Seltsam, wie uns mitunter der Zufall die Bestätigung zuspielt (oder zuzuspielen scheint) von dem, worüber wir uns gerade Gedanken gemacht haben? Ich studierte in der Maison de Balzac in Paris die unzähligen Streichungen, Ergänzungen, Umformulierungen und sonstigen Änderungen, die Balzac an seinen Texten vornahm, bevor er das „Gut zum Druck“ gab.
Er verfasste am Abend eine oder zwei Manuskriptseiten, schickte sie dem Setzer und Drucker, der ihm am Morgen die Korrekturabzüge zustellte, die Balzac über und über mit Änderungen versah – sie erwecken den Eindruck eines Schlachtfeldes – und die er so geändert in die Druckerei zurückschickte, die den geänderten Text neu setzte und wiederum einen Abzug davon dem Schriftsteller schickte, der den Text erneut umformulierte und von der Druckerei neu setzen und abziehen ließ und so fort hin und her bis zu zehn Malen.
Ununterbrochener Konsum an Kaffee
Seiner Geliebten, der Polin Ewelina Hanska, schrieb er am 15. Februar 1845: „Arbeiten, das heißt, jede Nacht um Mitternacht aufstehen, bis acht Uhr schreiben, in einer Viertelstunde frühstücken, bis fünf Uhr arbeiten, abendessen, schlafen gehen und anderntags von neuem beginnen.“ In Gang gehalten hat er diesen Kräfte zehrenden Arbeitsrhythmus mit einem fast ununterbrochenen Konsum an Kaffee.
91 von den geplanten 137 Romanen und Erzählungen seiner „Comédie Humaine“ schrieb er auf diese Weise, bevor er, entkräftet, im frühen Alter von 51 Jahren starb. Und all das im Kampf um das richtige Wort, den richtigen Satz, die richtige Stelle eines Kommas.
Tucholsky, einer der größten Sprachkünstler des 20. Jahrhunderts, schrieb: der Schriftsteller leide an einer „Besessenheit, die nichts aus der Hand geben kann, weil man es noch besser, noch sauberer, noch kürzer sagen kann“, einer Krankheit also, wie er fortfährt, die „aus einem Semikolon ein Komma und wieder ein Semikolon“ macht.
"Das könntest du noch besser machen"
Nietzsche forderte: „An einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten“. Hemingway berichtete, er feile oft tage- ja wochenlang an einem Paragraphen, bis dieser wie aus dem Ärmel geschüttelt auf dem Blatt stehe. In Museen und bei Sammlern liegen Beethovens unzählige Versuche und Skizzen zum gleichen Takt; Picasso zeichnete zahllose Skizzen zu „Guernica“ und gestaltete am Ende das gesamte großartige Bild mehrfach um.
Seinem Freunden, dem Fotografen Brassai, sagte Picasso: „Ich sage mir oft: ‚Das ist doch nicht das Richtige Das könntest Du noch besser machen …‘ Ich kann mich nur selten zurückhalten, eine Sache noch einmal anzupacken … x-mal dasselbe.“
Röntgenaufnahmen zeigen, dass Manet auf seinem Gemälde „Bar des Folies Bergères“ mehrmals die einzelnen Gegenstände übermalte, um sie an eine andere Stelle zu rücken, und dass er schließlich auch noch das Spiegelbild der Barfrau weit seitwärts verschob, obwohl es dort mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen kann, aber dem Zwang der Bildkomposition gehorcht …
Woher und weshalb diese Besessenheit?
Tucholsky schreibt von einer diesbezüglichen Krankheit. Anders ausgedrückt: ein Künstler kann nicht anders. Ist diese Krankheit eingeboren oder wird sie durch die Begegnung mit den Vorgängern und durch den Umgang mit ihnen infiziert? Und wem gilt sie, diese Qualitätsmanie? Dem einzelnen, gerade in Arbeit befindlichen Werk? oder einer höheren, überragenden Idee von Kunst?
Dieses ständige Ringen mit der Sprache, mit der Bildkomposition, mit der Tonfolge, mit dem zu behauenden Stein – dieser unablässige Kampf mit dem Dämon muss doch, so sagte ich mir, ein Ziel haben, das weiter liegt als bloß in dem gerade in Arbeit befindlichen Werk. Dieser Kampf bedeutete ja auch Lernen, bringt Erfahrungen, Fortschritte, eine Verbesserung, glücklichenfalls eine Sublimierung des künstlerischen Schaffens.
Eine erhabene Vorstellung von dem, was sich eines Tages machen lässt
Ich besichtigte in Kopenhagen die gegenwärtig in der dortigen Glyptothek gezeigte große Ausstellung über „Degas‘ Methode“ – ein etwas unglücklich gewählter Titel in Anbetracht dessen, dass Degas darauf bestand, keine Methode zu haben. Auch ist die Ausstellung auf das schrecklichste mit langen Texten überladen, die an allen Wänden und unter fast jedem der ausgestellten Gemälde, Zeichnungen und Plastiken angebracht sind und den Genuss an den Exponaten erheblich schmälern.
Ich las die ersten dieser Texte, überflog flüchtig die nächsten und kümmerte mich schließlich überhaupt nicht mehr um sie, als unversehens der Zufall meinen Blick auf ein an einer Wand befindliches Zitat von Degas lenkte: Der Künstler – so Degas – muss „eine erhabene Vorstellung haben, nicht von dem, woran er gerade arbeitet, sondern von dem, was er eines Tages machen kann, andernfalls lohnt es sich gar nicht, zu arbeiten.“
"So klug als wie zuvor"
Freudig glaubte ich, meine Spekulationen durch die zufällige Begegnung mit den Worten dieses Künstlers bestätigt zu haben. Was Tucholsky Besessenheit, Krankheit nannte und was die zahllosen Umformulierungen Balzacs, die vielen Versuche, Skizzen und Änderungen Beethovens, Manets und Picassos bezeugen, hatten – vom Künstler bewusst oder unbewusst – einen auf ein Ziel hin gerichteten Sinn, auf ein Werk also, das alles bisher Geschaffene in sich schließt und überragt.
Aber alsbald drängte sich mir der Gedanke auf: weiß denn ein Künstler überhaupt, dass er ein solches Werk geschaffen hat? Weiß er auch, dass er damit am Ende seines Lebens und gleichzeitig auf dem Höhepunkt seines Schaffens angelangt ist? Wird dieser Höhepunkt tatsächlich mit dem Ende seines Lebens koinzidieren? Bildet etwa das wunderschöne letzte Gemälde Goyas: „La Laitière de Bordeaux“, das er im Alter von 82 Jahren kurz vor seinem Tod mit zitternder Hand malte, den Höhepunkt seines künstlerischen Schaffens? Ich glaube schon. Aber ist das nicht Geschmackssache?
Und dann kommt Picasso in mein Denken hereinspaziert und erklärt: „Die verschiedenen Stile, die ich in meiner Kunst verwendet habe, dürfen nicht als Evolution oder als Schritt auf ein unbekanntes Ideal der Malerei gesehen werden. Alles, was ich jemals gemacht habe, habe ich für die Gegenwart gemacht.“
Degas’ erhabene Vorstellung von der Zukunft – Picassos Gegenwartsbezogenheit …
Es handelt sich also um Individuelles, um grundsätzlich verschiedene Vorstellungen vom künstlerischen Schaffen. Gemeinsam ist bloß die Qualitätsmanie, aber sie ist nicht auf ein gemeinsames Ziel hin gerichtet. Futsch sind meine Spekulationen, dahin auch das Vertrauen in den bestätigenden Zufall. So wie Goethes Faust bin ich am Ende „so klug als wie zuvor“.