Präsident Karzai hat erklärt, die Vorkommnisse seien empörend und müssten genau untersucht werden, doch nun sei es Zeit, sich dem Aufbau des Landes zuzuwenden. Die afghanische Bevölkerung denkt und reagiert jedoch anders. Die Taleban nützen dies aus, und man kann vermuten, dass die Sache mit den Koranverbrennungen sehr viel mehr zu ihrer Ausbreitung und Einflussnahme beiträgt, als eine jede gewonnene Schlacht gegen Nato Kräfte.
Koranausgaben im Gefängnis
Was ist geschehen? Soviel man bis jetzt weiss, haben Wärter in dem amerikanisch geführten Militärgefängnis auf der Luftwaffenbasis Baghram vermutet, die gefangenen Afghanen - es dürfte sich um Verdächtige handeln, die dort "verhört" werden - benützten Koran-Exemplare, die sie aus der Gefängnisbibliothek ausliehen, um untereinander Nachrichten auszutauschen. Die Gefängnisleitung liess alle Exemplare konfiszierten und sie zusammen mit anderen Abfall verbrennen.
Die Verbrennung war offenbar unvollständig. Afghanische Arbeiter, die sich mit der Abfallverbrennung befassten, fanden angebrannte und teilweise verkohlte Koran Exemplare. Sie verbreiteten die Kunde davon.
Das Buch ist heilig
Der Koran gilt als heilig, nicht nur sein Inhalt, sondern auch das Buch als solches. Das Verbrennen dieses Buches oder auch nur seine ehrfurchtslose Behandlung gilt als ein Sakrileg. Dies ist besonders der Fall bei den nicht arabischen Völkern, denen die Sprache des Heiligen Buches oft unbekannt oder nur teilweise verständlich ist. Wer das Buch als Buch lesen kann, dem ist der Unterschied zwischen dem Inhalt und seinem Träger, dem Buch, deutlicher als einer Person, die das Buch nicht wirklich zu lesen vermag. Für sie ist es schwieriger, zwischen dem Träger der Botschaft und der Botschaft selbst zu unterscheiden.
Überall im arabischen Raum wird das Buch stets mit Respekt behandelt. Wer etwa nach einem Erdbeben oder einem Brandfall in einer Hausruine Texte des Koran auf der Erde findet, wird sie aufheben und zumindest auf eine Mauer legen, so dass niemand auf sie treten kann. Wenn es Ungläubige sind, die Koranexemplare verbrennen, wird automatisch angenommen, sie täten dies, um dem Islam ihre Verachtung zu zeigen. Es Ehrensache und Religionspflicht, mit allem Nachdruck zu protestieren. Bisher hat es in Afghanistan über 20 Todesopfer bei den Protesten gegeben und die Protestwelle rollt noch weiter.
In Afghanistan war es schon 2011 zu Protesten wegen der Verbrennung eines Koranexemplars in Florida gekommen, die in Afghanistan insgesamt 24 Menschen das Leben kosteten. Und zuvor in 2005 und 2008 hatte es tödlich verlaufende Unruhen wegen einzelner Berichte von Missachtung des Korans durch Amerikaner gegeben. Der Fehlgriff der Gefängnisautoritäten von Baghram ist umso unverständlicher.
Das Mistrauen wächst
Am wichtigsten für die politischen Folgen dürfte die Erschiessung von zwei amerikanischen Offizieren durch einen 25-jährigen afghanischen Polizisten und Sicherheitsfachmann gewesen sein. Dies geschah in einem der best abgesicherten Gebäude von Kabul, dem Innenminsterium, und die beiden Offiziere, es soll sich nach den afghanischen Zeitungen, welche die amerikanischen Behörden noch nicht bestätigt haben, um einen Major und einen Obersten handeln, gehörten zu den Anti-Terror Fachleuten von Isaf (International Security Assistence Force), welche die afghanische Polizei und Armee in Sicherheitsfragen beraten und belehren.
Eine Beschreibung der näheren Umstände der Erschiessung geht um, die ebenfalls unbestätigt ist und wahrscheinlich nie von den Amerikanern bestätigt werden wird, die aber in den Zeitungen Afghanistans gedruckt wurde. Sie ist von Bedeutung, weil sie vermutlich so gut wie alle Afghanen glauben. Nach dieser Erzählung, die auf Sicherheitsfilme zurückgehen soll und die der Wahrscheinlichkeit nicht entbehrt, sahen die beiden Offiziere eine Filmaufnahme der ersten Strassenproteste an und kommentierten dabei die "primitve" Mentalität der Demonstranten. Der afghanische Polizist und Informationsfachmann, der dabei stand, äusserte seine Meinung über die Berechtigung der Empörung. Dies führte zu einem Wortwechsel, und der Sicherheitspolizist ("Police Intelligence Officer") Abdel Saboor, der zu den Eingeweihten gehörte, die Zugang zu dem geheimen Depeschenverkehr besassen, zog seine Waffe und erschoss die beiden.
Er floh, und nach den offiziellen Quellen wird er gesucht. Das Haus seiner Famiie in Parwan sei durchsucht und seine Familienmitglieder in Kabul seien festgenommen worden. Vermutlich werden sie, ob sie nun mitschuldig oder unschuldig sein mögen, nicht eben glimpflich behandelt.
Wasser auf die Mühlen der Taleban
Die Taleban haben den Vorfall sofort ausgenützt und erklärt, der Mord sei die gerechte Strafe für die Koranverbrennung. Sie erliessen Aufrufe an alle rechtgläubigen Afghanen, die Untat der Amerikaner zu rächen. Sie können gewiss sein, überall in Afghanistan Widerhall zu finden. Die Amerikaner haben all ihre Mitarbeiter aus den Stellen zurückgezogen, wo sie mit afghanischen Regierungsvertretern zusammenarbeiten, und die anderen Nato Staaten taten einen Tag später das gleiche.
Es gibt immer wieder Fälle, in denen afghanische Uniformierte - manchmal falsche, aber auch echte Angehörige der afghanischen Polizei oder Armee - auf ihre amerikanischen oder europäischen Ausbilder und "Berater" schiessen. Dies ist der Grund für die sofortige Reaktion der Vorgesetzten der "Isaf" Leute, die diese einschneidende Massnahme anordneten.
Da zur Zeit überall auf den Strassen Afghanistans gegen die Koranverbrennung demonstriert wird, was vielerorts zu tödlichen Zwischenfällen führt, wäre eigentlich die Präsenz und Mitarbeit der anti-Terrorfachleute gerade in diesem Augenblick wichtig. Dass sie jedoch abgezogen wurden, spricht Bände für das geringe Vertrauen, das zwischen ihnen und ihren afghanischen "Kollegen" und Auszubildenden herrscht.
Wenig glaubhafte Ablösung der Amerikaner
Dabei ist zu bedenken, dass die gesamte Strategie der Amerikaner für ein erfolgreiches Endspiel in Afghanistan darauf beruht, dass sie mit Milliarden Geldern eine afghanische Armee und Polizei auszubilden versuchen, die in der Lage sein soll, nach ihrem Abzug, die Taleban in Afghanistan in Schach zu halten.
Wie es heute wirklich in Afghanistan steht, zeigt ein geheimer, aber durchgesickerter Bericht der Nato Kräfte von Anfang Februar, aus welchem BBC Auszüge publiziert hat. Der Bericht mit dem Titel: "State of the Taleban 2012", beruht auf der Auswertung der Aussagen von 4000 afghanischen Gefangenen, denen vorgeworfen wird, sie gehörten zu den Taleban oder stünden ihnen nahe.
Mehr Zuversicht bei den Taleban
Man findet dort Sätze wie: "Im Gegensatz zum vergangenen Jahr sind die meisten Gefangenen zuversichtlicher geworden. Sie schätzen ihre Aussichten zu gewinnen ebenso höher ein wie auch die moralische Berechtigung ihrer Aktionen."
"Im vergangenen Jahr herrschte mehr Interesse als je zuvor - sogar bei Mitgliedern der Kabul Regierung - sich den Rebellen anzuschliessen. Afghanische Zivilisten ziehen es vor, von den Taleban regiert zu werden, statt von der Regierung. Dies ist oft die Folge von Korruption, von ethnischen Vorurteilen und geringem Kontakt mit den lokalen religiösen und Stammesanführern. Der wachsende Einfluss der Talebanherrschaft erlaubt es, mehr Leute zu rekrutieren als bisher, was ihre Fähigkeit, Verluste zu kompensieren, zusätlich steigert. So hört man immer häufiger: "Wenn Isaf einmal als Faktor ausfällt, erachten die Taleban ihren Sieg als gewiss". Und: "Die Taleban sind des Krieges müde. Doch sie haben wenig Hoffnung auf einen Verhandlungsfrieden. Trotz zahlreichen Rückschlägen ist ihre Mentalität weit entfernt von Kapitulation."
Bessere Verwaltung als jene von Kabul?
Der Einsatz neutraler Personen oder von Richtern, die dem höheren Kommando Bericht erstatten, erlaubt es der Talebanführung, Probleme rasch zu erkennen und Anführer zu entfernen. In einigen seltenen Fällen hat dieTalebanführung Anführer aus den eignen Reihen ausgestossen oder sogar eingekerkert.
Fast ohne Ausnahme erhalten die Mitglieder der Taleban keine Gehälter oder andere Kompensationen für ihre Arbeit. Die Taleban erhalten nach wie vor den grössten Teil ihres Einkommens als Spenden. Sammler von Geldern gehen von Haus zu Haus in Pakistan, um Spenden zu fordern, ohne ihre Zugehörigkeit zu den Taleban zu verbergen.
Überlegungen der Gefangenen machen deutlich, dass die Manipulation der obersten Führung der Taleban durch Pakistan ununterbrochen fortdauert. Ein hoher Anführer der Taleban aus Kunduz (im Norden Afghanistans) erklärte: "Pakistan weiss alles. Sie kontrollieren alles. Ich kann nicht gegen einen Baum in Kunduz Wasser abschlagen, ohne dass sie dabei zuschauen. Die Taleban sind nicht Islam; die Taleban sind Islamabad."
Bilal Sarwari, der für den pakhtunischen Dienst von BBC arbeitet und dessen Arbeit manchmal auch auf englisch erscheint, ergänzt aus seiner persönlichen Erfahrung: "Viele Famiien haben Mitglieder, die für beide Seiten arbeiten, manche für die afghanischen Regierungstruppen, andere für die Taleban. Die Familien sehen darin eine Art von Versicherung".
Näher bei der Bevölkerung als Kabul
"Wenn die Drofbewohner vernehmen, dass Obama oder Biden den Abzug der Amerikaner auf das Jahr 2014 diskutieren, kommen nachher die Taleban und sagen: "Seht ihr, die Nato geht und wir werden bleiben".
Andere berichten: "Ich habe von verschiedenen Fällen gehört, in denen Taleban Offiziere entlassen wurden, weil die Bevölkerung sich über sie beklagt hatte. Viele Leute sind der Ansicht, dass sie mehr auf die Bevölkerung eingehen als die Regierung, bei der solche Einsichten sehr selten vorkommen."
Manche erklären: "Ein Dieb wird von den Taleban nach einem kurzen Prozess zum Tode verurteilt. Unter Karzai geht es hundert Jahre, bis bewiesen ist, dass er gestohlen hat, und sogar dann ist es keineswegs sicher, dass er bestraft werden wird".