Ende November ist es in Nasiriya (Nāṣiriyya) bei Demonstrationen auf dem Habubi-Platz zu heftigen Zusammenstössen gekommen. Mehrere Todesopfer sind zu beklagen, Dutzende wurden verletzt. Während die Berichterstattung meist auf die Demonstrationen in Bagdad fokussiert, ist die südirakische Stadt Nasiriya bereits Anfang Jahr zu einer Protesthochburg aufgestiegen. Die Stadt am Euphrat mit gut einer halben Million Einwohnern steht seit langem im Ruf, besonders rebellisch zu sein.
Auch bei den Aufständen 1991, die vom Regime von Saddam Hussein niedergeschlagen wurden, bildete Nasiriya ein wichtiges Zentrum. Die heutigen Proteste haben aber wohl mehr mit der Unzufriedenheit der Bevölkerung und der Dauervernachlässigung durch die Zentralregierung zu tun als mit der vielbeschworenen Aufstandstradition der Stadt.
Corona als Brandbeschleuniger
Die Corona-Pandemie hat die bereits zuvor schwierige Lage weiter verschärft. Der Irak ist mit der höchsten Zahl von Infektionen und den meisten Toten in der arabischsprachigen Welt besonders hart betroffen. Dafür mag die Verflechtung mit Iran mitverantwortlich sein, der ebenfalls stark unter der Pandemie leidet. Doch spielt vor allem das tiefe Misstrauen der Bevölkerung gegenüber dem staatlichen Gesundheitswesen eine gewichtige Rolle. Das Vertrauen in den Staat und das irakische Gesundheitswesen ist durch eine seit den 1990ern andauernden Welle von Krebserkrankungen und das damit verbundene komplette Scheitern der medizinischen Versorgung tief erschüttert. Die alternativen Netzwerke und Strategien, mit denen die Bevölkerung die medizinische Versorgung seither selber organisiert, werden in Corona-Zeiten nun aber zum Problem und behindern eine wirkungsvolle Reaktion auf die Pandemie. Hinzu kommt die schon zuvor katastrophale Wirtschaftslage. Angesichts dieser schwierigen Situation erstaunt es keineswegs, dass es wieder vermehrt zu Protesten kommt. Doch gibt es noch weitere Gründe für die Eskalation in Nasiriya.
Premierminister unter Druck
Der Zeitpunkt der Proteste orientiert sich am Jahrestag der Gewalt auf der Zeitun-Brücke in Nasiriya. Hier wurden vor einem Jahr, als die Proteste an Bedeutung gewannen, mehrere Dutzend Demonstrantinnen und Demonstranten durch Milizen getötet, worauf sich die Protestcamps auf den Habubi-Platz verschoben. Anfang Jahr, nachdem die Gewalt gegen die Proteste in Bagdad zugenommen hatte, wurde Nasiriya von den Demonstranten in verschiedenen Städten symbolisch zur Hauptstadt der Proteste ernannt.
Was sich seither verändert hat, ist die Strategie der Regierung gegenüber den Protesten. Der neue Premierminister Mustafa al-Kadhimi hat sich mehrmals positiv zu den Demonstrationen geäussert. Deren Forderungen kommen ihm nicht ungelegen, richten sie sich doch nicht nur gegen die korrupte Politik, sondern auch gegen die mächtigen schiitischen Milizen, die für einen grossen Teil der Gewalt gegen die Demonstranten verantwortlich gemacht werden. Zwischen diesen Milizen und Kadhimi ist längst ein Machtkampf entbrannt.
Unter Kadhimi wird zum ersten Mal ernsthaft versucht, die Milizen unter staatliche Kontrolle zu bringen. Bisheriger Höhepunkt dieser Konfrontation war der Grossaufmarsch bewaffneter Kämpfer in Bagdad, um zuvor verhaftete Mitglieder ihrer Gruppierungen freizupressen – mit Erfolg, die Regierung musste einlenken. Eine ähnliche Machtdemonstration gegenüber Kadhimi lieferten die Milizen im Oktober in Bagdad, als Kadhimi die nach einer pandemiebedingten Pause wiederaufgenommenen Demonstrationen lobte und ihnen Sicherheit versprach. Kurz darauf wurden die Demonstrantinnen und Demonstranten von Kämpfern der Milizen angegriffen, die Proteste aufgelöst – ein Rückschlag nicht nur für die Proteste, sondern auch für den Premierminister.
Südliche Sezessionsbestrebungen
Nicht nur die Bevölkerung Nasiriyas ist unzufrieden, auch in der lokalen Politik mehrt sich der Widerstand gegen die Regierung in Bagdad. Die Gouvernements Dhi Qar (dessen Hauptstadt Nasiriya ist), Maysan und Basra haben jüngst die Idee einer Regionenbildung aufgebracht. Im Irak können sich Gouvernements selbstständig zu Regionen zusammenschliessen und so ihre Autonomie stärken. Die Idee einer solchen südlichen Region ist nicht neu, die drei Gouvernements haben sie in den vergangenen Jahren mehrfach diskutiert. Vielfach wird sie als «schiitische Region» gesehen, ist doch der Süden des Landes schiitisch geprägt und die Vorstellung, dass der Irak entlang konfessioneller Bruchlinien zerfallen könnte, bestimmt die Wahrnehmung der irakischen Politik, Gesellschaft und Kultur.
Doch eine solche Deutung trifft für dieses Projekt nicht zu. Das sieht man vor allem daran, dass die Gouvernements Najaf und Kerbala, die beiden wichtigen schiitischen religiösen Zentren, nicht Teil der geplanten Region sind. Vielmehr fühlen sich die beteiligten Gouvernements von der Zentralregierung in Bagdad vernachlässigt. Besonders Basra, eine der grössten irakischen Städte und Handels- und Erdölzentrum, ächzt unter einer katastrophalen Infrastruktur, obwohl ein Grossteil der staatlichen Einnahmen aus dem Süden stammen. Die angedrohte Regionenbildung ist denn (ungeachtet der alten Konkurrenz zwischen Bagdad und Basra) in erster Linie ein Mittel, um Druck auf die Regierung auszuüben, damit diese die Situation im Süden verbessert.
Sadrs Wende
Eine Bruchlinie verläuft also zwischen der Regierung und Demonstrantinnen und Demonstranten, eine weitere zwischen Zentralstaat und regionaler Autonomie. Ein dritter Konflikt, der sich in Nasiriya zeigt, ist zwischen den Protesten und den Sadristen, den Anhängern des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadr, aufgebrochen. Die jüngste Gewalt in Nasiriya gegen die Proteste ging denn auch von Sadristen aus, die ihrerseits eine grosse Demonstration abhielten.
Das Verhältnis Sadrs zu den Protesten hat im vergangenen Jahr einen radikalen Wandel durchlebt. Zunächst unterstützte Sadr die Protestcamps und die Anwesenheit seiner Anhänger bot den Demonstranten einen gewissen Schutz vor Übergriffen durch Milizen und Sicherheitskräfte. Doch die Demonstrantinnen und Demonstranten machten in ihrer Kritik am politischen Establishment auch vor Sadr nicht Halt. Da es Sadr in der Folge nicht gelang, die Proteste unter eigene Kontrolle zu bringen, wandte er sich von ihnen ab und zog Ende Januar 2020 seine Anhänger von den Protestcamps ab. Das war das Signal für andere Milizen, gewaltsam gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vorgehen zu können, und auch die Sadristen selber waren nun an der Räumung von Protestlagern beteiligt.
Die Joker von Nasiriya
Die Proteste fordern Sadrs Selbstdarstellung als zentrale Oppositionskraft heraus. Hatte er bei den Wahlen 2018 die Unzufriedenheit mit der Regierung noch kanalisieren und zu Wahlerfolgen ummünzen können, gilt er den Demonstrantinnen und Demonstranten heute selber als Teil des Systems, gegen das sie sich wenden. Damit verliert Sadr ein Druckmittel gegenüber etablierten politischen Parteien. Doch bedrohen die jüngsten Ereignisse Sadrs Position noch grundsätzlicher, wie seine Bezeichnung der Demonstranten als «Muqallidīn al-Joker» zeigt. Damit spielt er auf die Gesichtsbemalung aus dem Hollywood-Film «Joker» von 2019 an, die sich an den Protesten grosser Beliebtheit erfreut. «Muqallidīn» bezeichnet bei den Schiiten die Anhänger einer religiösen Autorität; es sind seine eigenen Muqallidīn, seine Anhänger, auf die Sadr seine Macht stützt.
Die Demonstrantinnen und Demonstraten werden gewissermassen als konfessionslose Gesellen diffamiert, die sich keiner religiösen Autorität zugehörig sehen. Damit lassen sie sich schnell als «Chaoten» abkanzeln. Der Grund für diese heftige Reaktion dürfte mit den Berichten zusammenhängen, wonach sich in der Folge der Gewalt in Nasiriya erstmals Risse auftun in den Reihen der Sadristen. Einzelne Gruppen scheinen sich sogar von Sadr loszusagen und ihm vorzuwerfen, mit der Gewalt gegen Zivilisten das Erbe seines Vaters verraten zu haben – eine vernichtende Kritik, ist es doch genau die religiöse Autorität seines Vaters Muhammad Sadiq al-Sadr, auf die der junge und nach Massstäben der schiitischen Geistlichkeit wenig etablierte Muqtada al-Sadr seine Legitimation abstützt. Während also die Demonstrationen das Monopol Sadrs auf Opposition gegenüber der Regierung untergraben, bindet ihm die zunehmende Kritik aus den eigenen Reihen die Hände für ein weiteres Vorgehen. Die aktuellen Ereignisse dürften die Position Sadrs mit Blick auf die für Mitte 2021 geplanten vorgezogenen Parlamentswahlen also schwächen.
Iraks schwelende Konflikte
Der Irak wurde lange (und wird auch heute teilweise noch) anhand der Spaltung der Bevölkerung in Schiiten, Sunniten und Kurden erklärt. Spätestens seit 2019 haben die Protestbewegungen, die grösstenteils von Schiiten getragen werden und sich gegen die schiitisch dominierte Regierung richten, dieses Bild ins Wanken gebracht und durch dasjenige der Konfrontation von Elite und Bevölkerung ersetzt. Doch die Ereignisse in Nasiriya erinnern daran, dass die schwelenden Konflikte im Irak wesentlich vielschichtiger sind, als es ein simpler Dualismus abzubilden vermag. Sie illustrieren die Instabilität einer Situation, in der kein Akteur stark genug ist, seine Interessen einseitig durchzusetzen. Dieser Zustand kann zwar jederzeit in Gewalt umschlagen. Als Ausblick auf die 2021 anstehenden Wahlen muss er aber nicht nur von Nachteil sein, sind doch alle Akteure gezwungen, Kompromisse zu schliessen und Allianzen zu schmieden. Dies könnte die Akzeptanz allfälliger Veränderungen oder gar Reformen erhöhen.
Die Demonstrantinnen und Demonstranten sind derweil, trotz der Gewalt, zurück auf dem Habubi-Platz. Nasiriya scheint Protesthauptstadt bleiben zu wollen.