Praktisch alle Formen des heutigen Reisens sind für Städte, Kulturdenkmäler, Landschaften, Natur und Klima massiv schädlich. Den Besucherinnen und Besuchern, die gerne fremde Städte und Länder erkunden, wird die Ausstellung «Über Tourismus» unter die Haut gehen.
Man muss nicht unbedingt nach Wien ins Architekturzentrum pilgern, um sich mit der Thematik zu beschäftigen. Die vom Zürcher Verlag Park Books herausgegebene Begleitpublikation enthält alle Informationen (und darüber hinaus lesenswerte Essays), die in Wien gezeigt werden. Doch das Buch ersetzt nicht das physische Erleben der Ausstellung, das ein zunehmend mulmiges Gefühl erzeugt.
Der Berichterstatter war zwei Wochen lang mit dem Velo unterwegs und betrat am Ende der Reise zufällig diese Schau, die ihm die Freuden des Erlebten etwas vergällte. Zwar trachteten die Ausstellungsmacher danach, nicht nur die negativen Folgen des massenhaften Reisens aufzuzeigen, sondern auch gelungene Projekte des sanften Tourismus vorzustellen. Doch insgesamt vermögen diese Bemühungen das Zerstörerische des weltumspannenden Fremdenverkehrs nicht zu neutralisieren.
Die Ausstellung ist in acht Themenblöcke gegliedert (was auch für die Publikation gilt), die da lauten: Hotel, Stadt, Dorf, Sonne, Natur, Reise, Alm, Plan. Am Versöhnlichsten lesen sich die Anmerkungen zum Bereich Hotel, auch wenn hier auf die Schwierigkeiten von Hotelbetreibern hingewiesen wird, die sich mit ständig wachsenden Ansprüchen der Kunden konfrontiert sehen. Auf der anderen Seite werden bemerkenswerte Beispiele von behutsamen Renovationen historischer Bauten gezeigt, die sich als Alternativen zum Urlaub in gewaltigen Resorts anbieten. Hier findet auch die schweizerische Aktion «Ferien im Baudenkmal» Beachtung, die inzwischen rund sechzig denkmalgeschützte Objekte für Ferien auflistet.
Brutal fällt hingegen die Analyse zu den Zweitwohnungen im Dorf beziehungsweise in der Stadt aus. Die sogenannten kalten Betten in den abgelegenen Siedlungen in den Alpen werden schon länger kontrovers diskutiert und führten etwa in der Schweiz, was die Schau dokumentiert, zu der 2012 angenommenen Zweitwohnungsinitiative zur Beschränkung des Baus solcher Immobilien.
Doch die Effekte gesetzlicher Beschränkungen werden durch die Folgen der 2008 gestarteten Vermietungsplattform Airbnb weit in den Schatten gestellt. Auf Karten von Wien und Paris wuchern deren Angebote wie Metastasen über das ganze Stadtgebiet. Die Folgen sind inzwischen bekannt: Verwandlung von bestehendem erschwinglichem Wohnraum in lukrative Gästezimmer und Verdrängung der ansässigen Bevölkerung aus den Zentren. Behördlich verordnete Einschränkungen haben nur minimal für Entlastung gesorgt.
Overtourism selbst in der «unberührten Natur»
Heutiger Tourismus geht einher mit Übernutzung. Bekannte Städte werden überflutet, was man als Overtourism bezeichnet. Was das heisst, erlebte der Schreibende (der sich ja selbst von dieser Welle treiben lässt) um den Wiener Stephansdom, wo teilweise kein Durchkommen möglich war. Die Menschenmassen schaden den Baudenkmälern, die auf keiner To-visit-Liste fehlen. Die Ausstellung diskutiert die berechtigte Frage, ob unter Umständen Kopien die Originale vor dem endgültigen Verfall retten könnten. Präsentiert wird der Neubau Lascaux IV des norwegischen Starbüros Snøhetta, in dem die Höhle mit den berühmten Malereien millimetergenau nachgebaut wurde.
Allerdings, im Falle des Stephansdomes dürfte dies selbstredend unmöglich sein, ausser man sei bald imstande, das originale Raumerlebnis mit einer 3D-Brille ununterscheidbar nachzubilden. Nutzungskonflikte gibt es mehr und mehr auch in der sogenannten unberührten Natur. Immer grössere Infrastrukturbauten erlauben die schnelle Erreichbarkeit von Gebieten, die bis anhin verschont waren, was in der Ausstellung unter dem Stichwort «Alm» besprochen wird. Vielen ist nicht bewusst, dass sie mit den vermeintlichen naturnahen Aktivitäten wie Wandern, Skitouren, Mountainbiken und Klettern nicht nur sensible Landschaften gefährden, sondern auch den Pflegern und Pflegerinnen solcher Areale, sprich den Landwirten, zusätzliche Arbeit verursachen, ohne dass diese dafür honoriert werden. Nicht alle haben die Chance, mit Besenbeizen ihr Einkommen aufzubessern.
Der Themenblock «Sonne» streift selbstverständlich die Klimakrise, die zu Gletscherschwund und Überflutungen führt und damit viele heute touristisch wertvolle Gebiete zum Verschwinden bringen wird. Wie Balsam für die inzwischen gequälte Seele des Reisenden wirken die Bemühungen in Valencia, wo im Siedlungsgebiet wie in der Umgebung Grünflächen angelegt wurden, oder das utopische Projekt Paris 2100, das die Metropole zu einem Paradiesgarten verwandeln möchte.
Im Kapitel «Plan» werden verschiedene Strategien zur Schaffung von «Urlaubsoasen» analysiert. Unzählige Beispiele dokumentieren eine chaotische Bauwut ohne Rücksicht auf die Ressourcen. Frankreich versuchte einen anderen Weg zu gehen. Seine zentralistische Vorgehensweise führte zu wuchtigen Hotel- und Apartmentkomplexen, die gewiss keine Zierden sind, die aber immerhin eine Zersiedlung vermeiden.
Als Gegenbeispiel wird Bhutan genannt, wo die Grenzen erst vor kurzem für Reisende geöffnet wurden. Um Exzesse zu unterbinden, plant man einen Ausbau in kleinen Schritten und in Einklang mit den örtlichen Gegebenheiten. Ob dies Bhutan gelingen wird, ist allerdings mehr als fraglich. Wie so oft, hat auch hier das Label Geheimtipp einen Boom ausgelöst.
Verblüffend hohe Umweltbelastung
All die Dilemmata, die mit dem Tourismus einhergehen, werden am Schluss unter dem Stichwort «Reise» zusamengefasst. Tourismus ist für viele Länder ein wichtiger Wirtschaftszweig geworden und damit unverzichtbar. Das Ende der Fahnenstange ist längst nicht erreicht, im Gegenteil. Als ob es Corona nie gegeben hätte, erklimmt die Branche jedes Jahr neue Rekordwerte. Sie ist für acht Prozent des weltweiten CO2-Ausstosses verantwortlich – Tendenz stark steigend. Als besonders problematisch gelten die Kreuzfahrten und die Flugreisen – das ist nichts Neues, aber verzichten möchte kaum jemand (der Schreibende eingeschlossen).
Eine Gegenüberstellung von zwei Familien in Bezug auf den jährlichen Energieverbrauch ergibt überraschend kontraintuitive Ergebnisse. Die eine Familie lebt bewusst umweltschonend in einem Haus mit bester Energieeffizienz, ernährt sich vegan, verzichtet auf ein Auto und kauft Kleider in Secondhandshops, leistet sich aber eine Reise nach Costa Rica. Das alleine genügt, dass sie in Bezug auf Energieaufwand die zweite Familie überholt, die zwei Autos besitzt, jeden Tag Fleisch isst, in einer schlecht isolierten Wohnung lebt, übermässigen Bildschirmkonsum vorweist und alljährlich mit dem Auto nach Italien in die Ferien fährt.
Das schlechte Gewissen können all diejenigen ablegen, die mit dem Rad unterwegs sind, am besten von zu Hause aus. In der Ausstellung wird das in der Tat verheissungsvolle Projekt Eurovelo propagiert, die Einrichtung von 17 Radwegen, welche den ganzen europäischen Kontinent abdecken. Wer trotz allem den bisherigen Fremdenverkehr fördern und weiterentwickeln möchte, soll das Buch «Über Tourismus» erwerben und genau studieren. Wetten wir, dass nicht wenige ihre Meinung ändern werden!
Ausstellung «Über Tourismus» bis 9. September im Architekturzentrum Wien
Begleitpublikation: Über Tourismus, Park Books, Zürich 2024