Die Spaltung ist jene, die wir normalerweise als die der "Islamisten" gegenüber jener der "Säkularisten" bezeichnen. Diese Etiketten passen nicht genau zu den Erscheinungen. Sie können irreleitend verstanden werden. Es handelt sich jedoch um allgemein verwendete Begriffe, die es zunächst näher zu definieren gilt.
ERSTER TEIL: BESTADESAUFNAHME
"Islamisten" nennt man heute jene Gruppen von Muslimen, die von sich
selbst erklären, sie strebten einen "Islamischen Staat" an, den sie
als einen Staat definieren, der auf dem Gottesgesetz der Scharia zu
beruhen habe. "Säkularisten" in der muslimischen Welt sind immer auchMuslime, oft gläubige und praktizierende Muslime, jedoch solche, die dafür eintreten, dass Staat und Religion auseianderzuhalten seien. Sie sehen ihre Religion meist als etwas primär Persönliches an. Die Sharia gilt ihnen als Weisung, wie sie sich persönlich zu verhalten haben, nicht notwendigerweise als gesetzliche Grundlage für einen Staat, in dem auch Personen anderer Religion sowie Gruppen von unterschiedlich ausgerichteten Muslimen gemeinsam zu leben haben.
Was ist Islamismus?
Die "Islamisten" sind erst in den letzten Jahrzehnten als politische
Kraft und soziales Phänomen hervorgetreten, obwohl sie auf alte
Wurzeln ihrer religiösen und politischen Denkart hinweisen können.
Diese gehen zurück bis auf Ibn Hanbal, den Begründer der jüngsten der
vier orthodoxen sunnitischen Rechtsschulen, der von 780 bis 855 nach
Christus in Bagdad lebte. Ein Gelehrter seiner theologischen Richtung
war Muhammed Abdul Wahhab (1703-1793), der Begründer des in Saudi Arabien herrschenden Religionsverständnisses, das die Zeitgenossen nachihm den "Wahhabismus" nannten, jedoch seine Schüler und Nachfolger im saudischen Königreich als "Tawhid", die Lehre von der Einheit Gottes, bezeichnen.
Weithin sichtbar wurden die "Islamisten" im arabischen Raum nach der
Niederlage in Sechstagekrieg gegen Israel (1967).Von jenen Tagen an,
begannen die ausländischen Beobachter von einem "Wiedererstehen des Islams" zu sprechen, die sie zuerst als "Re-Islamisierung" der
Gesellschaft bezeichneten. Doch diese Bezeichnung stiess auf
Widerspruch bei den Muslimen, die zu Recht darauf hinwiesen, dass ihre Gesellschaft nie "ent-islamisiert" gewesen war.
Eine umstrittene Bezeichnung
Die Beobachter von aussen, oft akademische "Orientalisten", wichen dann aus auf die Bezeichnung "islamischer Fundamentalismus", weil die neue Bewegung einen Akzent auf die "Grundlagen" und "Grundschriften" des Glaubens zulegen schien und darauf bestand, diese seien möglichst wortwörtlich, ohne Interpretation oder mit einem Minimum solcher, aufzufassen und anzuwenden. Vergleichbar mit ähnlichen Tendenzen aus der christlichen, besonders der protestantischen, Theologie im europäischen und amerikanischen Raum, die man schon früher "fundamentalistisch" genannt hatte.
Dieser Begriff fand eine arabische Entsprechung in dem neu geprägten
Ausdruck "Usuliya", abgeleitet von "Usul" (Wurzeln,Grundlagen). Doch
auch er stiess auf Ablehnung bei den Muslimen, die er bezeichnen
sollte, und ein weiteres Wort wurde geprägt, um dem Phänomen einen
Namen zu geben, eben "Islamismus" (arabisch in Anlehnung:"Islamiya"). Auch dies wurde zu einem umstrittenen Ausdruck. Verständlicherweise; denn jene Personen und Gruppen, die von aussen her, sei es von Kritikern, sei es von "neutralen" Beobachtern, als "Islamisten" bezeichnet werden, sehen sich selbst als die wahren und echten Muslime, und sie ziehen es deshalb vor, einfach als Muslime, oder vielleicht als gute oder ernsthafte Muslime, wenn nicht gar als die wahren Muslime, gesehen und bezeichnet zu werden.
Die Beobachter, Kritiker und Polemisten von aussen, gebrauchen heute
angesichts dieser Diskussionen noch weitere Ausdrücke wie: "radikale
Muslime", oder "extremistische". Dies half jedoch mit, die Begriffe
noch weiter zu zerdehnen und zu emotionalisieren. Sie werden so
leicht zu Instrumenten der Polemik und Hassverbreitung.
Faute de mieux verwende ich hier "Islamismus", um die Tendenz im Islam zu fassen, die im Folgenden näher umschrieben sein soll.
Präsenz und Ausbreitung des Islamismus
Die neue Tendenz wurde zunächst als eine Randerscheinung im weiten
Feld des Islams gesehen und angesprochen. Sie war es auch, weil sie
etwas Neuartiges bildete, das zunächst im weiten Meer des "normalen"
oder traditionellen Islams zu schwimmen schien. Wie es in jener frühen
Zeit nach dem Sechstagekrieg ein islamischer Freund schilderte: der
Islam ist ein weiter Strom. Auf ihm schwimmt eine Barke, dies sind die
"Islamisten"; und in der Barke gibt es ein paar Personen, die sich
besonders erregt und manchmal gewalttätig zeigen, die nenne ich die
"radikalen" oder extremistischen Islamisten.
Doch heute muss man sich fragen: handelt es sich wirklich um eine
"Randerscheinung"? Ist nicht offensichtlich, dass sozial gesehen,
gemessen an seinem wachsenden Einfluss, seiner zunehmenden
Ausbreitung, seiner aktiven und hyperaktiven Präsenz, dieser
Islamismus mehr ist als ein Randphänomen? Er scheint zunehmend einen zentralen Platz im Islam einzunehmen. Stellt er möglicherweise die Zukunft des Islams dar? Ist dies Religionsform und
Religionsverständnis, auf welche hin sich die islamischen
Gesellschaften, über alle geographischen und politischen Grenzen
hinweg, zu entwickeln scheinen?
Wahlen in Ägypten und Tunesien als Indizien
Die arabischen Revolutionen haben praktisch zum ersten Mal
zugelassen, dass "der Islam" in seinen islamistischen Spielarten,
durch unverfälschte Abstimmungen mengenmässig gemessen werden konnte. Die Wahlen führten zunächst zu islamistischen Wahlsiegen in den beiden Ländern, in denen frei abgestimmt wurde: Ägypten und Tunesien. Gewiss, dabei spielten auch nicht religiöse Beweggründe eine Rolle, vor allem der negative, dass den Wählern keine glaubwürdige und attraktive, einigermassen politisch organisierte, Alternative vorgelegt werden konnte. Die nicht-islamistischen sogenannten Parteien waren unorganisiert, zersplittert und zerstritten.
Aus Gründen dieser Art kann das Wahlresultat der Islamisten in den ersten demokratischen Wahlen als überhöht gelten. In Ägypten betrug es, Brüder und Salafisten zusammen, beinahe 60 Prozent; in Tunesien, wo die Salafisten nicht zu den Wahlen zugelassen wurden, für an-Nahda alleine, gegen 40. Falls es in beiden Ländern noch einmal zu echten Wahlen kommen sollte (zur Zeit in Ägypten fraglich, in Tunesien
unsicher), werden geringere Zahlen erwartet. Dennoch wurde klar, die
Islamisten sind da, politisch und gesellschaftlich gesehen, schwerlich
mehr eine Randerscheinung, eher eine schon heute zentrale und
wahrscheinlich immernoch wachsende Kraft.
Überall wachsend
Auch wo bloss demonstriert aber nicht gewählt werden konnte: in
Jemen, Libyen, Syrien, zeigten sie sich ebenfalls als eine Kraft von
Gewicht. Auch in jenen Staaten, in denen die Volksbewegung der
Revolution sich nur zaghaft oder garnicht äusserte, etwa Marokko,
Jordanien, Algerien, Sudan, sind sie als Oppositionskräfte von
Bedeutung, heute die wichtigsten aller Oppositionen, die der Staat
einzubinden versucht. Vergleichbares gilt von dem gewaltigen weiteren
islamischen Raum von Nigeria bis nach Indonesien.
Saudi Arabien ist ein Kapitel für sich, weil dort eine salafistische
(Erklärung des Begriffes weiter unten) Variante des Islamismus als
Staatsreligion dient und staatlich gefördert wird; gefördert auch weit
über Saudi Arabien hinaus mit saudischen Geldern...
"Ein muslimischer Staat"
Alle Islamisten haben gemeinsam, dass sie einen "Sharia-Staat"
fordern und auf ihn hinarbeiten. Ob sie dies mit gewaltlosen oder
auch, wenn es ihnen als notwendig gilt, mit Gewaltmitteln tun, ist
einer der wesentlichen Unterschiede, an denen sich ihre Gruppen und
Ausrichtungen trennen.
Darüber, was ein Sharia-Staat sei, glauben sie Bescheid zu wissen:
"ein Staat, in dem die Sharia das Gesetz des Staates bildet", sagen
sie. Doch darüber, was die Shari'a genau sei, herrscht Unwissenheit
oder Unklarheit. Es ist leicht zu sagen, was sie nicht ist: sie ist
kein Gesetzeskodex. Sie ist vielmehr eine ganze Gesetzeswelt, mit -
alleine im heutigen Sunnismus - vier sich gegenseitig als orthdox
anerkennenden Rechtsschulen, die unterschiedliche Varianten von
gesetzlichen und rituellen Regeln kennen. Diese Gesetzeswelt,
vergleichbar mit Begriffen wie "römisches Recht" , "germanisches
Recht", "Kirchenrecht", "Common law" oder "Civil law", blickt auf ein
gutes Jahrtausend Rechtsentwicklung zurück.
Unübersichtliche Quellen für die Sharia
Wichtig ist auch festzuhalten: die Sharia hat nie als alleine
geltendes Recht gedient, weil neben ihr in der klassischen islamischen
Zeit und bis ins 19. Jahrhundert hinein, stets auch Herrscherrecht
bestand und angewandt wurde. Die Sharia war auch nicht das Recht, das zur Zeit des Propheten galt, wie oft behauptet wird, denn dieses Recht wurde erst einige Jahrhunderte nach der ersten Ausbreitung des Islams schrittweise entwickelt.
Soweit im Koran, der eine prophetische Schrift ist, kein Rechtsbuch,
Rechtsvorschriften gefunden werden, wurden diese in die Sharia
eingebaut. Doch man sah sich gezwungen auf andere Rechtsquellen
zurückzugreifen, um den ganzen Bereich menschlicher Tätigkeit zu
erfassen. Die zweitwichtigste dieser Rechtsquellen, nach dem Koran,
sind die Überlieferungen vom Tun und Lassen, Sagen und Bestimmen des Propheten ("Hadith" genannt). Diese sind in gewaltigen "kanonischen" Sammlungen zusammengefasst. Die Hadith Gelehrten versuchen, die wahren (Fachwort "sahih"=gesund) von den gefälschten oder als solche verdächtigen ("daif"= krank,scwach) zu trennen. Die Zahl dieser Überlieferungen geht in die Zehntausenden und darüber.
Neben den heute noch gültigen gibt es historische Rechtsschulen, die
als "erloschen" gelten, jedoch gelegentlich in Einzelmeinungen wieder
belebt werden. Dazu kommen die Rechtsgutachten heutiger Gelehrter, die ihre Gültigkeit verlieren, wenn der betreffende stirbt, es sei denn
einer ihrer Schüler belebt diese Gutachten neu (Fatwa). Das Ganze ist
ein dermassen komplexes Gebäude, dass viele unterschiedliche, manchmal sogar kontradiktorische Meinungen unter Berufung auf die Shari'a vertreten werden können.
„Einzig auf der Sharia“
Eine der Verfassungen Ägyptens, die unter Mubarak erlassen wurden,
erklärt in ihrer Präambel, die Gesetzgebung Ägyptens beruhe "einzig
auf der Sharia", doch dies änderte nichts an der bestehenden
Gesetzgebung des Landes, die nicht auf der Sharia beruht sondern auf
einem anglo-ägyptischen Recht französischer und englischer Wurzel. Die Forderung "einzig auf der Sharia" war erfüllbar, weil sich die
bestehenden Gesetze des Landes auch mit irgendwelchen der weit
verzweigten Sharia-Vorschriften und Auslegungen begründen liessen.
Dazu müssen allerdings manchmal verzwickte Interpretationen entwickelt werden.
In den wenigen Fällen, in denen "Islamisten" die Macht ergriffen und
ausgeübt haben, die Taleban in Afghanistan beispielshalber und im
Schiismus die schiitischen Gottesgelehrten unter Khomeini, lief die
praktische Anwendung der Sharia darauf hinaus, dass die Meinungen von Gottesgelehrten befolgt werden mussten, die den Machthabern genehm waren, oder sich mit ihren Ansichten deckten.
Ein Instrument zur Motivation
Doch in all den Fällen, in denen die Islamisten keine
Regierungsverantwortung ausüben sondern eine Opposition bilden, ist
der Ruf nach Sharia ein wichtiger Hebel, um die heutigen muslimischen
Bevölkerungen in Bewegung zu setzen. Das "Gottesrecht" ist für die
Bevölkerung ein positiver Begriff. Dass es, wenn es nur wirklich
eingeführt und durchgesetzt würde, den gottgewollten Idealstaat auf
Erden verwirklichen werde, ist eine naheliegende Vorstellung. Sie
erscheint glaubwürdig, ohne dass sie praktisch erprobt werden müsste,
weil es sich ja um einen religiösen Begriff handelt, also um eine
Sache des Glaubens. Solange ihre Befürworter sich in der Opposition
befinden und keine Regierungsverantwortung tragen, geht dies auch auf.
Bart und Verhüllung als Kennzeichen
Solange sie den Sharia Staat nur herbeiwünschen und für seine
Einführung kämpfen, suchen die Islamisten ihre Identität als
Befürworter des Sharia Staates zu betonen, indem sie sich "islamisch"
kleiden. Der Bart ist dabei das Kennzeichen der Männer, die Verhüllung
des Haupthaares jenes der Frauen. Weitere als "islamisch" geltende
Kleiungsstücke können dazu kommen. Die Verhüllung der Frauen, mehr als die äusseren Islammerkmale bei Männern, bildet ein als grundlegend empfundenes Signal der islamistischen Identität. Aus diesem Grund kann man aus der Zunahme der Zahl von Kopftuch oder andere Verhüllungen tragenden Frauen in den muslimischen Städten die wachsende Ausbreitung islamistischer Lehren und Vorstellungen ermessen.
Begründet wird das Verhüllungsgebot mit bestimmten koranischen Textstellen, die den Vorstellungen der Islamisten gemäss aufgefasst und interpretiert werden. Die Verhüllung geht jedoch ohne Zweifel auf vorislmaische Zeiten zurück. Sie gründet sich auf patriarchalische
Ordnungsvorstellungen, die viel älter sind als der Islam und später in
ihn eingebaut wurden.
Bekennertum als Stütze der Identität
Dass grosser Wert auf bestimmte Aussenaspekte des Islams gelegt wird, ist bezeichnend für das Islamverständnis der Islamisten - etwa die
strenge Trennung der beiden Geschlechter mit ihren getrennten
Lebensbereichen, aber auch die besonders genaue Einhaltung der
islamischen Reinheitsvorschriften, weit über das bloss Rituelle
hinaus, und allgemeiner die genaue Erfüllung von Regeln und
Vorschriften, ohne zu fragen: "in welchem Geist?", "wozu?" und "warum
überhaupt?"
Das Gefühl von Auserwähltheit, Sendung, zu islamistischen Zwecken
bewirkt, dass sich Innengruppen bilden, die sich von solchen anderer
Art, Aussengruppen, unterscheiden und sich von ihnen abzuheben bemüht sind. Dies führt dazu, dass Aussengruppen, die "Anderen", als fremd, feindlich, unislamisch gesehen werden, sogar wenn es sich um Muslimehandelt.
Den Islamisten wird "takfir" nachgesagt, das heisst, dass sie
Andere, die nicht zu ihnen gehören und nicht ihre Islamvorstellungen
teilen, leicht zu "Ungläubigen erklären", was mit dem Begriff "takfir"
gemeint ist.. Angehörige anderer Religionen, sogar wenn es sich um
andere Buch- und Offenbarungsreligionen handelt (Christen, Juden) ,
die nach der Sharia zu schonen wären, sich aber allerdings den
Muslimen unterzuordnen hätten, werden oft angegriffen, weil sie als
Steine des Anstosses gelten. Die "Anderen" der Aussengruppen werden leicht als eine Herausforderung für die eigene Innengruppe angesehen und behandelt, die es abzuwehren und niederzuhalten gilt, wenn man sie nicht zu bekehren vermag.
Abwehr des "Anderen"
Die Grundhaltung aller Islamisten ist defensiv in dem Sinne, dass sie
sich als angegriffen und gefährdet ansehen, sich und ihren Islam, und
dass es gilt, sich zur Wehr zu setzen. Defensive kann allerdings immer
und überall zur Offensive werden, weil Offensiven fast immer als
eine Reaktion auf empfundene oder echte Angriffe gerechtfertigt
werden. Offensives Verhalten lässt sich damit sogar als von aussen
"erzwungen" verteidigen. Alle Innengruppen kennen Aussengruppen, die sie als bedrohlich empfinden und daher abwehren wollen.
Neuerdings haben Schiiten und Sunniten, die durch die letzten
Jahrhunderte hindurch meist friedlich zusammenlebten, einander als
feindlich und bedrohlich eingestuft. Sie führen heute einen
"Religionskrieg" gegeneinander bis weit hinüber nach den asiatischen
Bereichen des Islams, Pakistan, Indien, Afghanistan. Die saudischen
Islamisten haben ihn ausgelöst und verbreitet. Sie fühlten sich
"angegriffen" durch den Machtwechsel im Irak, der mit der USA-Invasion die dortigen Schiiten zur Macht brachte und die Sunniten, die das Landseit osmanischen und später englischen Zeiten regierten, von der Macht entfernte. Dies schien den Saudis bedrohlich, weil sie die schiitische Grossmacht, Iran, als Drahtzieher hinter den irakischen Schiiten einstufen. Dieser "Krieg" hat Auswirkungen bis nach Bahrain, Jemen, Syrien und Libanon hin.
Auch die Unterschiede zwischen Muslimbrüdern und Salafisten haben inden letzten Jahren zu scharfen Gegensätzen geführt. Solche Gegensätze durch Ausgrenzungen anderer, "fremder" Islamverständnisse sindunvermeidlich, sobald sich Inngruppen bilden, die darauf bestehen,dass sie allein den Islam korrekt und zutreffend verstünden.
Salafisten – gegen "Demokratie"
Die Salafisten streben einen Sharia-Staat an, wie die Muslimbrüder. Deshalb
kann man beide Gruppen als Islamisten einstufen. Doch die Salafisten
halten dafür, dass ein solcher Sharia Staat mit einer demokratischen
Regierungsform unvereinbar sei. Es gab keine parlamentarische
Demokratie zur Zeit des Propheten. Diese Zeit gilt als das Vorbild,
dem man nachleben soll. "Salaf" bedeutet "Nachfolge" und meint die
Nachfolge des Propheten und der von ihm gegründeten vorbildlichen
weil gottgewollten und gottgeleiteten Gesellschaft. Sie soll heute
wieder verwirklicht werden.
Demokratie ist etwas das nicht dazu gehört. Es kommt von fremden
Kulturen. Die Gegner einer islamischen Demokratie gebrauchen die
Formel, "im Islam ist Gott der Gesetzgeber, nicht die Menschen!" um
sie zurückzuweisen.
Muslimbrüder – für „islamische Demokratie“
Die Muslimbrüder, wenigstens in ihrer heutigen Generation, früher mag
dies anders gewesen sein, halten dafür, dass eine islamische
Demokratie möglich, ja in der heutigen Zeit notwendig sei. Dies ist
ebenfalls die Ansicht der tunesischen an-Nahda Partei, die von
Rashid Ghannoushi geleitet wird. Manche der Brüder deuten dabei auf
die Türkei, wo unter Erdogan eine Kombination von Islam und Demokratieverwirklicht wurde und sogar zu einem wirtschaftlichen Aufschwung geführt hat.
Natürlich gibt es über dieses und verwandte Themen innere Diskussionensowohl unter den Muslimbrüdern wie auch unter den Salafisten. Diesebilden keine gleich straffe und disziplinierte Organisation mit Kadern und Zellen wie die Brüder. Oft handelt es sich bei ihnen einfach um Gruppen, die sich um beliebte Prediger scharen.
Die Doktrin der Saudis und die Muslimbrüder
In Saudi Arabien ist ihre Lehre Staatsdoktrin. Die Behauptung, Islam
lasse sich mit Demokratie kombinieren, ist den saudischen Herrschern
besonders suspekt, weil die Saudi-Herrscher den Islam, so wie sie ihn
verstehen, das heisst in seiner salafistischen Variante, als
Rechtfertigung ihrer absoluten Herrschaft gebrauchen. Die Muslime, so
erklären sie, brauchten eine gottesfürchtige und von Gott eingesetzte
Obrigkeit. Das Königreich kennt keine Verfassung, der Koran sei seine
Verfassung, erklären die saudischen Herrscher und ihre Gefolgsleute.
Wenn die Muslime des Königreiches sich dem Gedanken öffnen, ihr Islam sei mit einer Volksherrschaft vereinbar, fällt die
Legitimitätsgrundlage der Dynastie in sich zusammen. Aus diesem Grund misstrauen die saudischen Machthaber den heutigen Muslimbrüdern.
Zu der Zeit, als diese von Nasser verfolgt wurden, halfen sie ihnen. Doch heute predigen sie einen nach ihren Versicherungen ebenfalls
"islamischen" Weg, der den Zielvorstellungen und
Legitimitätsgrundlagen der Dynastie zuwider läuft. Die Herrscher sehen
die Brüder deshalb als "Verräter" an. Sie beissen die Hand, die ihnen
Wohltaten erwies.
Der Gegenpol - Mystik
Den Gegenpol zu den Islamisten und zu den Salafisten im Islam geben
die Sufis ab. Dies sind Mystiker, Leute der nach innen gerichteten
Gottessuche. Ihre Ziele greifen weit über den Weg Gesetzeserfüllung
hinaus. Es geht ihnen um ein direktes, individuelles Verhältnis zur
Gottheit. Viele von ihnen wissen, dass es viele Wege zu diesem Ziel
hin gibt, auch solche, die Angehörige anderer Religionen begehen.
Ihre Grundhaltung ist umfassend statt defensiv. Mystische Züge hat der
Islam bis in das letzte Jahrhundert hinein getragen. Im Vorletzten und
einige Jahrhunderte zuvor, ungefähr seit der Zeit der
Mongoleninvasion, waren diese Ausrichtungen und das mit ihnen
verbundene Islamverständnis führend.
Die "sufi" Aufassung des Islams ist vieler Hinsicht ist es dem
Islamismus genau entgegengesetzt. Einige der Charakteristiken des Sufi-Islams sind so weit von den Grundsätzen der heutigen Islamisten und Salafisten entfernt, dass diese die Sufi oft als "Ungläubige" ablehnen und verfolgen. Wo Islamisten zur Macht gelangen, zerstören sie die Grabstätten von Sufi-Heiligen, wie kürzlich in Timbuktu, weil sie in der Verehrung die verstorbenen Sufi-Meistern oftmals als Heiligen
entgegengebracht werden, einen Heiligenkult wittern, der von der
alleinigen Verehrung des einen und alleinigen Gottes sträflich
ablenke.
Den Saudis sind aus diesem Grunde alle Grabstätten, auch solche von
gewöhnlichen Menschen, verdächtig. Nach ihrer Lehre sind die Gläubigen anonym mit einem blossen Stein als Merkmal des Grabes, ohne Inschriften, zu beerdigen, um einer jeden Verehrung von Toten
vorzubeugen. Gedichte, Tanz und Musik gehören zu den Mitteln durch
welche manche der Sufis versuchen, ihrem Ziel, der Vereinigung mit
Gott, näher zu kommen. Den Salafisten und Brüdern sind Tanz und Musik zutiefst zuwider. Ihnen gelten sie als sündhaft. Wer sie trotz ihrem Verbot betreibt, wird bestraft.
Konkrete Anschauung dank William Dalrymple
Die Gegensätze, die zwischen den beiden Islamauffassungen bestehen, beschreibt packend der genaue Beobachter der indischen Religionen, William Dalrymple, in einem Essay, den er "The Red Fairy" nennt. Er beschreibt den Besuch bei einer Mystikerin in der pakistanischen Sind-Provinz nah an der indischen Grenze, sowie dann anschliessend in einer der Madrasas, wo die jungen Fundamentalisten heranwachsen. Die Sympathien des Autors liegen ganz bei der Mystikerin, doch er erkennt auch, dass den Madrasas der Wind in den Segeln steht. Der Leiter der von ihm besuchten versichert, die seine sei eine der 5000 Madrasas in Pakistan, die seine Organisation aufrecht erhalte. In Sind alleine würden gegenwärtig (2009) 1 500 neue eröffnet. "Ich bin voller Hoffnung," versichert er dem Besucher. "Sehen Sie nur, was in Bhit Shah (dem Hauptflecken in der Nähe) geschah. Wir haben dort eine grosse Madrasa und sieben Moscheen, alle der Kontrolle der Deobandis" (diese theologische Schule fördert die streng "fundamentalistische" Richtung auf dem indischen Subkontinent . "Anfänglich hingen die Leute dem Götzenglauben an (shirk). Doch allmählich kamen die Kinder nach Hause zurück und erzogen die Eltern. Heute wächst unsere Kraft jeden Tag."
Der Besucher verabschiedet sich. "Merken Sie sich meine Worte",
gibt ihm der Madrasa-Leiter mit auf den Weg. "Eine noch radikalere Art
von Taleban wird in Pakistan aufstehen. Gewiss, es gibt viele
Hindernisse. Doch die Lebensbedingungen in dem Land sind so schlecht. Das Volk ist so verzweifelt. Sie haben genug von Zerfall und
Korruption. Sie begehren eine grundlgende Veränderung - die Rückkehr zum Kalifat."
"Und was ist Ihre Rolle dabei? ", fragt ihn der Verfasser. - "Die
Regierung leistet die Hauptarbeit zusammen mit den Geheimdiensten. Was immer den Amerikanern gesagt wird, wir wissen, die beiden stehen auf unserer Seite. - Unsere Rolle? Sie ist es, dem Volk beizubringen, dass einzig unser islamisches System die Gerechtigkeit bringen kann, die sie suchen. Wir sind die Einzigen, die den Armen eine Erziehung verschaffen. Wir vermitteln das Wissen, das die islamischen Gruppen verwenden, um dieses Land für immer zu verändern." (Übersetzt aus : William Dalrymple: Nine Lives, In Search of the Sacred in Modern India, Bloomsbury, London 2010; part 5. The Red Fairy p. 139 f.)
ZWEITER TEIL: GRÜNDE UND URSACHEN DER ISLAMISCHEN SPALTUNG
Die Frage, warum sich diese neue Ausrichtung im Islam entwickelt und
weshalb sie immer noch weiter zu wachsen scheint, gewinnt an Bedeutung, wenn man einräumt, dass es sich nicht um eine blosse Randerscheinung handelt. Dies war lange Zeit die Meinung der Beobachter gewesen. Es geht jedoch offenbar um eine Entwicklung, die immer mehr als die zunkunftstächtigste innerhalb des heutigen Islams zu erscheinen beginnt. Woher kommt das?
Der Wert der Zugehörigkeit
Es sind die einfachen Muslime aus den unteren Volksschichten, die sie
tragen. Die Ideologen und Führungsfiguren allerdings stammen eher aus den unteren Mittelschichten. Bekehrungserlebnisse liegen oft ihrer
Hinwendung zu den islamistischen Gruppen zugrunde. Soziales Engagement gegenüber armen Mitmuslimen, finanziell und erzieherisch, fördert intern ihren Zusammenhalt und extern ihre Volkstümlichkeit. Identitätsfragen spielen eine bedeutende Rolle. Wer sich ihnen anschliesst, erhält Zugehörigkeit, Aufgaben, Sendungs- und Selbstbewusstsein, sowie die Stützung einer Gemeinschaft, die zu ihm hält.
Kritik an den Islamisten kommt eher verhalten aus muslimischen
Kreisen, weil die meisten Muslime, auch wenn sie sich nicht als zu
ihnen gehörig empfinden, ihren Willen "gute Muslime" zu sein,
anerkennen, sogar wenn sie ihr politisches Engagement nicht teilen
oder missbilligen. Scharf kommt die Kritik von Seiten ihrer
"säkularistischen" Gegner, denen es darum geht, den Staat gegen ihren
Herrschaftsanspruch zu verteidigen.
Zunehmende Konfrontation
Die jüngste Erfahrung mit den arabischen Revolutionen zeigt, dass die
Trennungslinie zwischen ihnen und ihren "säkularen" Kritikern die
arabischen Staaten tief spaltet. In Iran hat der Aufstandsversuch der
"liberalen Muslime" gegen die herrschenden schiitischen Islamisten vom Jahr 2009 vergleichbare Trennungslinien aufgezeigt. In Iran wurden diese Linien allerdings durch den Sieg der das Land seit Khomeini beherrschenden Islamisten wieder verwischt, weil ihre Gegner sich seither nur in beschränktem Masse zu äussern vermögen.
Nur in Iran und - eingeschränkt durch die Macht der Herrscherfamilie
in Saudi Arabien - befinden sich die Islamisten zurzeit an der
Macht. In Ägypten wurden sie mit Mursi durch die Militärs unter
Zustimmung grosser Volksmassen blutig von der Macht vertrieben trotz
ihrem nur um ein Jahr zurückliegenden Wahlsieg. In Tunesien scheint
heute ihre politische Vormachtposition trotz ihrem Wahlsieg in den
ersten echten Wahlen des Landes zumindest gefährdet.
Ursprung und Macht der Säkularisten
Die Macht der "Säkularisten" beruht sehr weitgehend darauf, dass sie
sich Grundideen angeeignet haben, die nicht aus der islamischen
Tradition stammen, sondern aus Europa, später auch aus Amerika,
übernommen wurden. Mit den Ideen gingen auch die Beziehungen zu jenen Ländern einher.
Im islamischen Nahen Osten geht seit rund 200 Jahren ein Prozess
voran, den man zuerst "Reform" nannte, dann als "Verwestlichung"
ansprach, heute nennt man ihn "Globalisierung". Er begann bei den
Heeren, sie mussten angesichts der europäischen Übermacht, die die
muslimischen Staaten bedrängte, "reformiert" werden. Das hiess, so
umgebaut, dass sie den fremden Streitkräften als möglichst
gleichwertig, ihnen gewachsen, entgegengestellt werden konnten. In
jener Zeit hiess dies Bewaffnung mit Gewehren und mit Kanonen,
Uniformen, Disziplinierung bis zum Kadavergehorsam, Exerzieren, um
taktische Massenbewegungen auf den Schlachtfeldern zu ermöglichen usw. alles nach europäischem Muster.
Bald schon wurde deutlich, dass die Reform der Armee weiter greifende
Reformen in vielen anderen Bereichen des staatlichen und des
wirtschaftlichen Lebens erzwang: Dinge wie europäisches Finanz- und
Steuerwesen, Bürokratie, europäische Produktionsmethoden, Manufakturen und Industrie, wurden übernommen und eingeführt. Wissenszweige und Bildungsinstitutionen folgten nach von der Volksschule bis zurUniversität, stets nach dem fremden Vorbild. Der Verkehr musste "modernisiert" werden mit Strassen, Eisenbahnen und später Automobilen.Neue Gesetze wurden notwendig, um die neuen
Errungenschaften zu regulieren und zu fördern. Auch sie lehnte man an
an westliche Vorbilder.
Kolonialismus, westliche Vorbilder, Globalisierung
Der Anlehungs- und Übernahmeprozess setzt sich
auch heute noch fort. Sehr viele Grundvorstellungen sind mit den
materiellen und organisatorischen Übernahmen aus dem Westen in die
islamischen Regionen eingedrungen. Begriffe wie "Nation",
"Fortschritt", "Freiheit" im politischen Sinne, mit "Parlament",
"Gewaltentrennung" wurden eingeführt; andere wie "Wissenschaft",
"Jurisprudenz", "Kunst", gab es bereits, doch sie bezeichneten nun bis
zur Unkenntlichkeit veränderte Disziplinen.
Die fast überall folgende koloniale Herschaftsepoche brachte neue
Schübe von Angleichungen an europäische Vorbilder mit sich. Die
islamischen Völker wurden als "moderne Nationalstaaten" schlussendlich selbstständig. Doch die notwendige Übernahme von Waffen, Techniken, Produkten, Ideen, Organisationsformen, aus dem "westlichen" Ausland dauerte an. Es entstanden Schichten unter den Bürgern der neuen Staaten, die direkt mit den neuen physischen und geistigen Importen und Errungenschaften zu tun hatten. Sie entwickelten ein geistiges und materielles Leben, das in Verbindung stand mit den neuen Errungenschaften und daher auch mit ihren Ursprungsorten.
Diese Schichten leben heute der Globalisierung zugewandt. Die Sprachen der Ausländer sind wichtig für sie, so sehr dass sie ihre Kinder vorzugshalber in Schulen schicken, die von westlichen Ausländern betrieben werden. Wer es vermag, geht auf eine amerikanische, englische, französische oder deutsche Hochschule. Macht und Einfluss dieser Schichten, ihr Wohlstand, ihre Bedeutung innerhalb ihres Landes und für ihre eigene Gesellschaft, beruhen entscheidend auf ihrem Zugang zu den Errungenschaften der Fremden und auf ihrer Fähigkeit diese im eigenen Land, einzuführen, zu betreiben, zur Blüte zu bringen.
Die Massen fern der Globalisierung
Doch die Teilnahme an der Globalisierung ist ungleich. Es gibt
Volksschichten, die nur am Rande beteiligt sind und im Wesentlichen
innerhalb der altherkömmlichen Grenzen und Vorstellungen leben, die
ihre kulturelles, materielles und geistiges Erbe bilden. Dies sind
hauptsächlich Unterschichten, Leute vom Lande, auch solche, die in die
Vorstädte und Elendsquartiere der Städte eingeströmt sind, überwiegend einfache Leute. Auch ihr tägliches Leben ist heute beeinflusst von "Moderne" und "Globalisierung". Doch ihre tägliche Lebenswelt hat sich viel weniger von jener entfernt, in der ihre Vorfahren lebten, als dies der Fall ist bei den neuen Ober- und Führungsschichten, die voll an der Globalisierung beteiligt sind, und in ihr, mit ihr und von ihr leben.
Erfolg, wirtschaftlich, gesellschaftlich, geistig, ist unter den
heutigen Bedingungen stark davon abhängig, dass man bei der
Globalisierung mitmachen kann, als Nutzniesser und als Träger. Wer
davon ausgeschlossen ist, weil ihm die Bildungsvoraussetzungen dazu
fehlen, oder einfach die Kontaktmöglichkeiten dorthin, sieht sich
aller Wahrscheinlichkeit nach dazu gezwungen, ein enges Leben mit
knappem Auskommen und beschränkten Horizonten zu führen. Dieses Leben der nicht Globalisierten bleibt notgedrungen gezwungen, sich in einem geistig und materiell beständig verarmenden Umfeld zu bewegen. Erfolg, Reichtum in jedem Sinne, Einfluss und Macht fliessen jenen zu, die bei der Globalisierung mitmachen können.
Unterschiedliche Islamverständnisse
Es liegt nahe zu vermuten, dass diese unterschiedliche Lage,
- abgekürzt: innerhalb oder ausserhalb des magischen Zirkels der
Globalisierung - das Islamverständnis der unterschiedlich Betroffenen
beeinflusst. Es bleibt traditionell, so wie es immer war, bei den
nicht Globalisierten; es muss sich verändern bei den Globalisierten,
wenn ihr Islam weiterhin für sie in ihren neuen Lebensumständen
Bedeutung bewahren soll. Das heisst konkret, die früher
"verwestlichten" heute "globalisierten" Angehörigen der islamischen
Völker, in unserm spezifischen Fall der Araber, sind darauf
angewiesen, ihren Islam so zu verstehen, dass er in ihrem
gegenwärtigen Leben Sinn ergibt. Ihr Islam soll ja, im Falle von
Gläubigen, diesem Leben auch unter den neuen Umständen als eine
sinnvolle Richtweisung dienen.
Schon zur Zeit des Kolonialismus entstand aus diesen Gründen von
Ägypten bis Indien ein "modernistisches" Islamverständnis. Sein
berühmtester Theologe war Muhammed Abduh (1849-1905) in Ägypten. In Britisch Indien vertrat Sayd Ahmed Khan (1817-1898), der Gründer der Universität von Aligarh, vergleichbare Positionen. Ihre Theologie fand naturgemäss primär bei den "modern" ausgerichteten Muslimen Aufnahme. Sie waren gesonnen, die Errungenschaften der Fremden in ihrer eigenen Gesellschaft zum Blühen zu bringen. Von Abduh wird der Ausspruch überliefert: "Ich ging nach dem Westen und fand Islam aber keine Muslime, und ich kam nach dem Osten und fand Muslime aber keinen Islam."
„Modernismus“ als Verrat?
Die modernistische Theologie fragt nicht nur nach dem Wortlaut des
Gesetzes sondern auch nach seinem Sinn. Sie fordert, dass dieser Sinn unter den heute gegebenen Umständen, die sich von jenen der Zeit des Propheten unterscheiden, bewahrt und gefördert werde. Zum Beispiel: die mehrfache Ehe, wurde mit dem Koran von beliebiger Vielfalt auf ein Maximum von vier Frauen reduziert. Der Sinn war, Schutz der Frauen und Anerkennung ihrer Rechte, zunächst mindestens in einem ersten Schritt. Heute fordert der gleiche Sinn Einehe entsprechend den sozialen Gegebenheiten der heutigen Welt.
Doch dieser "Modernismus" hat sich in schon damals nicht überall
durchgesetzt. Heute erscheint er den Islamisten als überholt, wenn
nicht gar als Verrat an den wahren Traditionen und massgebenden
Ursprüngen. Dies höchstwahrscheinlich, weil eben nur ein relativ
kleiner Teil der muslimischen Gesellschaften in die Lage geraten ist,
voll in die "Moderne", heute "Globalisierung", einzusteigen. Für alle
jene, die es nicht konnten oder den Willen verloren haben, es zu
versuchen, gelten die neuen Begriffe, Umstände und Ausblicke, Ideen
und Güter, nur sehr beschränkt. Für sie macht es Sinn, sich an einen
"nicht modernisierten" Islam zu halten. Sie sehen ihn, entprechend den
Hinweisen der islamistischen und salafistischen Ideologen, die um sie
werben, als den ursprünglichen und reinen Islam, so wie er von Gott
dem Propheten offenbart worden ist.
Ein defensiver "Islam" für die "Marginalen"
Sie leben in einer bedrückenden Lage, weil der Erfolg den Anderen
zuströmt, jenen, die sich erlauben, den "wahren Islam" zu verändern,
und ihn - nach dem Urteil der Islamisten - zu entstellen suchen. Das
Wissen, das die ideologischen Oberhäupter ihren islamistischen und
salafistischen Gefolgleuten vermitteln, ist primär das Wissen darum,
dass es einen solchen echten und reinen, "wahren" Islam gebe, und dass er in den islamischen Grundschriften niedergelegt sei, deren Auslegung und Verständnis von ihnen vermittelt werde. Wenn er peinlich genau gelebt werde, so heisst es weiter, werde eine gerechte Gesellschaft zustande kommen mit einem "guten Leben" für Alle.
Dieser wahre Islam allerdings, der von den Ideologen gepredigt wird,
ist ein enges Konstrukt, in Wirklichkeit weit enfernt von den
historischen Gegebenheiten des siebten Jahrhunderts in Mekka, wie es
in der Tat nicht zu vermeiden ist. Dieses Konstrukt beruht auf
ausgewählten Versen und Fragmenten der islamischen Grundschriften,
Koran und Sunna, ohne Versuch, deren Gesamtheit und Gesamtaussage zu fassen.
Tendenziöse Auswahl
Die Auswahl ist tendenziös, insofern als sie jene Absichten
bestärkt, die dem jeweiligen Prediger oder Ideologen vorschweben. Das
muss nicht, kann aber leicht zur Betonung von kämpferischen Aussagen und Anweisungen führen, denen in den Texten selbst auch gegenteilige Hinweise und Weisungen gegenüberstehen. Das kämpferische Element ("Jihad" aufgefasst als der Kleine Jihad oder Kampf gegen die Ungläubigen) findet natürlich da Anklang, wo Wut und Verzweiflung über die eigene Lage überwiegen. Sehr deutlich erscheint dies in den Aussagen des Madrasa-Chefs bei William Dalyrmple, wie oben zitiert.
Die Ideologen bestehen auch auf den identitätsstiftenden Zügen, die
dazu dienen können, die eigene Gefolgschaft zusammenzufassen und sie gegenüber der Aussenwelt abzugrenzen. Die überaus scharfe Betonung einer vermeintlich "islamischen" Behandlung der Frauen, gehört dazu. "Unsere" Frauen sind "unser" Symbol für "unseren" Islam. Gerade weil die Anderen, aus unserer Sicht un-islamischen Mitbürger und Zeitgenossen "ihre" Frauen gegenteilig behandeln. "Islamische"
Kleidung dient dem gleichen Zweck. Auch die peinlich genaue Befolgung der Rituale und Vorschriften, besonders der Reinlichkeitsvorschriften und auch der sozialen Gebote (Zakat) kann zur Zimentierung einer solchen Eigenidentität dienen..
Die Spaltung verschärft sich
Wenn diese Sicht der Dinge zutrifft, kann sie erklären, warum
Islamismus und Salafismus gegenwärtig zunehmen. Die Bruchlinie
zwischen den Kreisen, die bei der Globalisierung mitmachen und von
ihr profitieren und der grossen Mehrheit, die dies nicht vermag und
daher immer mehr in Armut und Enge versinkt, hat sich in den letzten
Jahrzehnten vertieft. Die globalisierten Kreise sind mit dem
Wirtschaftswachstum Ägyptens gewachsen, das Jahr für Jahr unter
Mubarak verzeichnet wurde. Doch das Wachstum beschränkte sich auf die Reichen der "globalisierten" Kreise.
Die von dieser Entwicklung Ausgeschlossenen - und dies waren die grossen Massen von Abermillionen - sind durch ihre starke Vermehrung, die Arbeitslosigkeit und die Steigerung der Preise für
Grundnahrungsmittel nicht reicher sondern bedeutend ärmer geworden.
Dies gilt vom materiellen Leben aber auch von Kultur. Die Kultur der
Unterschichten verarmt, weil ihre einstigen Oberschichten sich der
fremden Kultur zuwenden, die ihnen vom Ausland her, in ihrer
primitivsten Spielform übers Fernsehen, vermittelt wird. Wer nicht
teilhaben kann, weil ihm die Bildungsvoraussetzungen dazu fehlen
(Fremdsprachen sind ein wesentliches Element) bleibt verwaist zurück.
Es sei denn, er findet bei islamistischen oder salafistischen Gruppen
stützenden Unterschlupf.
Anführer der „Nicht-Globalisierten“
Die tonangebenden Ideologen, welche den "Nicht-Globalisierten" ihre
islamistische Ideologie vermitteln, gehören nicht notwendigerweise den
beschriebenen Unterschichten an. Doch sie stehen ihnen nahe und kennen ihre Lage und Mentalität. Sie glauben an ihre eigene Ideologie, schon weil sie diese ja selbst verkünden und sich nach Kräften für sie
einsetzen, aber auch, weil sie ihnen persönliche Erfolge gewährt. Sie
werden zu Leitern, Anführern, Chefs. Dies gilt vom erfolgreichen
Fernsehprediger, der salafistische Anhänger um sich schart, so gut wie
von der Kader-Person der Muslimbruderschaft. Was sie anfänglich in die Reihen ihrer Mitstreiter gebracht hat, sind oft persönliche
Erfahrungen und manchmal Erweckungserlebnisse.
Spannungen treiben zum Extremismus
Die extremeren Formen von Hass gegen die als "unislamisch"
eingestuften Aussenseiter, im eigenen Land oder im Ausland, hängen
stets mit extremen Spannungen an der "Modernisierungs-", "Reform-" und "Globalisierungs-" Grenze zusammen, zum Beispiel, wenn diese sich blutig färbt, weil die eine gegen die andere Seite zu Gewaltmassnahmen greift und die andere zurückschlägt.
Diese Grenze zwischen Teilhabenden und Ausgeschlossenen der Globalisierung zieht sich durch die muslimischen Länder selbst, weil ihre heutigen Bewohner sich teilweise "globalisiert" und teils in einer verarmenden und sich verengenden Eigentradition gefangen finden. Sie bildet die Grenze, an der die Islamisten und Salafisten sich scheiden von den heute oft als "Säkularisten" beschriebenen Teilhabern, in stärkerem oder geringerem Masse, an der globalisierten Moderne.
Zukunftsaussichten
Was sind die Erfolgsaussichten der beiden Antagonisten? Man kann
festhalten: Die Aussichten für Islamisten und Säkularisten in der
Opposition sind gut; doch wenn sie zur Macht kommen, sind sie vor
Aufgaben gestellt, denen sie sich schwerlich gewachsen zeigen. Dies
gilt wohl auch für die Zukunft, weil der Zusammenprall an der
Globalisierungsgrenze, die durch die heutigen islamischen
Gesellschaften mitten hindurch verläuft, an Schärfe noch weiter
zunehmen wird. Was dazu führen muss, dass sich mehr und mehr Muslime aus den nicht globalisierten Volksschichten, ein nahezu
unerschöpfliches Reservat, der Kampf- und Konfrontationsideologie
zuwenden, die von den islamistischen Ideologen propagiert wird.
Es sind die materiellen und kulturellen Bedingungen, unter denen die
Unterschichten zu leben gezwungen sind und die sich verschlechtern,
welche die wachsende Schärfe des Zusammenstosses bedingen. Die
"kuturellen" und "identitären" Mängel und Unsicherheiten, denen sie
zunehmend ausgesetzt sind wirken sich ebenso aus wie die wachsende
Armut. Es gibt Verarmung in jeder Hinsicht, physisch und geistig. Sie
hat in den breiten Unterschichten in dem Masse zugenommen, in dem die Eliten der islamischen Länder sich dem Weltmarkt der Dinge und der Ideen zuwandten. Diese Entwicklung nahm stetig zu seit dem frühen 19. Jahrhundert. Sie hat in der Gegenwart einen Punkt erreicht, an dem dieUnterschichten sich zum ersten Mal zu erheben versuchten, jedoch zunächst allem Anschein nach ohne bleibenden Erfolg.
Natürlich gibt es auch äussere Kräfte, die zu dieser Radikalisierung
beitragen. In den Augen vieler Muslime sind sie sogar als die
wichtigsten Antriebe des Radikalisierungsprozesses einzustufen. Der
"Krieg gegen den Terror" mit all seinen Folgen, Afghanistan-Krieg,
Irak-Krieg, Guatánamo, Drohnenangriffe gegen mehrere muslimische
Staaten und dort lebende manchmal gänzlich unschuldige Opfer,
Hetzpropaganda gegen "den Islam" usw. hat zweifellos allen
kämpferischen Islamisten Motivierung und immer zunehmenden Nachwuchs beschert.
Selbstverschuldet?
Manchen Amerikanern und Europäern dürfte all dieses Unrecht und Leid als Folge der Untat Osama Bin Ladens erscheinen, also gewissermassen "selbstverschuldet". Doch den meisten Muslimen, auch jenen, die diese Terrorakte als Verbrechen einstufen, erscheinen sie ihrerseits als eine verständliche Reaktion auf eine Weltlage unter westlicher Hegemonie und daher Verantwortung, durch die ihnen Unrecht geschieht.
Wie immer man seine Motivationen und Ursachen einschätzen mag, dass der "Terrorkrieg" zum Wachstum der islamistisch motivierten Terror-Tendenzen im islamischen Raum beitrug und weiter beiträgt, sowie zu ihrer weltweiten Ausbreitung, lässt sich nicht abstreiten.
Regierungsmacht bringt Verantwortung
Die Wachstumsvoraussagen gelten, solange die Islamisten und Salafisten als Opposition gegen die herrschenden Zustände ankämpfen. Ihre unbestimmte Verheissung einer heilen Gesellschaft, wenn diese nur "die Sharia" befolgen wolle, genügt, um immer mehr Menschen zu motivieren, die sich gegen die gegenwärtige Lage aufbäumen. Es gilt: je schlechter desto besser. Je schlechter für die grosse Masse der Muslime, desto besser für die Ideologen der islamistischen und fundamentalistischen Opposition, die zum Aufstand gegen die herrschende Lage aufruft.
Doch dies gilt nicht mehr, sobald die islamistische oder
salafistische Führung selbst Regierungsverantwortung übernehmen muss. Dann muss sie versuchen, sich mit der bestehenden Lage konkret auseinanderzusetzen. Ihre Gefolgschaft erwartet von ihr, dass sie nun "Alles" rasch in bessere Wege leite, wie sie es ja als Opposition
versprochen hatte. Eine solche schlagartige Umstellung ist
schlechterdings unmöglich. Es gibt keinen Weg "zurück zum Propheten", schon darum nicht, weil die islamischen Staaten heute grosse Mengen von Menschen ernähren müssen.
Das Ägypten der klassischen arabischen Zeit hatte besten falls 5 Millionen Bewohner, doch heute sind es gegen 80 Millionen. Ägypten ist daher das grösste Weizenimportland der Welt geworden. Die Importe, aus fernen Weltteilen, müssen bezahlt werden. Ägypten braucht eine Wirtschaft, die diese Bezahlungen finanzieren
kann. So wie sie seit Muhammed Ali und der späteren britischen Zeit
eingespielt ist, ist diese Wirtschaft auf Exporte angewiesen, um die
Importe zu finanzieren, also schon daher eingebunden in die
Weltwirtschaft und ihren Markt. Die Globalisierung ist unverzichtbar
geworden. Was natürlich nur ein Strang in einer komplexen Verflechtung ist, die besteht und nicht rückgängig gemacht werden kann.
Der harte Weg der Reformen
Die Lage ist reformierbar, das heisst in zahllosen Einzelheiten zu
verbessern, so dass sie effizienter gehandhabt werden kann und allzu
schreiende Ungerechtigkeiten vermieden werden. Doch dies ist
politische Detailarbeit und braucht Zeit sowie Umsicht und Zähigkeit,
wohl auch schlicht eine gute Portion von Glück.
Schlagartig kann es keine echte Verbesserung geben. Wie weit die Islamisten über die notwendigen Kapazitäten verfügen, um derartige Aufgaben zu bewältigen, ist sehr ungewiss. In manchen Bereichen werden sie sich mit Fachleuten behelfen müssen, die nicht zu den "Ihrigen" gehören. Man pflegt sie Technokraten zu nennen. Wie weit ihre Gefolgschaft bereit wären, ihnen die nötige Zeit zu gewähren, ist eine weitere, bange Frage. Geduld ist nicht die Stärke der Verzweifelten, und die Versprechen hatten gelautet, "sofortige, ideale, Verbesserung".
Machtabsicherung vor Reform
Da wo sie zur Macht gelangen, sind die Islamisten oder Salafisten aus
diesen Gründen gezwungen, der Festigung ihrer errungenen Macht
Priorität zu gewähren. Sie muss gewährleistet sein, bevor alle
Reformen beginnen. Khomeini in Iran war konsequent in diesem Sinne. Er schritt prioritär zur Aufstellung einer eigenen Streitmacht, jener der
Revolutionswächter, die seine Herrschaft absicherte. Dann begann er
alle Kritiker, die an sein Regime Forderungen stellten oder auch nur
Reformvorschlage vorbrachten, mundtot zu machen. Wichtig zu diesem
Zweck sind Staatsmonopole für Information in Presse, Radio und
Fernsehen, womöglich auch im Internet. Doch auch Rivalen Gruppierungen und einzelne Intellektuelle, die alternative Meinungen oder Projekte vorlegen, müssen gleich- oder ausgeschaltet werden.
Der Weg der prioritäten Regimesicherung entfaltet dann seine eigene
Dynamik. Sicherheit des Regimes wird wichtiger als die ursprünglich
verheissenen Reformen. Informationskontrolle und Gedankenpolizei
bewirken natürlich nicht nur Sicherheit für die herrschenden Kreise
sondern auch Stagnation der Gesellschaft, weil Neuigkeiten, die nicht
von der Herrschaftszentrale ausgehen, als gefährlich gelten und daher
nicht stattfinden dürfen.
Der iranische „Gottesstaat“
Die Herrschaftszentrale selbst sieht sich bald als die beste aller möglichen Herrschaften an, wer dies leugnet, gehört ins Gefängnis. Unter diesen Umständen hat sich der iranische „Gottesstaat“ unter der Herrschaft der Herrschenden Gottesgelehrten zu einem Gebilde entwickelt, in dem die muslimischen Identitätsmerkmale, welche die Islamsiten pflegen, verhüllte Frauen, Geschlechtertrennung, Alkohlverbot, Verbot von Gesang, besonders durch Frauenstimmen, Verbot von Nacktheit im Sport und anderswo(einschliesslich der Abschaffung von Pissoirs) staatlich erzwungen werden, in dem sich aber in anderer Hinsicht nicht sehr viel geändert hat. Paradiesische Zustände (ausser vielleicht für einige an der Führung mitwirkende Geistliche)treten nicht ein. Teile der Bevölkerung, nämlich jene, die mehr Mitsprache und mehr Teilnahme an der heutigen Umwelt fordern, so wie sie gegenwärtig nun einmal ist, versuchten dagegen zu rebellieren. Doch sie wurden 2009 von den staatlichen Wächtern zurückgeschlagen und warten seither darauf, dass sie neue Gelegenheiten erhalten, um ihre Anliegen zu fördern.
Die engstirnige Herrschaft der Taleban in Afghanistan
Im Falle der afghanischen Taleban, die fast ganz Afghanistan
beherrschten, bevor die Amerikaner sie von 2002 an zurückschlugen,
ohne sie bisher ganz aus dem Feld zu schlagen, wurde ebenfalls der
Absicherung der eigenen Herrschaft absolute Priorität eingeräumt. Ihre
Herrschaft zeichnete sich durch eine besondere Enge und Primitivität
der angestrebten Ziele und angewandten Methoden aus.
Nicht nur Frauenhaare mussten verhüllt werden, sondern die ganzen Frauen. Mädchen sollten auch keine Schulen besuchen. Für Männer war der Bart obligatorisch.
Die sogenannten Extremstrafen (Hudud )die der Koran vorschreibt, wurden in rücksichtsloser Art und Weise, demonstrativ, angewandt, ohne sich auch nur um die Nuancen der Sharia für die Anwendung dieser Strafen zu kümmern. In derartigen Äusserlichkeiten erschöpfte sich das Regime der Taleban, sein Sturz nach dem amerikanischen Einmarsch wurde von vielen Afghanen zunächst als eine Befreiung empfunden.
Der schwierige Weg zur Demokratie
In Tunesien und in Ägypten gewannen die demokratiewilligen Islamisten die ersten Wahlen nach den Revolutionen von 2010 und 2011. Doch es gelang ihnen nicht, die Gesellschaften, über die sie theoretisch die Herrschaft antraten, soweit zu reformieren, dass die Bevölkerung sich weiterhin hinter sie stellte. Grosse Massen von Ägyptern verloren die Geduld mit Mursi und seinem nicht besonders erfolgreichen Regierungsstil. In Tunesien wuchs eine Opposition heran, die den Rücktritt der gewählten Regierung und Neuwahlen forderte. Grosse Teile der Bevölkerung stellten sich hinter die "säkularistische" Opposition, was in Ägypten die Armee ausnützte, um Mursi und die Seinen zu Fall zu bringen und den Versuch zu unternehmen, sie mit Gewalt auszumerzen.
In Tunesien wurde die an-Nahda-Regierung durch Boykott der regierenden Verfassungsversammlung und beständige Opposition auf den Strassen zu verfrühtem Rücktritt gezwungen.
Gewiss, es gab konkrete Fehlgriffe, die man diesen beiden nachrevolutionären und gewählten Regierungen vorwerfen konnte. Doch eine wirkliche Reform der ihnen kurzfristig unterstellten Gesellschaft und ihres Staates im Sinne der verheissenen
vorbildlichen muslimischen Demokratie war in der kurzen Frist ihrer,
auch noch eingeschränkten und daher bloss partiellen, Machtausübung
unmöglich zu erreichen. Das Gewicht der Globalisierung in ihren
Staaten, zur Geltung gebracht von jenen Schichten, deren Einfluss auf
Globalisierung beruht, erwiess sich als übermächtig.
Soziologische, nicht religiöse Grundspaltung
Diese ersten Erfahrungen zeigen auf, was man auch ohne sie zu
gewärtigen hatte: Für die Islamisten und Salafisten erweist sich die
Praxis der Machtausübung als ungleich schwieriger denn der Erwerb von Anhängern in Zeiten und unter Bedingungen der Opposition.
Mit diesem Grundsatz muss man auch für Zukunft rechnen. Er wird sich
so lange als gültig erweisen, wie die soziologische (nicht wirklich
religiöse) Grundspaltung der heutigen Gesellschaften in der arabischen
und in der weiteren muslimischen Welt bestehen bleibt oder noch
schärfer wird. Sie ist gegeben durch die Globalisierung der
Oberschichten und die wirtschaftliche und kulturelle Verarmung und
Verwaisung, welche die gleiche Globalisierung den Unterschichten
beschert.