Kaum war Joachim Gauck als Kandidat am 19. Februar 2012 für das Amt des Bundespräsidenten nominiert, wurde ein Vorwurf wiederholt, der ihn seit dem Umbruch von 1989 begleitet: Ihm wird vorgehalten, er vertrete ein Freiheitsverständnis, das auf Kosten der Gleichheit gehe. Es handele sich bei ihm um eine Freiheit der Privilegierten, die sich nicht allzu sehr um das tägliche Brot zu sorgen hätten.
Ganz am Anfang seiner Rede spricht Gauck diesen Punkt an, ohne sich allerdings auf die persönliche Kritik zu beziehen. Denn er gräbt tiefer. Die Verwechslung der Freiheit mit persönlicher Sicherheit, insbesondere der Sicherheit des „Besitzstandes“, sei typisch für die Deutschen und habe ihre Wurzeln im 30-jährigen Krieg. Das Elend jener Zeit habe sich tief in die kollektive Mentalität der Deutschen eingegraben. Entsprechend sei die Geschichte danach anders verlaufen als etwa in Frankreich oder England.
"Wir sind das Volk"
Aber die Freiheit, wie sie in der Französischen Revolution zutage getreten ist, hat eine tiefe Ambivalenz. Denn eine Revolution entstehe nicht im hehren Reich der Ideen, sondern sei aus der Not geboren. Hunger und masslose Erhöhungen der Abgaben haben das Volk 1789 auf die Strasse getrieben, und in der Folge kam es zu Exzessen, die gerade auch von Frauen begangen wurden, was Friedrich Schiller in „Die Glocke“ eindrucksvoll zur Sprache gebracht hat.
Aber die grundlegende positive Erfahrung der Französischen Revolution hat sich auch 1989 während der ostdeutschen Revolution in der Parole: „Wir sind das Volk“, ausgewirkt. Der Wille des Volkes, selbst zu bestimmen und nicht bevormundet zu werden, hat den entscheidenden Schritt in die Freiheit ermöglicht.
Die Suche nach dem Glück
Das Abwerfen der Fesseln aber ist für Gauck nur der erste Schritt. Denn die Freiheit ist nur so lange etwas wert, wie sie gebraucht wird. Gauck verwendet dafür die – etwas abgegriffene – Formel: Freiheit von, Freiheit für. Es kommt also darauf an, was aus der Freiheit gemacht wird. An dieser Stelle erwähnt er die Schwierigkeiten einiger seiner Landsleute, sich in den Strukturen der Nach-Wende-Zeit zurechtzufinden und sich zielstrebig um Ämter und Positionen zu bemühen, anstatt darüber zu klagen, dass diese von den „falschen“ Leuten besetzt würden.
Der entscheidende Fokus seiner Rede aber liegt auf der Ausgestaltung des „für“, also der Zielsetzung der Freiheit. Wer die Freiheit nutze, um sein persönliches Glück zu mehren, sei auf dem Weg ins Unglück und in die Unfreiheit. Denn der Mensch sei auf Beziehung angelegt und finde seine Bestimmung im Zusammenwirken mit Anderen. Er müsse Verantwortung wahrnehmen. Immer wieder habe er beobachtet, dass Menschen, sei es bei der Freiwilligen Feuerwehr, in einem Orchester oder in einem Sportverein, in der „Bezogenheit“, in „Hinwendung“ ihr Glück fänden. In dieser Bezogenheit, in der Verantwortungsbereitschaft sieht Gauck die „Gottesebenbildlichkeit“ des Menschen.
Der beste Ort
Diese Entfaltung des Menschen ist aber nur in der Freiheit möglich. Sie liefert die Bedingung für einen Prozess, den Gauck - hier hört man den Theologen - "Ermächtigung" nennt. Die Basis dieser Freiheit legen die Menschenrechte, die europäischen Ursprungs, aber „gemeinsames Gut der Menschheit“ sind. Hierin sieht Gauck die ethische Grundlage Europas, die nicht verhandelbar ist. Notfalls müssen diese Grundlagen auch mit Gewalt verteidigt werden. Zur Zeit des Kalten Krieges seien einige Kreise – durchaus auch innerhalb der Kirchen – gegenüber den östlichen Machthabern allzu opportunistisch und devot aufgetreten. Gauck bezieht sich dabei auf Václav Havel, der ebenso wie andere Dissidenten vom Westen enttäuscht gewesen ist.
Toleranz setzt für Gauck die Verwurzelung im eigenen Wertekanon voraus. Ohne diese Verwurzelung fehle es an der inneren Sicherheit, die für eine ehrliche Auseinandersetzung nötig sei. Dabei sind für Gauck die europäischen Werte unüberbietbar. Er zitiert den polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der über Europa gesagt hat: „Es ist tatsächlich der beste Ort der Welt, etwas Besseres hat bisher niemand erdacht!“
Grundlegende Wahrheiten
Daher sind für Gauck der ehemalige Flirt mancher westlicher Kreise mit dem Kommunismus oder ein modischer „Antikapitalismus“ indiskutabel. Natürlich habe das westliche System Mängel, aber diese seien geringer als jene in anderen linken Systemen: „Wir haben bei diesen Entwürfen weniger Freiheit, weniger Lebensfreude, weniger Rechtssicherheit und weniger Wohlstand erlebt.“
Joachim Gauck hat dieses „Plädoyer“ auf dem Neujahrsempfang der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar 2011 vorgetragen. Das war, man erinnere sich, wenige Monate nach der 3-gängigen Bundespräsidentenwahl. Im Januar 2011 hat Gauck diese Rede also als Privatmann gehalten, der kein politisches Kalkül verfolgt. Aber er müsste auch in seiner neuen Rolle kein Komma ändern.
Die Neuauflage dieser Rede erscheint in diesen Tagen im Kösel Verlag. Man kann Deutschland zu einem Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten gratulieren, der es versteht, grundlegende Wahrheiten einfach und klar zu formulieren und dabei noch Ecken und Kanten zu zeigen.