Er stammte aus Brooklyn und wuchs als Ältestes von sieben Geschwistern in einer irisch-katholischen Einwandererfamilie auf. Die Mutter war Kinokassierin und Hilfshebamme, der Vater Fabrikarbeiter und oft arbeitslos. Als Elfjähriger trug er den «Brooklyn Daily Eagle» aus, sein erster Kontakt mit der Zeitungswelt. Fasziniert von Comic-Büchern begann der junge Pete zu zeichnen und liess sich 1957 nach vier Jahren Dienst in der US-Navy und zusätzlicher Ausbildung als Grafiker in New York nieder. Doch glücklich wurde er, ohne High School- und Collegeabschluss, im grafischen Gewerbe nicht und suchte weiter.
So lange, bis er 1960 erstmals die Redaktion der «New York Post» besuchte und der Journalismus, Liebe auf den ersten Blick, ihn nicht mehr losliess: «Der Raum war für mich aufregender als jeder Film, ein organisiertes Chaos von Redaktoren, die von ihren Pulten riefen, von Copy Boys, die (mit Manuskripten) durch Türen in die Setzerei rannten, von Männern und Frauen, die auf ihre grossen mechanischen Schreibmaschinen einhackten, von schellenden Telefonen, von klappernden Agenturtickern, und jedermann rauchte und drückte die Stummel auf dem Boden aus.»
Bekehrter Alkoholiker
Was Pete Hamill ausliess, war der Alkohol, dem die Journalisten seiner Generation in Bars und Pubs ausgiebig zusprachen und der den einen oder andern der Kollegen ins Verderben stürzte. Nicht aber ihn, der nach einem letzten Vodka in der Neujahrsnacht 1972 dem Suff abschwor. Auf die Frage, wieso er zu trinken aufgehört habe, antwortete er als Sohn eines Alkoholikers kurz und knapp: «Ich habe kein Talent dazu.» Zigarren und Zigaretten blieben. 22 Jahre später titelte Hamill seine Memoiren «A Drinking Life». Es sei einer der besten Tage seines Lebens gewesen, als er den ersten Presseausweis erhielt, erinnerte er sich: «Ein Zeitungsmann zu sein, ist eine der besten Ausbildungen der Welt.»
Pete Hamill schrieb nicht nur für die «New York Post». Während des 114-tägigen Zeitungsstreiks in New York 1962–63 begann er Magazinartikel zu verfassen. Er zog nach Spanien, schrieb für die «Saturday Evening Post» über die Konflikte in Irland und im Libanon und kehrte 1965 zur «Post» zurück, für die er als Korrespondent über den Krieg in Vietnam berichtete. Während der folgenden vier Jahrzehnte schrieb er mehr als zwanzig Romane, über hundert Kurzgeschichten und Tausende von Kolumnen für die «Post», die «Daily News» und den «New York Newsday».
Generalist, nicht Spezialist
Laut dem Nachruf der «Daily News» schrieb Pete Hamill über eine Million Worte, «die grosse Mehrheit mit einem Finger, mit dem er den Puls dieser ausufernden City fühlte.» Es gebe nicht nur ein New York, sagte Pete Hamill 2007: «Es gibt viele New Yorks. Jeder, der sich hinsetzt und sagt, ‘Ich kenne New York’, kommt nicht aus dieser Stadt.» Dan Barry, Kolumnist der «New York Times», teilte nach Hamills Tod auf Twitter mit, er habe einst geschrieben, wenn New York Citys Pflaster sprechen könnte, würde es wie Pete Hamill tönen: «Nun weint diese City.»
Sich selbst bezeichnete Pete Hamill als Generalisten, nicht als Spezialisten. Er schrieb über Gott und die Welt, über Weltpolitik, das nationale und lokale Zeitgeschehen, über Musik, Kunst und Sport. Er schrieb ein Buch über den mexikanischen Wandbildmaler Diego Rivera, er schrieb Bücher über Fotografen wie Agustin Victor Casasola oder Jake Rajs, er schrieb Bände über Comic Strips und Karikaturen, über Fotojournalismus, Sportfotografie und New Yorks jiddische Presse.
Stilsicherer Schreiber
Was zeichnete Pete Hamill, zu dessen Kollegen und Freunden Grössen des «New Journalism» wie Tom Wolfe, Jimmy Breslin, Gay Talese und Norman Mailer gehörten», als Schreiber aus? «In der Zeitungsgeschichte hat es nie jemanden gegeben, dessen Sprachgebrauch eleganter war als seiner. Seine Stimme konnte auch äusserst zornig sein. Er kämpfte gegen Ungerechtigkeit, stets, laut und grimmig», erinnert sich in der «Daily News» Mike Lupica, einer der besten Sportkolumnisten Amerikas. Hamill, heisst es im Nachruf desselben Blatts, habe den lokalen Boulevardzeitungen einen Hauch von Poesie vermittelt, «ein Gefühl für Anmut, Witz und Empathie inmitten der täglichen Dosis von Verbrechen und Korruption». Gouverneur Andrew Cuomo, seit Corona über seinen Staat hinaus bekannt, nennt Pete Hamill schlicht «die Stimme New Yorks».
Der Kolumnist, kein Kostverächter, gehörte – für einen Journalisten eher ungewöhnlich – zu New Yorks Prominenz, deren Lebensstil die Boulevardzeitungen der Stadt aufmerksam verfolgten. Er traf die Beatles, bevor sie zum ersten Mal in den USA auftraten, interviewte den 34-jährigen John Lennon für «Rolling Stone» und schrieb für Bob Dylan den Text der Plattenhülle «Blood On the Tracks». Er lebte mit der Schauspielerin Shirley MacLaine zusammen, machte Jacqueline Kennedy Onassis den Hof und war zeitweise mit Sängerin Linda Ronstadt, deren Kollegin Barbara Streisand und Autorin Susan Sontag liiert. Zu seinen besten Freunden zählte Frank Sinatra. Doch als einer, der seine Herkunft nie verleugnete, sorgte er sich geleichzeitig, der Journalismus würde zu stark auf Berühmtheiten fokussieren.
Engagierter Zeitzeuge
Pete Hamill berichtete über Historisches. Er beschrieb die Schattenseiten des Krieges in Vietnam, er begleite seinen Freund Robert F. Kennedy, als ihn der Palästinenser Sirhan Sirhan am 6. Juni 1968 in der Küche des Hotels «Ambassador» in Los Angeles tödlich verwundete, er schrieb 1991 über die Rassenunruhen im Viertel Crown Heights in Brooklyn und er war am 11. September 2001 im Süden Manhattans, als arabische Terroristen zwei Passagierflugzeuge in die beiden Türme des World Trade Center steuerten.
In einem Artikel, der einen Tag später erschien, schilderte Hamill, wie er inmitten all der Trümmer und des Chaos seine Frau, die Schriftstellerin Fukiko Aoki, gesucht und schliesslich unversehrt gefunden hatte. New Yorks wahre Grösse, so der Kolumnist, habe sich nach 9/11 gezeigt: «Es war, als würden wir uns dabei zuschauen, wie wir in die Knie gingen, aber danach wieder aufstanden.»
Früher Trump-Kenner
Pete Hamill legte sich schon 1989 unerschrocken mit Donald Trump an. Der Bauunternehmer forderte damals in ganzseitigen Anzeigen die Todesstrafe für fünf junge Schwarze und Latinos, die im Central Park in New York angeblich eine weisse Joggerin vergewaltigt und ermordet hatten. Jahre später stellte sich aufgrund von DNA-Analysen heraus, dass die Teenager unschuldig im Gefängnis gesessen hatten.
Zwar war auch der Kolumnist erst überzeugt, «The Central Park Five» hätten die Tat begangen. Doch Trumps unverblümte Forderung, das Quintett ohne langen Prozess hinzurichten, war ihm zuwider: «Zähnefletschend und herzlos und nur scheinbar hartgesotten, auf der Tugend der Dummheit beharrend, war es die Verkörperung blinder Verneinung», schrieb Hamill: «Hass war lediglich ein anderes Luxusgut. Und T. zeigte sich nackt, als Sprachroher jener winzigen Minderheit in Amerika, die es sich leisten kann, ein sicheres Leben zu führen.»
Unfreiwilliger Prophet
Fast prophetisch auch der Artikel «Die Revolte der unteren weissen Mittelklasse», den Pete Hamill 1969 schrieb und der so auch vor der Präsidentenwahl 2016 hätte erscheinen können: «Der Angehörige der weissen Arbeiterklasse revoltiert gegen Steuern, freudlose Jobs, die Doppelmoral und das kurze Gedächtnis von Berufspolitikern, die Heuchelei und das, was er als die Erniedrigung des amerikanischen Traums sieht.» Jeder Politiker, der den weissen Mann ausser Acht lasse, tue das auf eigenes Risiko hin, schloss der Autor.
Vor vier Jahren packten Pete Hamill und seine Frau ihre Sachen im Loft im Süden Manhattans und zogen über den East River nach Brooklyn zurück, wo der Kolumnist auf dem Green-Wood Friedhof einen Grabplatz kaufte. Er litt zwar an Herz- und Nierenschwäche, wollte aber noch ein letztes Buch über seinen Geburtsort schreiben: «Back to the Old Country».
Verlässlicher Ratgeber
Soweit ist es nicht mehr gekommen. Nach einer Dialyse stürzte der 85-Jährige in seiner Wohnung, brach sich eine Hüfte und musste ins Spital eingeliefert werden. Es war das Methodist Hospital in Brooklyn, wo Pete Hamill am 25. Juni 1935 auf die Welt gekommen war und wo der Journalist am 5. August 2020 an Herz- und Nierenversagen starb.
«RIP Pete Hamill, eine lebendige Inspiration für uns alle», schrieb nach seinem Tod der frühere «New York Times»-Mitarbeiter Jim Rutenberg auf Twitter: «Er war der Journalist, der wir alle sein wollten, mit einem Leben, das wir alle leben wollten. Der beste Rat, den er mir je gegeben hat: 'Checke IMMER die Zeitungsausschnitte.' So simpel und doch so oft vergessen. Sein Erbe und sein Werk leben weiter.»
Quellen: AP, New York Daily News, New York Post, New York Times, Washington Post, Rolling Stone