Vor einem Jahr nahmen die Schweizer Stimmbürger die Masseneinwanderungsinitiative an, Mitte Januar hob die Schweizerische Nationalbank den Mindestkurs zum Euro auf. Beide Ereignisse führen die Schweiz weiter in den Alleingang, sie unterminieren Berechenbarkeit und Rechtssicherheit im Verhältnis der Schweiz zu Europa. Dabei ist die Aufrechterhaltung einer geregelten Beziehung zur Europäischen Union zentral für die Schweiz. Die Europäische Union ist nicht irgendein ausländisches Staatsgebilde, sondern eine der grössten Wirtschafts- und Handelsmächte und unser wichtigster wirtschaftlicher Partner. Ein Alleingang unseres Landes führt in die politische, rechtliche, wirtschaftliche und währungsmässige Sackgasse, zum Schaden der Schweiz, ihrer Bevölkerung und ihrer Wirtschaft.
Die EU hat immer wieder bekräftigt, dass die Aufhebung der Personenfreizügigkeit zum Ende des gesamten bilateralen Vertragswerkes führen wird. Sollte dies geschehen, dann erodiert die Grundlage für Rechtssicherheit und Berechenbarkeit im gegenseitigen Verhältnis Schweiz-EU. Was folgt ist höchst unsicher - vielleicht, nach langen Verhandlungen ein neues Freihandelsabkommen, vielleicht auch nicht …. Diese Unsicherheit wird den Investitions-, den Ausbildungs- und den Forschungsstandort Schweiz nachhaltig schwächen.
Dass dies nicht Schwarzmalerei ist, zeigt die Vergangenheit. Nach der EWR-Abstimmung 1992, als unklar war, wie die Beziehungen der Schweiz zur EU neu zu gestalten sind, geriet die Schweiz in den 1990er Jahren in eine langanhaltende Stagnation verbunden mit einer massiven Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland. Dies änderte sich erst als mit den Bilateralen eine neue, verlässliche Basis geschaffen wurde und die Hochzinsphase sowie die geplatzte Immobilienblase der 1990erJahre überwunden waren. Darauf folgte eine Phase starken Wachstums. Seit dem 9. Februar 2014 herrscht nun wieder Verunsicherung, die Investitionstätigkeit beginnt zu schwächeln und in der Forschung breitet sich Zukunftsangst aus. Ob die Schweiz die Quadratur des Kreises schafft, die Personenfreizügigkeit zu beenden und gleichzeitig die Bilateralen zu retten, ist zurzeit offen, auf jeden Fall höchst unsicher.
Europa ist wesentlich für das Schicksal der Schweiz, aber nicht umgekehrt
Dabei ist die Aufrechterhaltung einer geregelten bilateralen Beziehung zur Europäischen Union zentral für die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz. Die Schweiz ist auf das Engste mit Europa verflochten, was schon allein durch die Aussenhandelsstatistik dokumentiert wird: Gegen 55% der Exporte (und somit ca. 20% des Schweizer BIPs) und über 70% der Importe werden mit der EU abgewickelt. …und das sind nur die Güterströme!
Darüber hinaus erzielt der Tourismus die meisten Einnahmen mit Gästen aus Europa, für viele Dienstleister (Banken, Versicherungen, IT, etc.) ist der europäische Markt einer der wichtigsten Handelsplätze, fast der gesamte Stromhandel wird mit Europa abgewickelt, Schweizer Firmen tätigen viele Direktinvestitionen in der EU, viele Schweizer arbeiten in der EU und umgekehrt viele EU-Bürger in der Schweiz. Alle Land- und Wassertransportwege der Schweiz führen durch EU-Territorium und für die EU ist die Schweiz ein wichtiges Transitland. Umgekehrt ist die Schweiz für die EU mit einem Handelsbilanzüberschuss von rund CHF 20 Mrd. zwar ein guter Kunde, aber keineswegs existentiell wichtig. Die Exporte in die Schweiz machen ca. 9% der EU-Ausfuhren aus, was nicht einmal 3% des EU-BIP entspricht.
Die Schweiz als Nutzniesserin von europäischer Integration und europäischer Einheitswährung
Durch die Schaffung eines einheitlichen europäischen Binnenmarktes und der europäischen Einheitswährung wurden erhebliche positive Wohlstandseffekte auch für die Schweiz geschaffen. Mit der Eliminierung von Wechselkursrisiken und mit der Definition einheitlicher technischer und regulatorischer Standards ist ein riesiger gemeinsamer Markt entstanden, der Skaleneffekte und tiefere Kosten ermöglicht, wovon auch das europäische Kernland Schweiz profitiert. Auf der Basis der Bilateralen Verträge I und II (z.B. das Schengen-Abkommen) hat die Schweiz einen stabilen rechtlichen und institutionellen Rahmen für die Nutzung dieser Vorteile geschaffen, allerdings nur auf sektorieller Ebene (Forschung und Bildung, Arbeitsmarkt, öffentliches Beschaffungswesen, Land- und Luftverkehr etc.). Für grosse Wirtschaftszweige wie die Finanz-, die Energie- und die Lebensmittelindustrie fehlen bisher entsprechende Regelungen. In solchen Fällen verfolgt die Schweiz die Politik, europäische Regelungen im sog. „autonomen Nachvollzug“ zu übernehmen, um so den Marktzutritt zu erleichtern. Die faktische Integration geht also weit über die Bilateralen hinaus.
Von dieser starken Verflechtung der Schweiz mit Europa profitieren nicht nur die grossen multinationalen Konzerne, sondern auch viele exportorientierte Schweizer KMU’s, denen es so leichter fällt zu exportieren: sie haben so weniger Absicherungskosten durch geringere Wechselkursrisiken, einen einheitlichen und stabilen Rechtsrahmen, einheitliche Produktrichtlinien u.a.m. Generell würden kleine und mittlere Anbieter am meisten von einem geregelten Marktzugang profitieren. Grosse Unternehmungen können dies über EU-Niederlassungen erreichen. Hingegen leiden Sektoren ohne Anbindung an die Bilateralen unter dem fehlenden freien Marktzugang nach Europa. So droht z.B. der Schweiz im wichtigen Elektrizitätsbereich eine Isolierung vom europäischen Strommarkt.
Euro und Eurokrise als Herausforderungen
Viele der erwähnten Vorteile der europäischen Integration wurden durch die Eurokrise ab 2010 in Frage gestellt. Für viele Europakritiker ist die Bilanz durch die Eurokrise negativ geworden. In der Tat hat die Eurokrise einige Schwächen des Systems zutage gefördert. Im Nachhinein lässt sich darüber räsonieren, dass der Euro möglicherweise zu früh eingeführt wurde und die wirtschaftliche Integration noch nicht so weit war, dass nicht alle Mitgliedsländer reif für den Euro gewesen seien, dass gewisse Eintrittsbedingungen für gewisse Länder zu grosszügig ausgelegt wurden… es sind dies allerdings müssige Einwände! Einmal eingeleitet, ist die Schaffung einer Einheitswährung ein irreversibler Prozess. Im Maastrichter Vertrag sind übrigens nur die Beitrittsbedingungen aufgelistet, Austrittsmodalitäten wurden nicht festgelegt. Ein Euro-Exit ist rechtlich und institutionell nicht vorgesehen (aber politisch natürlich möglich). Der Euro kann nur noch zum Preis einer wirtschaftlichen und/oder politischen Katastrophe wieder in seine Einzelteile zerlegt werden. Auch der Austritt nur eines Landes oder die Schaffung irgendwelcher Nord- oder Süd-Euros hätten einen ähnlichen Effekt. Wenn bei einer Einheitswährung der (auch nur temporäre) Austritt eines Landes oder die Schaffung einer Subwährung möglich ist, dann wäre dies keine Einheitswährung mehr, sondern bloss eine instabile Währungsgemeinschaft. Die Finanzmärkte würden förmlich zu Spekulationen gegen ein solches Gebilde eingeladen, wie dies seinerzeit bei diversen Vorgängerregimes, wie z.B. der Währungsschlange, der Fall war.
Europa hat strukturelle Reformen eingeleitet…aber mit grossen Opfern für die Bevölkerung
Europa hat dies erkannt. Nach einer Phase des Zögerns beim Ausbruch der europäischen Schuldenkrise wurden ein Krisenmanagement und strukturelle Reformen eingeleitet. Zur Überwindung der Krise lautet die Losung nun „mehr Europa“, statt „Auflösung Europas“. Es wurden neue Strukturen wie der ESM (= Europ. Stabilitätsmechanismus) geschaffen, um im Falle von Schuldenkrisen auf geregelte Prozesse und Finanzierungen zurückgreifen zu können. Die Verknüpfung von Bankenkrisen und Staatsverschuldung wurde durch die Schaffung der sog. Bankenunion aufgelöst und gleichzeitig wurde eine paneuropäische Plattform der Bankenüberwachung und Bankenrestrukturierung (inkl. einer deutlichen höheren Anforderung an die Qualität der Bankbilanzen) ins Leben gerufen. Durch den sog. „Fiskalpakt“ hat man alle EU-Länder vermehrt in die Pflicht genommen, für gesunde Staatsfinanzen zu sorgen.
Diese Rettungsmassnahmen zeigen erste Erfolge. Irland und Portugal konnten den Rettungsschirm verlassen und Spanien hat seinen Bankensektor saniert. Auch Griechenland hat enorme Fortschritte gemacht. Das primäre Budgetdefizit (=Defizit ohne Zinszahlungen) wurde von -10% des BIP innert 5 Jahren auf mehr als 1% des BIP verringert und das enorme Leistungsbilanzdefizit von 14% des BIP wurde praktisch ausgeglichen. Der Fall Griechenland zeigt auch allerdings auch, dass bei dieser Wende (oder Rosskur…) die Leidensbereitschaft der Bevölkerung überstrapaziert wurde. Mit der Wahl der neuen Regierung droht das mühsam Erreichte wieder zu zerrinnen.
Generell wurden den überschuldeten Staaten der Euro-Peripherie sozial sehr harte Austeritätsprogramme und eine sog. „innere Abwertung“ auferlegt. Die vor dem Euro routinemässigen Abwertungen bei gleichzeitig verpassten Strukturreformen sind seit dem Beitritt dieser Länder zum Euro nicht mehr möglich. Aufgrund des enormen Drucks von EU, EZB und IWF haben diese Länder strukturelle Reformen eingeleitet (aber noch lange nicht abgeschlossen), die Wettbewerbsfähigkeit hat sich deutlich verbessert, die Leistungsbilanzdefizite wurden eliminiert, die Staatshaushalte haben sich signifikant verbessert (dank der Erzielung von Primärüberschüssen) und die hohe Arbeitslosigkeit beginnt vielerorts zu sinken. Grosse EU-Ländern wie Frankreich und Italien, die diesem EU-Druck nicht ausgesetzt waren, leiden hingegen weiter unter schwachem Wachstum und steigenden Arbeitslosenzahlen, hier kommt der Reformprozess nur mühsam in Gang.
Die akute Phase der Eurokrise im engeren Sinn, nämlich der Unmöglichkeit, sich als Staat am freien Markt finanzieren zu können, kann als überwunden gelten, ebenso die die Erwartung vieler Marktteilnehmer auf eine baldige Auflösung der Einheitswährung. Dies zeigt auch die relativ gelassene Marktreaktion zu den jüngsten Wahlen in Griechenland. Hingegen sind die politischen Risiken deutlich gestiegen. Die Bereitschaft der Wähler, linken oder rechten Protestparteien die Stimme zu geben, hat zugenommen und die Wahrscheinlichkeit, konstruktive Lösungen zu finden wird damit wohl abnehmen.
Monetäre Impulse und Investitionshilfen gegen die Wachstumsschwäche
Die Eurozone weist insgesamt einen Leistungsbilanzüberschuss aus, die Defizitsituation verbessert sich und der Geld- und Kapitalmarkt hat nach dem Abschluss der EZB-Stresstests, eine gute Chance sich langsam zu normalisieren. Die EZB hat entgegen der landläufigen Sicht die Märkte nicht mit Liquidität geflutet, sondern nur die Zusicherung gegeben, dass sie dies notfalls tun würde. Ihre Bilanz hat sich sogar massiv verkleinert, von ca. EUR 3000 Mrd. auf ca. 2000 Mrd. zwischen 2012 und 2014. Zwischenzeitlich wurde der Euro eine der weltweit stärksten Währungen. Durch die Eurostärke bis zum Sommer 2014 und das negative Kreditwachstum haben sich die Deflations- und die Wachstumsrisiken signifikant erhöht. Deshalb ist nun die EZB daran, Gegensteuer zu geben, indem sie den Euro abwertet und mit diversen Massnahmen ihre Bilanz wieder auf den Stand von 2012 anhebt. Durch die Euroschwäche gegenüber dem USD seit Sommer 2014 hat sich die Überbewertung des Euro korrigiert, der Euro ist nun gemäss seiner Kaufkraftparität gegenüber dem USD korrekt bewertet.
Geldpolitik allein kann allerdings das schwache Wirtschaftswachstum der Eurozone nicht ankurbeln. Das können auch weitere Runden von Sparmassnahmen nicht, die jetzt schon zu einer unheilvollen deflationären Abwärtsspirale geführt haben. Einen vielversprechenden Ansatz verfolgt der „Juncker-Plan“, der die Investitionstätigkeit anregen will, indem Risiken durch die EU bzw. die Europäische Investitionsbank übernommen werden sollen. Sinnvoll ist es auch, die Anpassungslast nicht nur den Defizitländern aufzubürden, sondern auch die Überschussländer in die Pflicht zu nehmen. So wird z.B. Deutschland ab 2015 die Binnennachfrage stimulieren, indem höhere Löhne, u.a. auch durch die Einführung eines Mindestlohns, sowie die Stärkung der öffentlichen Investitionen geplant sind. Verstärkt wird dies durch eine sich beschleunigende Einwanderung.
Schweizer Franken wieder volatiler Spielball internationaler Kapitalströme
Die Anstrengungen der EZB, ihre Bilanz wieder auszuweiten und die Währung abzuwerten, hatte einen direkten Einfluss auf die Schweizer Geldpolitik. Die SNB sah sich gezwungen (ob zu Recht oder Unrecht, sei hier nicht erörtert), die Euro-Stützungskäufe zur Schonung ihrer aufgeblähten Bilanz einzustellen. Damit wurde die über dreijährige Phase stabiler und berechenbarer Wechselkurse abrupt beendet. Seit dem SNB-Entscheid ist der CHF wieder dem freien Markt überlassen, was zu einer schockartigen Aufwertung und einer hohen Volatilität geführt hat. Dies erzeugt zuerst und sehr direkt bei Exportfirmen und Tourismus grosse Wettbewerbsprobleme. Auch die Binnenwirtschaft wird aber belastet werden, da nun Importprodukte mehr Chancen haben. Das wird z.B. den Detailhandel, die Bauzulieferer, die Lebensmittelproduzenten und die grenznahen Gewerbebetriebe treffen. Noch fataler als die Überbewertung ist die Unsicherheit über die künftige Frankenentwicklung. Während der Mindestkursphase war der Franken nicht nur gegenüber dem EUR stabil, sondern er war auch gegenüber Drittwährungen wie dem USD weniger volatil als während der Zeit freier Wechselkurse. Kursvolatilität führt zu Unberechenbarkeit, diese zu Planungsunsicherheit und dies wiederum zur Blockade von Investitionen. Die Last der Währungsturbulenzen liegt nun wieder bei der Wirtschaft und der Bevölkerung, die SNB hat auf deren Kosten ihr Bilanzproblem gelöst.
Nach den Erfahrungen seit der Finanzkrise muss man zum Schluss gelangen, dass offensichtlich beide währungspolitischen Strategien versagt haben, die Anbindung an den Euro und die freien Wechselkurse.
Warum dies, und was bedeutet es? Die Schweizer Währung ist schlicht und einfach zu klein und die Schweiz zu abhängig vom Euroraum, um währungspolitisch einen eigenständigen Kurs zu fahren. Wenn nur ein kleiner Teil der Anleger aus den grossen Währungsblöcken EUR und USD aus spekulativen Motiven oder aus Sicherheitsüberlegungen Gelder in den „safe haven“ Schweiz umschichtet, dann hebt dies entweder die SNB-Bilanz oder die Schweizer Wirtschaft aus den Angeln. Eine unabhängige Geldpolitik ist in beiden Regimes nicht mehr möglich, obwohl dies bei freien Wechselkursen eigentlich der Fall sein sollte. Die SNB konnte bspw. vor, während und nach der Anbindung an den Euro z.B. die Zinsen nicht autonom anheben, um die Blase am Immobilienmarkt einzudämmen. Im Gegenteil, sie ist nun gezwungen, Negativzinsen einzuführen. Als Notmassnahme sind negative Zinsen akzeptierbar, als ständige Einrichtung hingegen stellen sie das moderne Bank- und Kreditsystem in Frage und entziehen insbesondere der privaten Altersvorsorge die Basis. Negativzinsen sind nicht nachhaltig.
Damit zeigt sich in aller Schärfe, in welcher ungemütlichen Lage, ja in welchem Dilemma die Schweiz nun steckt. Wählt sie das System freier Wechselkursen, dann muss sie mit einer überbewerteten und unberechenbaren, volatilen Währung leben. Dies führt direkt in eine Deflationsspirale mit sinkenden Preisen, tieferen Löhnen, steigenden Arbeitszeiten, letzten Endes zu tiefen Wachstumsraten und steigender Arbeitslosigkeit. Soziale Errungenschaften und der soziale Frieden werden gefährdet, die Negativzinssituation hält an. Verzweiflungstaten einzelner Akteure, wie Eurolöhne für Grenzgänger (d.h. unterschiedliche Entlöhnung für die gleiche Arbeit!) oder ein Eurokurs zu CHF 1.20 für ausländische Touristen (d.h. unterschiedliche Preise für die gleiche Leistung!) werden wahrscheinlicher. Die individuelle Einführung des Euro à la carte je nach Opportunität wird letzten Endes nur ins Chaos führen.
Wählt die Schweiz hingegen eine Mindestkurspolitik, bzw. de facto eine EUR-Anbindung, dann steigen die Bilanzrisiken der SNB ins Unermessliche. Eine unabhängige und freie Geldpolitik ist bei beiden Optionen eh nicht möglich. Theoretisch gäbe es noch die Möglichkeit von Kapitalverkehrskontrollen. Diese Massnahme aus dem währungspolitischen „Giftschrank“ ist allerdings für ein so international verflochtenes Land wie die Schweiz nicht durchführbar.
Wir fragen deshalb: Lohnt sich das Führen einer eigenen, nur scheinbar unabhängigen und unberechenbar gewordenen Währung für den Kleinstaat Schweiz noch, ist es die Aufgabe der Schweiz, den internationalen Kapitalströmen einen sicheren Hafen zu bieten, eine Funktion, die dem Land mehr Schaden als Nutzen bringt? Es wäre an der Zeit, bei der Suche nach einer zukunftsgerichteten Strategie auch das „Undenkbare“ zu denken, den EU- und den Euro-Beitritt.
„Erfolgsmodell Schweiz“ als Sonderfall?
Die Entwicklung benachbarter Regionen und Länder im Alpenbogen zeigt, dass es sehr wohl möglich ist, Wohlstand und Stabilität zu haben und gleichzeitig in der EU und im Euroraum zu sein. Zwar glauben viele Menschen, dass das Erfolgsmodell Schweiz eben gerade darauf gründet, nicht in der EU zu sein. Gerne - oder sogar genüsslich - werden Vergleiche von Inflation, Einkommen, Staatsverschuldung, Budgetdefizite und Wachstum zwischen der Schweiz und der Eurozone angestellt. Das Ergebnis ist immer das gleiche: die Schweiz schneidet stets besser ab.
Bei dieser Argumentation wird übersehen, dass die europäische Union sehr heterogen ist. Es ist nicht fair und auch sachlich nicht gerechtfertigt, die Schweiz mit der Gesamt-EU zu vergleichen, einem Konglomerat völlig unterschiedlicher Länder und Regionen, wo es neben Champions auf Schweizer Niveau zugebenermassen auch viele rückständigere Einheiten gibt.
Im Folgenden wollen wir die Perspektive wechseln und die Schweiz mit unseren unmittelbaren Nachbarn im Alpenbogen vergleichen, z. B. mit Deutschland und Österreich bzw. mit den angrenzenden europäischen Regionen wie bspw. Bayern und Baden-Württemberg. Diese sind in Grösse, Homogenität, kulturellem und wirtschaftlichen Entwicklungsstand sowie der geographischer Position mit der Schweiz vergleichbar.
Der Sonderfall Schweiz relativiert sich dann stark. Nur schon einige illustrative Zahlen zeigen, dass man auch als EU-Mitglied wirtschaftlich sehr erfolgreich sein kann. So betrug das Wachstum in der Schweiz zwischen 2010 und 2014 2.0 %, in Deutschland etwa gleich viel mit 1.9%, aber in Bayern 2.8% und in Baden-Württemberg 3.2%. 2015 dürfte die Schweiz von diesen Regionen dann deutlich überholt werden, da hier ein Wachstumseinbruch droht und dort das Wachstum anziehen dürfte. Auch bei der Arbeitslosigkeit befindet sich die Schweiz in guter Gesellschaft mit diesen Regionen. Die ausgewiesene Arbeitslosenquote von etwas über 3% ist eine Form von Selbsttäuschung. Stellt man auf eine einheitliche Definition ab (ILO-Methodik), bei der auch die Ausgesteuerten und die noch nicht versicherungsberechtigten Jungen gezählt werden, dann liegt die Arbeitslosenrate in der Schweiz wie in den Nachbarregionen bei knapp 5%.
Bei den öffentlichen Finanzen ist der Vorsprung der Schweiz gegenüber den Champions der EU ebenfalls klein. Die Schweiz weist eine Verschuldungsquote von 49% (2013) auf, Dänemark aber eine von 45%, Schweden eine von 41% und Luxemburg sogar bloss eine von 23%. 2014 und 2015 dürfte Deutschland einen ausgeglichenen Haushalt aufweisen. Generell sind zudem die osteuropäischen EU-Mitglieder, was öffentliche Finanzen betrifft, mindestens so erfolgreich wie die Schweiz. Also auch bei der Verschuldung sollte die Schweiz aufhören, mit dem Finger auf andere Länder zu zeigen. Die Schweizer Haushalte gehören wegen der sehr hohen Hypothekarverschuldung weltweit zu den am meisten verschuldeten Einheiten.
Das Wohlstandsniveau ist in der Schweiz zweifellos sehr hoch (vgl. z.B. Nominallöhne, BIP pro Kopf). Zieht man zum Vergleich andere erfolgreiche Regionen wie Bayern oder Baden-Württemberg heran und ebnet man methodische Differenzen aus, dann stellt man fest, dass es nur sehr kleine Wohlstandsunterschiede gibt! So betrug das sog. Äquivalenzeinkommen pro Kopf auf der KKS-Basis (KKS=Kaufkraftstandards) 2012 in der Schweiz in KKS-EUR 25‘000, in Öesterreich 21‘800, in Baden-Württemberg 20‘800 und in Bayern KKS-EUR 20‘600. In Dänemark ist es mit 26‘500 sogar höher als in der Schweiz. Ein Augenschein würde diesen statistischen Befund bestätigen.
Auch die überragende Position der Schweiz in Forschung und Entwicklung relativiert sich, wenn als Vergleich Regionen vergleichbarer Grösse wie Bayern oder Baden-Württemberg herangezogen werden. Diese stehen punkto wissenschaftlichem Output und Innovation sogar besser da als die Schweiz.
Wer sich in Bayern, Baden-Württemberg (oder auch Vorarlberg und Südtirol) umsieht, hat nicht den Eindruck, sich in einer Armutszone unter EU-Knechtschaft zu bewegen. Es sind dies Regionen auf Augenhöhe mit der Schweiz und mit lebendiger kultureller Eigenart – und dies trotz jahrzehntealter EU-Mitgliedschaft!
Ob man als Land oder Region wirtschaftlich erfolgreich ist oder nicht, hängt nicht in erster Linie von einer EU-Mitgliedschaft ab. Die Schweiz wird auch als EU-Mitglied – ebenso wie z.B. Bayern und Baden-Württemberg – zu den wirtschaftlichen Spitzenreitern zählen. Was zählt, sind die langfristigen strukturellen Erfolgsfaktoren, die sie mit diesen Regionen gemeinsam hat, wie z.B. eine starke Innovationskraft dank einem hohen Niveau an Forschung und Entwicklung, viele exportorientierte, weltgewandte KMU‘s, ein duales Bildungssystem mit Berufslehre und Hochschule, sozialer Friede, politische Stabilität sowie die zentrale Lage innerhalb Europas.
Eine Perspektive über die Bilateralen hinaus – der EU-Beitritt
Die Rettung der bilateralen Verträge nach dem 9. Februar 2014 ist ein Ziel, das der Club Helvétique unterstützt. Allerdings ist dieses Vorhaben sehr unsicher geworden. Kommt hinzu, dass die Bilateralen grosse Limiten aufweisen. Sie sind nur sektoriell und die Ausdehnung auf neue Sektoren, wie die Finanz-, die Elektrizitäts- und die Lebensmittelindustrie ist seitens der EU an die Schaffung neuer institutioneller Rahmenbedingungen (inkl. EU-Gerichtsbarkeit) gebunden. Auch die Politik des autonomen Nachvollzuges der EU-Gesetzgebung durch die Schweiz stösst an Grenzen und ist mit der Würde eines souveränen Staats auf die Länge nicht vereinbar.
Die beiden Pfeiler der Schweizer EU-Politik – Bilaterale und autonomer Nachvollzug – sind Auslaufmodelle. Gemessen an der Qualität und der Tiefe der Beziehungen der Schweiz zu Europa und aufgrund der natürlichen Selbstachtung als souveräner Staat wäre der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union und zum Europäischen Währungsraum – nicht nur aus politischen, sondern nur schon alleine aus wirtschaftlichen Gründen – der Königsweg zur Schaffung verlässlicher langfristiger Perspektiven für Wirtschaft und Bevölkerung. Dieser darf in den wichtigen politischen Diskussionen nicht länger ein Tabu sein, sondern gehört zu einer in die Zukunft blickenden, verantwortungsvollen und umfassenden Lagebeurteilung.