Das von unseren Medien vermittelte Bild von Diktaturen ist vormodern. Es folgt noch dem Muster von Gesellschaften, die von einem Zentrum aus regiert wurden. Entsprechend kommt es darauf an, den Diktator und seine Schergen zu beseitigen, um bessere - demokratische – Verhältnisse herbeizuführen. Leider aber funktionieren Gesellschaften nicht mehr nach diesem einfachen Muster. Diktaturen wirken wie Gifte, die den gesamten Organismus angreifen und nicht mehr von einem einzigen Punkt aus beseitigt werden können.
In seinem Beitrag für Newsweek (1) schildert Ai Weiwei die Umstände seiner Inhaftierung. Er ist an einen unbekannten Ort verschleppt und dort festgehalten worden. Er und seine Mithäfltinge hatten nur Nummern. Seine Frau hat täglich bei der Polizei angerufen, aber ihr wurde nicht gesagt, wo sich ihr Mann befindet.
Kein Ort, nirgends
Allein das ist das pure Grauen. Darüber hinaus aber schildert Ai Weiwei Peking als eine Stadt, die keinerlei Strukturen kennt, keine Orte und Plätze, an denen er sich aufhalten könnte. Sie ist ein trostloses Einerlei, bevölkert von Menschen, die von Angst getrieben sind und keinerlei Hoffnung mehr kennen. Eine Minderheit lebt im Luxus und wird durch keine moralischen Skrupel gebremst. Das ist die andere Seite der Diktatur.
Es gibt Gerüchte, nach denen der Befehl für die Inhaftierung Ai Weiweis gar nicht von der Führung der Partei kam, sondern von der örtlichen Polizeibehörde. Dort war man den Störenfried einfach leid. Man wollte endlich Ruhe. Die Polizisten vor Ort ahnten natürlich nicht, dass sie für einen internationalen Wirbel sorgten.
Ai Weiwei ist einem Millionenpublikum durch seine Blogs bekannt geworden. Sie wurden 2010 gesperrt. Inzwischen kann man die Blogs von 2006 bis 2009 auf Deutsch nachlesen (2). In seinen täglichen Eintragungen gibt Ai Weiwei Einblicke in die Wirkungsweise einer Diktatur, die eben nicht dem vereinfachten Bild entspricht, das uns die Medien vermitteln. Die Wirklichkeit ist viel schlimmer. „Wer unter unfairen Bedingungen arbeitet, kann nur missratene Dinge schaffen“, notiert er am 5. Februar 2008.
Müllhalde von Materialien
Das Wort „unfair“ klingt etwas harmlos, aber aus dem Kontext wird klar, dass es um eine Wirklichkeit geht, in der keine Regeln gelten. Im Klima der Willkür kann sich kein Mensch entfalten. Alle Menschen verkümmern und werden auch im moralischen Sinne schlecht. Ein paar Tage später notiert er in Gedenken an die vielen Kinder, die beim Erdbeben von 2006 ihr Leben verloren: „Diese Kinder haben uns verlassen, bevor sie lernen konnten, gleichgültig zu sein und zu betrügen.“
Wie wirkt die Diktatur auf die Seelen? In seinen Blogs von 2006 und 2007 beschäftigt sich Ai Weiwei immer wieder mit ästhetischen Fragen und Themen der Architektur. Welche Folgen hat das phantasielose, geradezu gewalttätige Bauen auf die Menschen? Pointiert formuliert er: „Wenn ein gebautes Objekt nicht von der Ehrfurcht des Bauherrn für das Unbekannte durchdrungen ist oder keinen höheren intellektuellen Anspruch in sich trägt, dann ist es lediglich eine Müllhalde von Materialien.“ (13. Januar 2006) Das klingt etwas überrissen und allzu anspruchsvoll, aber Ai Weiwei markiert damit genau den Punkt: Die kommunistische Partei hat im Namen höchster Ideale die radikalsten Massnahmen ergriffen. Daran muss sie sich messen lassen. Schon im November 1997 hat er notiert: „Die neuere chinesische Kultur verhöhnt den Wert des Individuums, sie ist vielmehr eine Geschichte der Unterdrückung der menschlichen Natur und Spiritualität.“ (gepostet am 23. Februar 2006)
Das Schlechteste am Menschen
Das ist der bittere Punkt: Diktaturen schaffen eine Kultur. Diese Kultur wird durch Behörden verbreitet. Behörden – das sind „Apparate“ ohne Leidenschaft. Sie funktionieren nach Trägheitsgesetzen. Dazu kommen die Mitläufer, die direkt und indirekt an ihnen hängen. Ursache und Wirkung sind nicht mehr linear in einer Richtung verbunden. Es gibt Wirkungsbündel von oben nach unten, von unten nach oben, seitwärts und rückwärts. In dieser Kultur wird das Schlechteste der Menschen herausgekitzelt und zur Norm gemacht. Wer dagegen anschreibt wie Ai Weiwei, ist zugleich Gefangener der diktatorischen Kultur. Sie gibt ihm die Themen vor. Und engt ihn damit ein.
In seinem Newsweek-Beitrag schreibt Ai Weiwei, dass ihn die vergangenen Wochen in er Haft innerlich zerstört haben. Und dieses Werk der Zerstörung, das er schon als junger Mensch in der Verfolgung seines Vaters und seiner Familie während der sogenannten Kulturrevolution erlebt und das er später auch aus der Perspektive seiner amerikanischen Erfahrungen beschrieben hat, sieht er jetzt, noch bedrängender als zuvor, in Peking. Eine verlorene Stadt mit verlorenen Menschen in einer verlorenen Zeit.
Das europäische Erbe
Dieses Geschehen ist so fundamental, dass die Signatur „diktatorische Partei“ oder „diktatorische Clique Ewiggestriger“ am Problem vorbei geht. Auch China erlebt eine „Modernisierung“ und die Neureichen dort unterscheiden sich in ihrem Gebaren nicht so fürchterlich von denen in anderen Regionen und Städten. Und Schergen, die einsperren und foltern und in ihrem Tun nur eine Notwendigkeit erkennen können, gibt es überall auf der Welt.
Das ist das eigentlich Erschreckende an den Botschaften Ai Weiweis: China ist nicht exotisch. Es geht uns mehr an, als uns lieb sein kann. In seinem Beitrag für Newsweek bezieht er sich auch auf Franz Kafka. Europa und überhaupt der Westen, das betont er in seinen Blogs immer wieder, hat unerbittliche Vorbilder geliefert – Träume und Albträume.
(1) Beitrag von Ai Weiwei auf der Website von Newsweek s. Link unten
(2) Ai Weiwei, "Macht Euch keine Illusionen über mich." Der verbotene Blog, Verlag Galiani Berlin 2011