In zwei Büchern denkt die französisch-marokkanische Schriftstellerin Leïla Slimani über sich selbst nach und erkundet die Welt ihrer Grosseltern. Sobald die Kinder in der Schule sind, geht Leïla Slimani hoch in ihr Büro und verlässt es erst am Abend wieder. Die Regale sind voller Geschichtsbücher und Zeitungsausschnitten aus den Fünfzigerjahren, den Boden bedeckt ein Plan der marokkanischen Stadt Meknès von 1952.
In Marokko wird sie 1981 als Tochter einer Ärztin und eines Wirtschaftsfachmanns geboren. Mit 17 zieht sie nach Paris, wo sie studiert und seither lebt. Geprägt von Simone de Beauvoirs «Das andere Geschlecht», arbeitet sie zunächst als Journalistin und wird mit ihren Büchern – «All das zu verlieren» (2014), «Dann schlaf auch du» (2016), «Sex und Lügen» (2018) – zu einer der wichtigen Schriftstellerinnen Frankreichs, die zugleich Brücken schlägt nach Nordafrika, ins ehemalige französische Kolonialreich.
«Meine Figuren reden nicht mit mir»
Mit ihrem neuen Roman allerdings kommt sie in ihrem Büro nicht weiter. «Ich sitze seit Stunden auf diesem Stuhl, und meine Figuren reden nicht mit mir», erzählt sie. Sie raucht zu viel, vertrödelt ihre Zeit im Internet, erinnert sich daran, was ihr die Grossmutter über das Kino von Meknès erzählt hat. Bis ihr Handywecker klingelt. Alina, ihre Lektorin, erwartet sie und macht einen Vorschlag: Es gebe da das Angebot eines Museums für moderne Kunst in Venedig, eine Nacht in seinen Mauern zu verbringen. Könnte eine Nacht des Eingeschlossenseins ihre Kreativitätsprobleme lösen? Sie sagt ja.
So gehen aus dieser verzwickten, vielen Schriftstellern durchaus bekannten Situation des Blockiertseins gleich zwei Bücher hervor, ein schmales und ein etwas dickeres. «Der Duft der Blumen bei Nacht», vor einigen Monaten auf Deutsch erschienen, schildert die zunächst ruhelose, dann mehr und mehr auf den eigenen Werdegang, ja das eigene Wesen konzentrierte Nacht im Museum. «Das Land der Anderen», erster Teil einer Trilogie über die Geschichte ihrer Familie, kehrt zurück nach Meknès, zu Leïla Slimanis so verschiedenartigen Grosseltern, die sich auf einem kargen Boden und in einer zunehmend feindlichen Umgebung behaupten müssen.
Eine Obsession für Abgründe
Im Dunkel des Museums überkommt sie ein sehr tiefes Bedürfnis nach Ruhe und Einsamkeit. Sie denkt an ihre Kindheit, die sie «wie ein Heimtier» verbracht hat. Ihr scheint, «unser Dasein ist ein einziges Bemühen, unsere Wildheit zu zerstören, uns zur Ordnung zu rufen, unsere Triebe zurechtzustutzen. Vielleicht erklärt das meine literarische Obsession für die Abgründe häuslichen Lebens. In all meinen Romanen hegen die Mütter zu irgendeinem Zeitpunkt, flüchtig und beschämt, den Wunsch, ihre Kinder zu verlassen. Sie alle sehnen sich zurück nach der Frau, die sie waren, ehe sie die Mutter von jemandem wurden.»
Doch es gibt keinen Weg zurück, davon handelt «Das Land der Anderen», in dem die Elsässerin Mathilde dem marokkanischen Soldaten Amine zurück in seine Heimat folgt. Kennen und lieben gelernt haben sie sich im Krieg, doch jetzt ist Frieden, jetzt ist Alltag. Es ist der Alltag einer französischen Kolonie, die sich bald vom Mutterland lösen wird und deren Gesellschaft geteilt ist in die Kolonisten und die Einheimischen. Gewalt macht sich breit, denn die Franzosen wollen ihre Herrschaft nicht hergeben. Amine und Mathilde aber sehen sich zwischen den Fronten.
Mathildes Heftigkeit, Amines Zorn
Das Leben ist hart, da draussen auf dem Land. Es ist heiss, staubig, trocken. Immer wieder geraten Mathilde und Amine aneinander. Er, ausserordentlich tüchtig in der Arbeit, will die Traditionen achten und ordnet sich ganz der Familie und einer Kultur unter, in der die Frau zur Unsichtbarkeit verurteilt ist. Doch Mathilde denkt gar nicht daran, unsichtbar zu werden, auch wenn sie ihre Kompromisse macht. Was beide eint, das ist eine unerklärlich starke Liebe und eine enorme Zähigkeit. Sie bekommen Kinder, ihr Betrieb blüht, während Marokko mehr und mehr in Gewalt abgleitet.
Wie Leïla Slimani diese Geschichte beschreibt, das ist sehr eindrucksvoll. Man spürt Mathildes Heftigkeit und Amines Zorn, man spürt Hitze, Entbehrung und Gewalt, man sieht die Landschaft, so ausgezehrt wie die Menschen, die sich in ihren steinigen Weiten behaupten müssen.
Die langen Stunden in ihrem Büro sind also keineswegs vergebens gewesen. Und auch die Nacht im Museum bringt Leïla Slimani auf fruchtbare Ideen. Sie denkt an den Vater, der zu Unrecht ins Gefängnis gekommen und bald darauf gestorben ist. Sein Tod hat ihr den Weg eröffnet zum Schreiben. Dieses Schreiben aber ist weit entfernt vom blossen Berichten dessen, was sie erlebt hat. «Im Gegenteil, ich möchte erzählen, was ich nicht gesehen habe, wovon ich nichts weiss, was mir aber keine Ruhe lässt.»
Keine Ruhe gelassen hat Leïla Slimani lange die Frage, wo sie eigentlich hingehört. Nie hat sie sich an Traditionen und Bräuche gehalten; in Marokko ist sie zu westlich, zu frankofon, zu atheistisch. Und in Frankreich bleibt ihr die Frage nach der Herkunft nie erspart. Wo also ist ihr Boden? Den Weg zu einer befriedigenden Antwort hat ihr Freund Salman Rushdie gewiesen. «Von ihm habe ich gelernt, dass man nicht im Namen der Seinen schreiben musste. Schreiben heisst nicht, eine bestimmte Kultur zu vermitteln, sondern sich von ihr loszureissen, wenn diese sich auf Gebote und Diktate beschränkte.»
Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht, 2022, 158 Seiten; und: Das Land der Anderen, 2021, 379 Seiten. Beide Luchterhand-Literaturverlag München.