Zwei Robotiker von der Leibniz Universität Hannover, Johannes Kuehn und Sami Haddadin, haben im Frühjahr 2016 die Vorstufe zu einer schmerzfähigen Maschine vorgestellt. Sofort regt sich in uns Entrüstung und Widerspruch: Schmerzfähiger Roboter? Auch das noch! Welch ein Widerspruch in sich! Gibt es denn nicht schon genug Leiden unter Menschen und Tieren? Muss man es noch künstlich vermehren, indem man es auf Artefakte ausweitet?
Die ethische Wallung kann mit einem historischen Hinweis etwas temperiert werden. Dass man einem Artefakt Schmerzfähigkeit einbauen will, reflektiert ja nur die Logik einer medizinischen Sicht, die im Schmerz eine „Störung“ der physiologischen Maschine Mensch sieht. Und recht besehen markiert das Projekt, einen Schmerzroboter zu bauen, einen vorläufigen Höhepunkt in einer dreihundertjährigen Tradition physiologisch-technischen Denkens. Der technologische Blick auf den Schmerz ist der Blick auf die Maschine Mensch, wie er sich unter fortschrittlichen Ārzten des 17. Jahrhunderts durchzusetzen begann. „Heilmechaniker", „Iatromechaniker" nannten sie sich.
Ein Schmerz-Zombie
Nun haben Kuehn und Saddadin nicht die Absicht, einen „echt“ empfindungsfähigen Roboter mit subjektiven Zuständen zu entwerfen. Sie entwickelten das mathematische Modell eines Nervensystems, in dem sich so etwas wie synthetische Schmerzvorgänge abspielen. So schreiben sie: „Ein Roboter muss im Stande sein, unvorhergesehene physikalische Zustände und Störungen zu erkennen und zu klassifizieren, um angemessene Gegenmassnahmen zu treffen, z. B. Reflexe. Zur Erfüllung dieser anspruchsvollen Forderung nehmen wir den Menschen zum Prototypen, (...) indem wir humane Schmerz-Reflex-Bewegungen als Vorlage zur Konstruktion von Modellen der roboterartigen Schmerzempfindung und Reaktionskontrolle verwenden. Wir konzentrieren uns dabei auf formale Eigenschaften des Roboterschmerzes, welche auf Erkenntnissen der Schmerzforschung beim Menschen, insbesondere bei der taktilen Wahrnehmung, basieren.“ Das heisst vor allem: Kontakt reflexartig vermeiden.
Es geht also beim synthetisierten Schmerz quasi um ein Modul der Maschine, welches sie vor Schaden bewahren kann, so wie dies der Schmerz bei Menschen und Tieren ja auch tut. Das Verhalten des Roboters ähnelt unserem Verhalten bei Schmerz, ohne dass nun der Zustand des Roboters jene Innenansicht haben müsste, die typisch für uns Menschen ist. Es handelt sich um einen Schmerz-Zombie.
Wozu Schmerz?
Wofür ist eigentlich Schmerz gut? Jede Kultur gibt ihre eigene Antwort auf diese Frage. Aus einer naturwissenschaftlichen Perspektive ist die Antwort ziemlich klar: Schmerz ist eine Abwehrmassnahme. Wir zucken reflexhaft vor einer heissen Herdplatte zurück, um nicht verbrannt zu werden. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Nozizeption, also von Schadenswahrnehmung. Ihre Neurophysiologie ist recht gut erforscht.
Solange der Schmerz in einer solchen Perspektive betrachtet wird – quasi in der Aussenansicht des Nervensystems –, scheint es mir kein grundsätzliches Argument gegen seine Replikation in silicio zu geben. Vielleicht sollte man sich bloss anschicken, gar nicht vom „Schmerz“ eines Roboters zu sprechen, sondern von schmerz-analogen Vorgängen in ihm. Und sei dies auch nur, um wissenschaftsjournalistischen Hafenkäse zu vermeiden wie „Forscher bringen Robotern bei, Schmerz zu fühlen“, oder ein unnachahmlich deppertes „Blechbüchse hat Aua!“
Schmerz als Evolutionsvorteil?
Wenn die Natur so etwas wie ein schmerzfähiges Nervennetz ausgetüftelt hat, dann liegt die evolutionsbiologische Frage auf der Hand: Bringt die Subjektivität des Schmerzes womöglich auch einen Entwicklungsvorteil mit sich? Die subjektive Erfahrung, so liesse sich argumentieren, kann dem sensorischen Input eine besondere, eben je auf mich bezogene Bedeutung verleihen: Da ist ja nicht bloss die Empfindung eines Schmerzes, sondern die Empfindung meines Schmerzes. Der Schmerz, den ich empfinde, ist etwas fundamental anderes als ein Zustand meiner selbst, über den ich abstrakte physiologische Kenntnisse habe. Er geht mich ganz persönlich an. Es klingt also sehr seltsam, wenn Mrs. Gradgrind in Charles Dickens Roman „Harte Zeiten“ sagt: „Ich glaube, es befindet sich ein Schmerz irgendwo im Zimmmer, aber ich kann nicht behaupten, dass ich ihn habe.“
Die Fähigkeit, den Schmerz subjektiv zu empfinden, ist etwas Zusätzliches, das hinreichend komplexe Systeme – zum Beispiel Mäuse und Menschen – erzeugen, um auf diese Weise die Effizienz ihrer Verhaltenskontrolle zu steigern. Ob man dieses Zusätzliche dann subjektive Schmerzfähigkeit oder anders nennen will, ist eine Sache der Semantik. Aber die Frage, ob komplexe Systeme „wirklich“ Schmerzen empfinden, bleibt bestehen. Und sie ist nicht eine Frage der Evolutionsbiologie.
Ein dorniges Problem
Wir landen hier vielmehr bei einem der dornigsten Probleme der Philosophie. Es gibt eine intensive Diskussion über sogenannte Qualia, also über die Anfühlbarkeit unserer Erfahrungen „von innen“, im Gegensatz zu ihrer Beschreibbarkeit „von aussen“. Die Diskussion hat zum Teil ein recht akademisch verstiegenes Format angenommen, aber der angesprochene Unterschied dürfte uns allen aus dem Alltag wohlbekannt sein.
Man versuche nur einmal, den Geschmack der Mandarine, die man gerade isst, in Worte zu fassen. Man wird stets feststellen, dass selbst einer ins Minutiöseste gehenden Beschreibung – und sei sie noch so Proust-artig – etwas fehlt, nämlich der Geschmack-wie ich-ihn-in diesem-Augenblick-empfinde. Dieser qualitative Aspekt lässt sich nicht in Sprache fassen, er lässt sich nicht aus dem Zustand des Empfindens verbal destillieren.
Ein so sprachmächtiger Dichter wie Rilke verzweifelt in einem Brief darüber, dass er den Duft einer Zitrone nicht in Worte fassen könne: „Ihre Bitterkeit, so zusammenziehend sie im Geschmack sich geltend macht, als Duft eingeatmet, gibt sie mir eine Sensation von reiner Weite und Offenheit –; wie oft habe ichs bedauert, dass wir allen derartigen Erfahrungen gegenüber so endgültig verstummt, so sprachlos bleiben. Wie erleb’ ich ihn, diesen Citronen-Geruch, weiss Gott, was ich ihm zu Zeiten verdanke …, und wenn ich wirklich, wörtlich wiederholen soll, was er mir in die Sinne diktiert: Fiasko!“
Die Geburt der Subjektivität aus dem Schmerz
In der Tat könnte man von einem erkenntnistheoretischen Fiasko sprechen. Fiasko aber nur für jene, die den Schmerz auf irgendeine Weise „objektivieren“ wollen. Das Scheitern liegt in der Sache selbst begründet. Schmerz ist etwas Privates. Er raubt mir meinen Weltbezug. Kein halbwegs normaler Mensch mit einem Quäntchen Empathie zweifelt daran, dass auch andere Menschen Schmerzen haben können. Aber die Empfindung ist und bleibt je mein Schmerz.
Es gibt eine Sprache, eine Metaphorik des Schmerzes, dank der er so etwas wie eine mitteilbare Öffentlichkeit erhält. Aber seine unauslöschbar subjektive Wirklichkeit ist unteilbar. Er widerfährt, ausschliesslich und ganz, dir oder mir. Wohl deshalb nährt er auch so stark das Gefühl der Vereinzelung. Man möchte sagen: Wie keine andere Empfindung macht uns der Schmerz unsere Subjektivität schmerzlich bewusst. Liegt darin seine Bedeutung? In der Geburt der Subjektivität aus dem Schmerz?
Conditio techno-humana
Was man auch von schmerzfähigen Robotern halten mag, die wichtigsten Fragen zur Conditio humana kommen heute aus den Robotiklaboratorien und nicht aus den Philosophieseminaren. Genauer gesagt: Wenn nun Roboterbauer „Kernbestandteile“ menschlichen Lebens zur Sache des Engineerings zu machen versuchen, dann muss dies als philosophische Herausforderung des Humanismus aufgenommen werden.
Das kann in zwei entgegengesetzten Grundrichtungen geschehen: in der progressiv-transhumanistischen und in der konservativ-anthropozentrischen. Die erste sieht eine „Überwindung“ des Menschentums voraus, mit Visionen beliebig verlängerten Lebens, beliebig gesteigerter kognitiver Fähigkeiten, eines Elysiums leidensfreien „Glücks“.
Natürlich meiden die meisten Menschen den Schmerz und das Leiden. Aber gerade in einer Epoche, in der Schmerz und Leiden künstlich herstellbar erscheinen, ist die „konservative“ Frage nach der Bedeutung des Schmerzes akzentuiert, nicht bloss als Frage eines natürlichen Schutzmechanismus, sondern als eines kulturellen Bestimmungsstücks menschlicher Existenz: unserer körperlichen und seelischen Verletzlichkeit. Im Schmerz werden wir, jeder für sich, „getroffen“. Einer der Begründer der philosophischen Anthropologie, Frederik Jacobus Johannes Buytendijk, schrieb 1943 in seinem Buch „Über den Schmerz“ vom „unwiderruflichen Ausgeliefertsein“.
Basis der Solidarität
Es ist nicht davon auszugehen, dass sich Roboteringenieure ernsthaft mit solchen Fragen abgeben. Immerhin schaffen sie aber dadurch, dass sie die Roboter dem Menschen annähern, zugleich die Gelegenheit zum Nachdenken darüber, was die Roboter nicht mit Menschen gemeinsam haben. Francis Fukuyama weist in seinem Buch „Das Ende des Menschen“ darauf hin, dass Qualitäten und Tugenden, die wir achten, zum Beispiel Mut, Mitleid, Heroismus, innig damit zusammenhängen, wie wir Schmerz, Leiden und Tod begegnen, wie wir sie dulden oder bekämpfen: „Es ist unsere Fähigkeit zu diesen Emotionen, die uns potenziell mit allen lebenden und toten Menschen verbindet.“
Einem Artefakt, das nie mit solcher biologischen Unbill konfrontiert ist, fehlt die Basis zu dieser verstehenden Solidarität. Grund genug, sich vom maschinellen Schmerz wieder vermehrt dem menschlichen Schmerz zuzuwenden. Er hat unsere Aufmerksamkeit dringend nötig.