Das Schiff mit 40 Migranten an Bord lief am Samstag früh um 01.40 Uhr im Hafen der süditalienischen Insel Lampedusa ein. Auf Befehl von Innenminister Matteo Salvini hatten zwei Boote der italienischen Finanzpolizei versucht, das Rettungsschiff bei der Einfahrt abzudrängen – vergebens.
Als das Boot der deutschen Hilfsorganisation im Hafen einlief, stand Carola Rackete auf der Brücke des Schiffs. Hunderte Schaulustiger hatten sich auf der Mole versammelt und applaudierten. Unter ihnen befanden sich Don Carmelo, der Pfarrer der Insel, sowie Pietro Bartolo, ein auf der Insel praktizierender Arzt und Europarlamentarier des sozialdemokratischen Partito Democratico. Die Finanzpolizisten wurden ausgepfiffen. In Kreisen der rechtspopulistischen Lega wird die Guardia di Finanza kritisiert und verspottet, weil es ihr mit ihren Schnellbooten nicht gelang, das Hilfsschiff am Einlaufen im Hafen zu hindern. Carola Rackete wird in weiten Kreisen Italiens und Europas schon als Heldin gefeiert.
„Widerstand gegen ein Kriegsschiff“
Eine Stunde, nachdem das Schiff angelegt hatte, betraten Finanzpolizisten das Boot und nahmen die Kapitänin fest. Ihr droht eine zehnjährige Haftstrafe. Da die 31-jährige Deutsche die Schnellboote der Finanzpolizei austrickste, wird ihr „Widerstand oder Gewalt“ gegen ein Kriegsschiff vorgeworfen. Ferner wird ihr „Beihilfe zur illegalen Einwanderung“ und „Verletzung des Seerechts“ unterstellt. Ferner droht der Hilfsorganisation die Beschlagnahmung des Schiffs und eine hohe Busse.
Die 40 Migranten wurden inzwischen in das Auffanglager Imbriacola geführt. Auch die 22 Besatzungsmitglieder des Bootes verliessen das Schiff. Fünf italienische Politiker, die Salvini feindlich gegenüberstehen, hatten sich aus Solidarität auf die Seawatch begeben. Laut italienischen Medien könnte Rackete morgen in eine Gefängnis auf Sizilien gebracht werden.
Keine Zeit, sich mit Salvini herumzuschlagen
Am 12. Juni hatte die Hilfsorganisation vor der libyschen Küste 53 Migranten aus einem Schlauchboot gerettet. Weder Italien, Frankreich noch Malta erlaubten es dem unter niederländischer Flagge fahrenden Rettungsboot, in einem Hafen anzulegen. Italiens Innenminister Salvini bezeichnete Carola Rackete als „Komplizin der Schlepper“. Sie arbeite mit „Piraten“ und „kriminellen Banden“ zusammen.
Der Innenminister nannte sie auch eine "verwöhnte Rotznase". Die Kapitänin antwortete darauf, sie habe keine Zeit, sich mit Salvini herumzuschlagen. Es gehe ihr um die 40 notleidenden Migranten, die seit 17 Tagen auf dem Meer hin- und hertrieben. Es fehle auf dem Schiff an Wasser, sagte Rackete, viele der Migranten seien krank und verzweifelt. Sie hätten im Bürgerkriegsland Libyen schwere Gewalt erlebt und litten unter posttraumatischen Störungen. Eine Rückkehr nach Libyen, wo die Menschenrechte systematisch mit Füssen getreten würden, sei nicht möglich. Das internationale Seerecht schreibe vor, dass Menschen in Not geholfen werden müsse. Leonardo Marino und Alessandro Gamberini, die beiden Anwälte der Seawatch, erklärten, Carola Rackete habe „keine andere Wahl gehabt, als die verzweifelten Menschen an Land zu bringen“.
Salvini in der Zwickmühle
Die Landung der Seawatch wird ein langes politisches Nachspiel haben. Salvini befindet sich in einer Zwickmühle: Einerseits muss er seinen Anhängern gegenüber Härte demonstrieren. Anderseits hat sich ein grosser Teil der Italiener und Italienerinnen gegen diese als „unmenschlich“ bezeichnete Politik aufgelehnt. Darunter könnte die Popularität des Innenministers leiden. Es kann ihm nicht gelegen sein, eine als Heldin gefeierte junge Frau im Gefängnis zu halten.
Sowohl in Italien als auch in ganz Europa haben sich bereits Solidaritätskomitees für Carola Rackete gebildet. In den ersten 24 Stunden sind laut italienischen Medienangaben bereits 200’000 Euro gesammelt worden. Diese werden nun für Gerichtskosten und Anwälte bereitgestellt.
„Sie gehört in die Geschichtsbücher“
In den sozialen Netzwerken machen sich viele Rassisten Luft und schwärzen Carola Rackete mit den üblichen rassistischen Verleumdungen an. Unter anderem heisst es auch: „Das hat mit Seenotrettung nichts zu tun. Das ist schlicht und einfach Menschenhandel.“
Andererseits wird die Kapitänin von einer riesigen Solidaritätswelle getragen. Unter dem Hashtag #freecarola gingen Tausende Einträge ein. Eine „Ruhrpottlady“ schreibt: „Ab heute ist Italien ein Land, in dem eine Frau festgenommen wird, die Leben rettet und den Mut hat, menschlich zu sein.“
Ein Dr. Karamba Diabi schreibt: „Carola Rackete gehört nicht ins Gefängnis. Sie gehört in die Geschichtsbücher.“
Nur noch wenige Flüchtlinge
Die Zahl der Flüchtlinge und Migranten, die über den Seeweg nach Italien gekommen sind, hat innerhalb eines Jahres stark abgenommen. Im Juni 2018 waren es noch 3’136; in diesem Juni sind es noch 623. Im Februar waren es nur 60. Trotz dieses starken Rückgangs der Boatpeople benutzt Salvini das Flüchtlingsthema nach wie vor, um Stimmung zum machen.
(J21)