Als der nationale Versöhnungskongress Jemens nach einjährigen Diskussionen Anfang dieses Jahres zu Ende ging, sahen die meisten Beobachter in der Frage des südlichen Strebens nach Autonomie oder Unabhängigkeit das schwierigste und explosivste der vielen ungelösten Probleme, die es nach dem Versöhnungskongress zu lösen galt. Die südliche Frage ist in der Tat bis heute ungelöst geblieben. Doch es ist der nördliche Aufstand der sogenannten Huthis, der sich seit Februar als der gegenwärtig gefährlichste der innerjemenitischen Kriege entpuppt. Der Übersicht halber seinen hier die verschiedenen Kriege aufgezählt.
Südjemen fordert Unabhängigkeit
Der erste Krieg: Aden und grosse Teile des jemenitischen Südens bestehen weiter darauf, entweder voll unabhängig oder autonom zu werden. Ihre Unabhängigkeitsbewegung «Hirak», versucht dieses Ziel auf friedlichem Weg zu erreichen. Doch ziviler Ungehorsam und Demonstrationen, immer wieder auch blutiger Natur, gehören zu den wichtigsten Instrumenten, mit denen dieses Ziel erreicht werden soll. Die südlichen Landesteile fühlen sich durch das Zentrum von Sanaa nicht ohne Grund unterdrückt.
Nordjemen sucht Autonomie
Zweiter Konfliktherd: Der Norden mit seiner gegenwärtigen Hauptstadt Saada steht seit 2004 im Kampf gegen Sanaa. Der Widerstand wird getragen durch die dort heimischen Zaiditen. Diese sind eine der verschiedenen Varianten des Schiismus, sogenannte Fünfer Schiiten (die Iraner sind Zwölfer, und es gibt auch die Siebner – die Zahlen beziehen sich auf die von den jeweiligen Gruppen anerkannten Imame). Bis zum Jahr 1962 haben zaiditische Imame Nordjemen beherrscht. Huthi ist der Name des wichtigsten Clans, der die Rebellion gegen Sanaa anführt. Die Aufständischen selbst nennen sich «Ansar Ullah» (Helfer Gottes).
In den letzten Jahren ist es den Huthis gelungen, ihre Herrschaft über die nördliche Provinz Saada und deren gleichnamige Hauptstadt auszudehnen. Ihr Krieg gegen die jementische Armee hat viele Tausende von Menschenleben gekostet. Er konnte nie ganz beendet werden. Es gab viele Waffenstillstände und sogar Friedensverträge, aber auch stets neue Ausbrüche des «Huthi Krieges». Die Saudis, Nachbarn an der nördlichen Grenze Jemens, sind bittere Feinde und Gegner der Huthis. Sie sind der Ansicht, Iran unterstütze den Kampf seiner schiitischen Vettern im Jemen.
Al-Kaida strebt nach einem Islamischen Staat
Der dritte Konflikt: Al-Kaida auf der Arabischen Halbinsel (AQAP in der amerikanischen Militärsprache) hat in den südöstlichen jemenitischen Wüsten Obdach gefunden. Die Kaida-Aktivisten werden von der jemenitischen Armee mit amerikanischer Unterstützung bekämpft. AQAP-Bombenfachleute haben mehrmals versucht, Terrorattentate in den USA durchzuführen. Sie wurden vereitelt, doch die Gefahr von weiteren Attentatsversuchen besteht fort.
Die Amerikaner setzen Drohnen ein. Diese töten bekanntlich nicht nur Terroristen sondern auch Zivilisten. Wie viele von jeder Sorte, ist je nach den befragten Quellen sehr unterschiedlich. Doch als Faktum muss gelten, die Drohnen machen die Amerikaner nicht nur bei den Terroristen, sondern auch bei der Zivilbevölkerung verhasst. Dies wirkt sich auf die Rekrutierungsmöglichkeiten von AQAP aus.
Von der jemenitischen Armee erwarten die Amerikaner, dass sie die Stiefel auf dem Territorium liefere, die es braucht, um zu verhindern, dass die AQAB-Aktivisten in die bewohnten Gebiete eindringen und die dortige Bevölkerung beherrschen. Dies hat die jementische Armee mit amerikanischer Hilfe und mit Unterstützung von Stammeskämpfern im Sommer 2012 erfolgreich getan. Sie vertrieb AQAB aus allen Ortschaften der südlichen Proviz Abyan (östlich von Aden), wo sie sich in den Jahren zuvor festgesetzt hatte. Die Terroristen mussten sich in die nordöstliche Wüste zurückziehen.
Doch seither haben die AQAB-Terroristen die jemenitische Armee und die jemenitischen Sicherheitsoffiziere als Hauptziel aufs Korn genommen. Sie haben viele empfindliche Selbstmordanschläge und Überfälle auf Soldaten und Offiziere durchgeführt. Tendenz steigend. Die amerikanischen Fachleute sehen dies als eine beunruhigende Entwicklung, weil ihre Politik des Kampfes gegen AQAP in Jemen auf der Mitarbeit der jemenitischen Armee beruht, die sie beraten und ausrüsten.
Machtringen in Sanaa: GPC gegen «Islah»
Und schliesslich die vierte Auseinandersetzung: Das innenpolitische Ringen ist zurzeit kein Krieg, war es aber vor dem nationalen Versöhnungskongress, als Bewaffnete beider Seiten in diesem Ringen verschiedene Teile von Sanaa beherrschten und gelegentlich aufeinander das Feuer eröffneten. Dies könnte auch wieder geschehen. Es geht darum, dass der abgesetzte Präsident und langjährige Herrscher des Landes, Ali Saleh Abdullah, noch immer in Sanaa lebt, weiterhin über Truppen verfügt, die ihm und seinen Söhnen zugeneigt sind. Der alte Herrscher wirkt auch immer noch als der Vorsitzende seiner früheren Staatspartei, des Allgemeinen Volkskongresses (GPC).
Generalsekretär dieser Volkspartei ist sein Nachfolger und früherer Vizepräsident, der gegenwärtige Präsident, Abd Rabbo al-Hadi. Die einstige zahme Oppositionspartei, die sich «Islah» (Reform) nennt, hat sich seit der Absetzung des früheren Präsidenten von diesem losgesagt und wirkt gegenwärtig als eigenständige Opposition. Ein Hauptbestandteil von Islah sind islamistische Salafisten, die dem saudischen wahhabitischen Islam nahestehen. Sowohl die Partei des ehemaligen Staatschefs, wie auch Islah verfügen über verbündete Stämme. Diese sind in Jemen bewaffnet und bilden eine Art von zweiter Armee oder Volksmiliz.
Wo stehen die Soldaten?
Das Machtringen zwischen diesen beiden Gruppierungen wickelt sich auch und in erster Linie innerhalb der regulären Armee ab. Es geht darum, möglichst viele, wenn nicht alle Armeeeinheiten auf die eine oder die andere Seite zu bringen. Präsident al-Hadi war ursprünglich offiziell neutral zwischen den beiden heute rivalisierenden Gruppen, welche die Bezeichnungen «Volkskongress» und «Islah» tragen.
Doch der Präsident hat es unternommen, schrittweise die entscheidenden Einheiten, die zu Ali Saleh und seinen Söhnen hielten und von diesen Söhnen kommandiert wurden, aufzulösen und umzuteilen, so dass sie unter neue Kommandanten kamen. Dies gelang ihm soweit, dass er schlussendlich den Sohn des Ex-Präsidenten, der mit der Präsidialgarde die bis dahin stärkste Elitetruppe kommandierte, als Botschafter nach Abu Dhabi entsenden konnte.
Doch die alten Loyalitäten dieser Elitetruppe scheinen noch nicht völlig erloschen zu sein. In Jemen kommt es immer wieder vor, dass die Soldaten ihre Kommandanten absetzen. Im allgemeinen führt das zu Verhandlungen mit der Regierung und zur Ernennung neuer Kommandanten, um Blutvergiessen innerhalb der Armee zu vermeiden.
Mitte Juni dieses Jahres gab es so etwas wie einen Putschversuch zugunsten des früheren Präsidenten. Bewaffnete sammelten sich in der gewaltigen Prachtmoschee, die Ali Saleh zu seiner Zeit in Sanaa hatte errichten lassen. Al-Hadi bekam Wind davon und liess die Moschee von seinen Präsidialwächtern und Panzern umstellen. Es kam zu keinen Kämpfen, nur zu Verhandlungen. Der vermutete Putsch wurde vereitelt. Da er nicht stattfand, blieb auch unklar, wie weit er eine echte Bedrohung dargestellt hatte.
Der Abgesandte der Uno, Benomar und mit ihm die Golfstaaten, stehen hinter al-Hadi und seiner erhofften Neuordnung des Landes. Benomar sieht Ali Saleh Abdullah als ein Haupthindernis, das dieser Neuordnung entgegensteht. Benomar geniesst ein grosses Prestige, weil er den Dialogkongress angeregt, begleitet und zu einem als erfolgreich geltenden Abschluss gebracht hat.
Die gegenwärtige Offensive der Huthis
Zurück zu den Huthis: Diese nahmen an dem Versöhnungskongress teil. Während er andauerte, herrschte ein Waffenstillstand mit der jemenitischen Armee. Es gab allerdings dennoch Kämpfe in Nordjemen. Doch diese spielten sich ab zwischen den Huthis und bewaffneten «Studenten» (Taliban) der grossen Madrasa von Dammaj in Nordjemen. Die Huthis betrachteten diese Studenten als Instrumente Saudi Arabiens, belagerten die Madrasa und erreichten schliesslich, dass die dortigen Bewaffneten abzogen, vermutlich Richtung Norden.
Der Versöhnungskongress, der im vergangenen Januar zu Ende ging, konnte keine für alle Teilnehmer annehmbare Lösungen finden, weder für das Problem des sezessionswilligen Südens noch für das der Huthis. Es gab bloss eine verbale Lösung. Der Kongress bestimmte, Jemen solle dezentralisiert werden und überliess die Einzelheiten darüber, wie weit und in welcher Art, einer Kommission, die al-Hadi ernennen sollte. Die Kommission trat kurz nach dem Abschluss des Kongresses zusammen. Sie beschloss, Jemen solle ein föderaler Staat werden, bestehend aus sechs föderalen Regionen. Eine Karte, wie dies aussehen soll, existiert. Doch weiter scheint man nicht gekommen zu sein.
Sechs Regionen statt drei Länder
Sowohl die Südländer wie auch die Huthis widersprachen dem Plan. Sie machen geltend, er sei ohne ihre Zustimmung formuliert worden, obwohl zu den Regeln des Nationalen Versöhnungskongresses gehörte, dass nur Beschlüsse Gültigkeit haben sollten, denen alle Beteiligten zustimmten.
Die Südländer waren in unterschiedliche Gruppen gespalten, und einige von ihnen, die Präsident al-Hadi nahe stehen, stimmten der neuen Regelung zu. Einer der Hauptdelegierten der Huthis an dem Kongress, der Rechtsgelehrte Ahmed Sharaf ad-Din, wurde unmittelbar vor Kongressende in Sanaa ermordet. Täter unbekannt; die Huthis vermuten, ihre Gegner, die Islah-Politiker, steckten dahinter. Dies war bereits der zweite Vertreter der Huthis an dem Kongress, der ermordet wurde. Auch waren schon im Juni zuvor Huthis in Sanaa mit der dortigen Polizei blutig zusammengestossen.
Die Huthi-Delegation zog nach dem Mord aus Sanaa weg. Die geplante föderale Lösung goss Öl in das durch diese Entwicklungen bereits brennende Feuer. Sie sah nämlich vor, dass unter den sechs geplanten Teilstaaten einer im Norden zu bilden wäre, nämlich in der heutigen Provinz von Saada, wo die Huthis ohnehin herrschen. Andere Regionen, in denen ebenfalls Zaiditen leben, würden abgetrennt und zu zwei weiteren Teilstaaten geschlagen. Ein vierter «Staat», südlich angrenzend, würde Sanaa als Zentrum erhalten. Auch er würde eine zaiditische Minderheit enthalten. Der Süden würde auch in zwei Teile getrennt.
Widerstand gegen die geplante Föderation
Die Huthis sind der Ansicht, dies würde Jemen in arme und reiche Teilstaaten aufteilen, und sie würden den ärmsten von allen erhalten. Um diesen Plänen zuvorzukommen, eröffneten sie eine Offensive nach Süden in Richtung Sanaa. Diese begann im Februar. Sie wurde mehrfach durch Waffenstillstände unterbrochen, doch lebten die Kämpfe jeweils wieder neu auf.
Gegenwärtig ist die Huthi-Offensive soweit vorangekommen, dass sie die Stadt Amran, etwa 50 Kilometer nördlich von Sanaa, am 8. Juli einzunehmen vermochte. Sanaa hatte die Luftwaffe eingesetzt, um die Eroberung der Stadt zu verhindern. Bombardierungen hatten zu schweren Verlusten für die Kämpfer geführt. Ein Waffenstillstand war abgeschlossen worden, einer von vielen. Er brach zusammen, und es gelang den Huthi-Kämpfern, in die Stadt einzudringen und das Hauptquartier der Panzerbrigade 310, das in Amran lag, zu erobern.
Diese Brigade war die wichtigste Einheit der regulären Armee, die den Huthis Widerstand geleistet hatte. Doch wie immer im Jemen gab es auch irreguläre Stammeskämpfer, die zur Unterstützung der regulären Truppe beigezogen wurden. Sie gehören zu der den Huthis feindlich gesinnten al-Hashed-Stammesföderation, deren führende Ahmar-Familie der Islah nahesteht.
Flüchtlingswelle aus Amran
Amran hat ungefähr 120’000 Bewohner. Nach den Angaben des Jemenitischen Roten Kreuzes sind etwa 10’000 Familien aus der Stadt geflohen, um den dortigen Kämpfen zu entkommen, das dürfte beinahe die Hälfte der Einwohner ausmachen. Einige Vortruppen der Huthis sollen in der vergangenen Woche bis in die Nähe des Flughafens von Sanaa vorgestossen sein.
Dass die Hauptstadt von den Huthis eingenommen werden könnte, ist nicht zu erwarten. Doch ihr Vordringen in die Nähe von Sanaa dürfte bedeuten, dass die jementische Armee mehr von ihren Elite-Einheiten für den Kampf im Norden wird einsetzen müssen. Was wahrscheinlich heisst, dass diese aus dem Krieg gegen al-Kaida abgezogen werden müssen – eine Entwicklung, die den amerikanischen Sicherheitsstrategen ohne Zweifel wenig gelegen kommt.
Im Jahr 1948, nach der Ermordung des zaiditischen Imams al-Yahya und der Ausrufung eines kurzfristigen Gegen-Imamates unter der al-Wazir Familie, haben zaiditische Stammeskrieger Sanaa unter der Führung Ahmeds, des Sohns des ermordeten Imams, zurückerobert und ausführlich geplündert. Ahmed wurde Imam, der zweitletzte Jemens, doch er hielt Hof in Taez, weiter im Süden, weil er die Rache der 1948 geschändeten Bewohner von Sanaa befürchten musste. All dies ist unvergessen in Sanaa.
Gibt es noch eine Verhandlungslösung?
Benomar, der Sonderbeauftragte der Uno, hat betont, eine Friedensregelung für den Norden müsse ausgearbeitet werden. Nur so kann man hoffen, dass dieser Krieg beigelegt wird. Die Regelung müsste so aussehen, dass die Zaiditen alle jene Regionen zu ihrem Teilstaat zusammenfassen könnten, in denen zaiditische Mehrheiten leben. Doch dies stösst auf Widerspruch der salafistischen Islamisten von Islah, die von Saudi Arabien gestützt werden und gegen die «Ausdehung des Schiismus» (gleich welcher Färbung) ankämpfen wollen.
Sie und die Saudis werfen Teheran vor, seine Revolutionswächter steckten hinter den Zaiditen und ihrem Aufstand. Diese Vorwürfe laufen Gefahr, zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu werden. Sogar wenn sie anfänglich gar nicht oder bloss teilweise stimmten, drohen sie doch zu Fakten zu werden, wenn man sie herbeiredet und durch angebliche Abwehr die befürchteten Handlungen auch provoziert.