolutionsversuche und ihre grausamen Folgen im Kampf mit der Armee sind noch zu gegenwärtig, als dass sie sich wieder auf derartiges einlassen wollten.