„Ein Erdbeben“ werden die Europawahlen auslösen, prophezeit Steve Bannon. „Wir werden Europa aus den Angeln heben“, sagt der Italiener Matteo Salvini. Droht also „die Demontage des politisch Besten, was dieser Kontinent im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat“ (Süddeutsche Zeitung)?
Sie verkaufen sich gut, die Rechtspopulisten. Und viele Medienvertreter spielen das Spiel mit. Vor dem Hotel Bristol in Paris, wo Bannon in einer 8’000 Euro-Loge pro Nacht residiert, stehen die Journalisten Schlange und buhlen um Interviews. Kritische Fragen werden kaum gestellt. Salvini hat schon eine rechtspopulistische „Nationalistische Internationale“ proklamiert. Er lud die rechten Gesinnungsgenossen zu einem Stelldichein nach Mailand ein. Und die Fotografen knipsten und knipsten. Ein Schwergewicht aus Österreich fehlte.
Medienrummel
Das Dilemma ist immer das Gleiche: Soll man über jede Zuckung der Rechtspopulisten schreiben, weil man fürchtet, dass sie stark werden? Oder werden sie stark, weil man über jede Zuckung schreibt? Natürlich kann man das Problem der Rechtspopulisten nicht lösen, indem man es einfach ignoriert. Aber vielleicht sollte man in der Berichterstattung doch die Proportionen wahren.
Trotz des Medienrummels: Bleiben wir auf dem Boden. Ein Erdbeben werden die Europawahlen nicht auslösen. Die EU wird nicht untergehen.
Ein Drittel aller Sitze?
Das EU-Parlament in Strassburg zählt 705 Sitze (mit Grossbritannien 751). Laut Umfragen werden die europäischen Rechtspopulisten maximal 25 Sitze dazugewinnen. Sie kämen dann im äussersten, aber eher unwahrscheinlichen Fall auf ein Drittel aller Sitze – oder gar auf etwas mehr. Das mag auf den ersten Blick erschrecken. Auf den zweiten Blick ist es nicht dramatisch.
Erstens sind die Populisten weit von einer Mehrheit entfernt, um etwas bewegen zu können. Zweitens sind sie alles andere als ein homogener Block. Was sie eint, ist das populistische Gepolter gegen Brüssel, gegen die Eliten, gegen die Flüchtlinge, gegen die Muslime, gegen den Klimawandel. Doch das sind Schlagworte. Wenn es konkret wird, herrschen völlig unterschiedliche Vorstellungen vor. Es wäre erstaunlich, wenn sich die verschiedenen rechtspopulistischen Parteien auf eine Fraktionsgemeinschaft einigen könnten.
Ein wilder Haufen
Dazu kommt: Europas Populisten sind ein wilder Haufen, angeführt von Egomanen, Pfauen und Selbstdarstellern. Am gleichen Strick ziehen sie nur auf Wahlkampffotos. Bei den wichtigen Themen sind sie sich uneinig. Hahnenkämpfe sind programmiert und haben bereits begonnen.
Salvini will die Flüchtlinge auf Europa verteilen, andere Populisten wie Viktor Orbán wollen das nicht. Salvini will noch mehr Schulden machen, die schwedischen und finnischen Populisten sind dagegen. Die FPÖ und die italienische Lega wollen engere Beziehungen zu Russland, was die Polen kategorisch ablehnen. Auch beim Thema Protektionismus gehen die Ansichten weit auseinander.
Pro-EU-Stimmung
Bei der Frage, ob man den Euro abschaffen will, herrscht ein Hin und Her. Einmal will man, dann wieder nicht. Vor nicht allzu langer Zeit forderten die Populisten, dass man aus der EU austreten und sie ganz demolieren soll. Es ist ja auch seltsam: Man wollte die EU abschaffen, bewarb sich aber um Sitze in dem Parlament, das man abschaffen will. Meinungsumfragen in den verschiedenen Ländern zeigen allerdings eine eher Pro-EU-Stimmung.
Es gehört zum Populismus, dass man schnell auf Stimmungen im Volk reagiert. Deshalb liess man nun nach einer Kehrtwende die Forderung eines EU-Austritts fallen. Bannon hat jetzt das neue Wording ausgegeben: Wir wollen die EU nicht abschaffen, aber sie von innen reformieren. Konkret heisst das: die Brüsseler Behörde soll liquidiert und „ein Europa der Vaterländer“ geschaffen werden. Wie sagte er einst: „I want to bring everything crashing down, and destroy all of today’s establishment.“
Test für nationale Wahlen
Bisher haben die Rechtspopulisten im Europa-Parlament wenig bewirkt. Ausser grossen Worten haben sie nichts geliefert. Das wird wohl so bleiben. Sie werden poltern, doch wer hört den Debatten des Strassburger Parlaments schon zu?
So ungern man das in Brüssel und Strassburg hört: Den meisten Parteien, auch den populistischen, ist das Europa-Parlament ziemlich egal. Wichtig sind die Europa-Wahlen nicht wegen Europa, sondern aus innenpolitischen Gründen: Sie sind ein Stimmungstest in den einzelnen Ländern, ein Barometer für das politische Klima. Wenn Salvinis Lega klar zulegt, kann das durchaus innenpolitische Konsequenzen haben. Salvini könnte dann die Zwangsehe mit den Cinque Stelle aufkündigen und Neuwahlen ausrufen.
Elitäre Käseglocke
Doch auch wenn der Einfluss der Populisten beschränkt bleibt: einfach zur Tagesordnung übergehen sollte man nicht. Die Sozialdemokraten, die Liberalen und die Christdemokraten waren bisher unter einer eher elitären Käseglocke gefangen. Sie gefielen sich in der Rolle, alles und jedes, was die Populisten ansprachen, reflexartig als unappetitlich zu brandmarken, anstatt sich zu fragen: Weshalb legen die Populisten zu? Welche Ängste treibt die Menschen an, für sie zu stimmen?
Doch die Populisten manövrieren sich selbst ins Abseits mit ihren kruden, teils rechtsextremen, rassistischen, teils antisemitischen und tatsächlich unappetitlichen Vorstellungen. So machen sie es den etablierten Parteien einfach, sie zu diskreditieren.
Der Brexit – abschreckende Beispiel
Nicht nur in Brüssel weiss man längst, dass die EU reformiert werden muss. Etwas weniger Regulierungseifer und etwas weniger Uniformierungstempo täte der Organisation gut. Dass es Rückschläge gibt, ist normal. Ein solch riesiges Gemeinschaftsprojekt wird nicht in einer oder zwei Generationen verwirklicht.
Man hat befürchtet, dass der Brexit einen Domino-Effekt auslöst und andere Staaten veranlassen könnte, mit einem Austritt aus der EU zu liebäugeln. Nichts ist passiert. Im Gegenteil: Der Brexit ist heute ein abschreckendes Beispiel für jene, die einmal an einen Austritt gedacht haben.
Schuss vor den Bug
Es gehört zur Natur der Sache, dass wenn man angegriffen und bedroht wird, näher zusammenrückt. Der Vormarsch der Populisten könnte also durchaus etwas Gutes haben: er ist ein Schuss vor den Bug. Er rüttelt die EU auf, um die nötigen institutionellen Reformen voranzutreiben und die europäischen Probleme nicht nur mit Phrasen anzugehen. Gelingt dies, geht die EU gestärkt aus den Europawahlen hervor – trotz oder gerade wegen des Vormarsches der Populisten.
Die EU wird nicht untergehen, eine Alternative zu ihr gibt es nicht – ausser für die Schweiz. Kaum jemand denkt heute in unserem Land an einen EU-Beitritt. Wir fahren gut mit den bilateralen Verträgen.
Die Hunde bellen
Inzwischen haben es fast alle gemerkt: China wird wirtschaftlich immer bedrohlicher, Russland zündelt, und aus dem Weissen Haus kommen unangenehme Botschaften – das erfordert ein starkes, geeintes Europa. Die EU-Staaten stehen nun unter Druck, sich zusammenzuraufen. Und Probleme löst man vor allem unter Druck.
Wie heisst das Sprichwort: Die Hunde bellen und die Karawane zieht weiter. Die Salvinis, Le Pens und Bannons bellen und poltern – und die EU-Karawane wird weiterziehen. Vielleicht sogar gestärkt.