Lisa Randall, schreibfleissige Teilchenphysikerin an der Harvard University, die immer wieder einmal über den disziplinären Gartenhag in die Welt schaut, brachte kürzlich eine bedenkenswerte Analogie in die Diskussion über fremde Kulturen und Migration ein.[1]
Die dunkle Materie in der Physik und in der Gesellschaft
Ein aktuelles Faszinosum unter Physikern ist die sogenannte dunkle Materie: Materie, die im ganzen Universum verteilt, aber nicht beobachtbar ist, weil sie Strahlung weder absorbiert noch emittiert. Sie macht den grössten Anteil des Universums aus, sie hatte einen entscheidenden Einfluss auf dessen Struktur und Entwicklung, und sie beeinflusst diese Entwicklung immer noch. Man weiss nicht, aus was für Teilchen sie besteht. Man kann nur spekulieren. Diese Materie ist also da, sie ist eine Realität. Aber wir kennen sie nicht.
Lisa Randall erzählt in ihrem Artikel folgende kleine Episode: „Ich las aus dem ersten Kapitel meines neuen Buches vor, in dem ich die dunkle Materie (..) mit andern Dingen vergleiche, die unbemerkt bleiben, aber dennoch den Gang der Welt beeinflussen (..) Das Ziel war, die Kluft zwischen unseren begrenzten Beobachtungen und den vielen kaum wahrgenommenen Phänomenen zu veranschaulichen, die unsere Realität durchdringen. Ich sah mich belohnt durch die zunehmende Familiarität der Zuhörer mit der dunklen Materie (..) Die überraschendste und belohnendste Antwort aber kam am folgenden Tag von einem jungen afroamerikanischen Künstler (..): ‚Ich weiss, das mag wie eine verrückte Frage klingen, aber sprachen Sie im Grunde nicht über Rasse?’ Das Verrückte war, dass er recht hatte. Die meisten Leute sind in ihrer Haltung gegenüber dunkler Materie von den gleichen Instinkten verhext, welche auch ihr Verhalten gegenüber verschiedenen Rassen, Klassen oder Kasten beeinflussen.“
Wir sind „Ethnoskope“
Die andere Kultur, Rasse, Ethnie als eine Art von sozialer dunkler Materie: Die Menschen anderer Kulturen sind da, unter uns, physisch nur allzu präsent, aber gleichzeitig ethnisch-kulturell unsichtbar. Sie beeinflussen die Entwicklung unserer Gesellschaft. Wir kennen sie nicht, wollen sie vielleicht auch gar nicht kennen. Aber einmal abgesehen davon, ob wir wollen oder nicht, wäre die Frage angezeigt, ob wir es überhaupt können. Lisa Randall kennt als Physikerin das sogenannte Skalenproblem gut: Unser Verständnis einer Sache hängt ab von ihrer Grössenordnung. Vorgänge im Atomkern oder zwischen Galaxien können wir nicht auf die gleiche Weise verstehen wie Vorgänge im Kühlschrank oder im Strassenverkehr. Genau so gibt es auch im Sozialen Grössenordnungen, in denen wir Menschen nicht mehr wahrnehmen und verstehen. Es gibt, anders gesagt, eine Distanz, in welcher der andere Mensch „liquidiert“ – verflüssigt – erscheint; als Partikel eines besonderen sozialen und kulturellen Fluids: Mobs, Miltärformationen, Migrantenströme. Wann ist der Mensch Individuum, wann ist er „Partikel“? Eine Frage der Zahl, der Wahrnehmungsskala. Bei hunderttausend Menschen machen sich andere Phänomene bemerkbar als bei zwei, drei. Das ist unvermeidbar und hat mit der Beschränkung unseres kognitiven Outfits zu tun. Auch hier sagt die Analogie zur Physik einiges. In der Physik kommen uns Instrumente zu Hilfe, die den beschränkten Horizont unserer Wahrnehmung ausweiten, zum Beispiel das Mikroskop und das Teleskop. Ein solches Instrumentarium fehlt im Sozialen. Wir verfügen über kein „Ethnoskop“, das uns die andere Kultur näherbringen würde. Oder genauer: Dieses Ethnoskop sind wir selbst. Und es ist mit einem Vermögen ausgestattet, das wir üblicherweise Empathie nennen.
Das Günther-Anders-Dilemma
Und mit ihm stellt sich das entscheidende Problem: Ist es leistungsfähig genug in der Grössenordnung heutiger soziokultureller Dynamik? Bekannterweise hat schon Günther Anders in seinem berühmten Werk „Die Antiquiertheit des Menschen“ die Frage gestellt, angesichts der Massenvernichtung der Atombombe. Und er stiess auf ein fundamentales Dilemma. Ich nenne es zu seinen Ehren das Günther-Anders-Dilemma: Je grösser das technische Potenzial des Menschen zur Selbstzerstörung, desto kleiner die emotionale Fassungskraft der Empathie. Technisch sind wir ungeheuer viel grösser als wir selbst; emotional werden wir im Gegenzug immer kleiner als wir selbst. So schreibt Anders, dass wir als „Fühlende noch immer im rudimentären Heimarbeiter-Stadium stecken, in dem wir zur Not einen einzigen Selbsterschlagenen bereuen können, während wir als Tötende oder gar als Leichenproduzenten bereits das stolze Stadium industrieller Massenproduktion erreicht haben; da sich die Leistungen unserer Herzen (..) im umgekehrten Verhältnis zum Ausmass unserer Taten entwickeln (..), sind wir (..) die zerrissensten, die in sich disproportioniertesten, die inhumansten Wesen, die es je gegeben hat.“
Starke Worte, und sie gelten heute mehr denn je. Die „Disproportion“, von der Anders spricht, liesse sich ja auf das globale Gefälle zwischen avancierten Industriegesellschaften und weniger avancierten „traditionellen“ Gesellschaften übertragen. Kriege wie jene in Afghanistan, Irak oder Syrien zeigen deutlich genug Spuren „industrieller Massenproduktion“. Man produziert zwar nicht direkt Leichen, rüstet aber die Länder mit einem gewaltigen Arsenal raffiniertester Technologien – lies: Waffen – auf und lässt in einem Bürgerkrieg verfeindete Fraktionen sich bis aufs Blut bekämpfen: das „Ausmass unserer Taten“, mit der fatalen Kollateralfolge einer Massenproduktion von Flüchtlingsströmen. In umgekehrt proportionalem Verhältnis dazu stehen die „Leistungen unserer Herzen“, wenn die Flüchtlinge an unseren Grenzen auftauchen und von uns Aufnahme verlangen. Sie appellieren im Grunde immer an unsere Empathie. Aber wie jedes Vermögen, hat auch Empathie eine begrenzte Fassungskraft. Wird sie überschritten, funktioniert sie nicht nur nicht mehr, sondern kann in ihr Gegenteil, in Antipathie, kippen.
Empathie ist schwierig
Dieses Dilemma wird unsere Zukunft umso mehr prägen, als wir mit der „dunklen Materie“ von Menschen aus anderen Kulturen zusammenleben werden. Was tun? Die Physik verbucht grosse Erfolge, indem sie Grössenordnungen übersteigt, Horizonte ausweitet, vom Bereich des Alltäglichen bis in die Bereiche des unvorstellbar Kleinen und Grossen. Wenn nicht alles täuscht, so steht ein solcher „Überstieg“ auch im Sozialen und Kulturellen bevor. Wir bewegen uns auf eine neue gesellschaftliche Dynamik von einer bisher nicht dagewesenen Grössenordnung zu. Wie gesagt, die Physik kann sich in ihren Vorstössen in neue Grössenordnungen auf ein leistungsstarkes Instrumentarium verlassen. Die „Leistungen des Herzens“ sind aber der neuen soziokulturellen Grössenordnung nicht angepasst. Sollten wir empathische Dehn- und Streckübungen durchführen, wie dies Anders vorgeschlagen hat? Es gibt ein grosses Hindernis. Der Mensch ist ein lokales, ein provinzielles Wesen. Seine besten Beziehungen hat er in der Grössenordnung seines Bekanntenkreises, seiner Familie, Freunde, Parteigenossen, seines Fussballvereins. Anders als in der Physik verlässt er diese Grössenordnung nicht, kann sie wahrscheinlich gar nicht verlassen. Aber er kann erstens diesen Kreisen weitere Kreise anlagern, heute auch immer mehr aus anderen Ethnien und Kulturen. Und er kann zweitens wie die Physiker lernen, dass seine Perspektive keine absolute ist, sondern immer wieder durch neue Erfahrungen relativiert wird. „Empathie ist schwierig,“ schreibt Lisa Randall: „Sie verlangt eine durchdachte und konsequente Anstrengung, aus unseren gewohnten Bezugsrahmen herauszutreten. Nur dann können wir verschiedene Perspektiven, Beobachtungen und Erfahrungen synthetisieren – der eigentliche Akt im Herzen der Kreativität, der wesentlich zur Lösung der zunehmend komplexeren Probleme beiträgt, die unsere Welt bedrängen.“
Zwei Arten von Horizont
Kurz gesagt, müssen wir uns nicht nur mit den Grenzen „draussen“ beschäftigen, sondern auch mit den Grenzen in unserem Innern. Es gibt zwei Arten von Horizont in unseren Köpfen: den Horizont, den man akzeptiert und unter Umständen verbarrikadiert – „äifach zuemache“ -; und den Horizont, den man nicht kennt. Wie der französische Historiker Jean Favier schreibt, ist der erste „unergiebig, aber er existiert. Der andere ist nur eine Idee, dennoch ist er fruchtbarer.“
„Nur“ für eine Idee einzustehen kann ungeahnte politische Kräfte entfalten. -
[1] Lisa Randall: Seeing dark matter as the key to the universe — and human empathy; https://www.bostonglobe.com/opinion/2015/10/25/seeing-dark-matter-key-universe-and-human-empathy/NXNMBXAa7WEWejN63fFCNL/story.html