Die Stadt Hama, welche sich im Februar 1982 gegen die herrschende Baath-Partei erhoben hatte, wurde von den alawitischen Sondertruppen der syrischen Armee umzingelt. Befehlshaber war der Bruder des Machthabers, Rifaat al-Asad. Die Stadt blieb etwa zwei Wochen lang umstellt und wurde systematisch beschossen.
Erst nach dieser "Aufweichungsperiode" zogen die Truppen in die enge Altstadt ein, töteten und plünderten. Dann schufen sie eine Art von Grabesruhe, die über Jahrzehnte hinaus nachwirkte und alle Proteste und Kritik am Regime in ganz Syrien im Keim erstickte.
Jubelnde Parteigänger und Freudentänze
Damals sorgten die "Informationsbehörden" dafür, dass niemand genau erfahren konnte, was geschah. Ausländische Journalisten wurden nicht nach Syrien eingelassen. Das Staatsfernsehen sendete jeden Abend Bilder von tanzenden und jubelnden Parteigängern des Regimes. Diese taten vor der Fassade des Stadthauses von Hama, ein Gebäude, das jedermann in Syrien kannte, ihre Loyalität gegenüber dem Regime kund. Die Fassade war wahrscheinlich eine blosse Kulisse. Doch sie schien echt.
Die Bilder waren begleitet von Kommentaren, laut denen in Hama gar nichts geschah; alles war in bester Ordnung. Nur wenige Indizien liessen darauf schliessen, dass doch Unruhe herrschen musste. Das wichtigste war: Alle Zugänge nach Hama waren von der Armee abgeriegelt. Es gab Gerüchte und geflüsterte Mitteilungen. Aber trafen sie zu? Niemand konnte ganz sicher sein. Die täglichen Dementis sorgten mindestens für eine gewisse Unklarheit. Es dauerte über eine Woche, bevor die ersten Gerüchte über die Vorgänge in der Stadt von den internationalen Nachrichtenagenturen in vorsichtiger Sprache veröffentlicht wurden. Etwas scheine in Hama vorzugehen, konnte man erfahren, jedoch seien die Gerüchte vielleicht weit übertrieben.
20'000 Tote
Die Regierung liess erklären, sie seien nicht nur übertrieben, sondern böswillige Unterstellungen. Vor allem seien sie auf Intrigen des feindlichen Auslands zurückzuführen. Als alles vorbei war begannen die Familien ihre getöteten Angehörigen zu beerdigen. Die Särge wurden auf den Autodächern von Taxis transportiert. Erst jetzt wurden die Zugänge zur Stadt wieder geöffnet. Eine schweigende, zerstörte Stadt war zu sehen. Über die Zahl der Opfer besteht bis heute Ungewissheit. Die Regierung sprach nachträglich von 2000; doch es gab Schätzungen die sich auf 30 000 beliefen. Die glaubhaftesten Zahlen ergaben sich später aus den Taufbüchern der christlichen Minderheit. Sie erlaubten den christlichen Kirchen, die Zahl ihrer Toten zu errechnen: etwa 20 000. Zehnmal mehr als die Regierung angab.
Doch eine grosse Ungewissheit blieb. Man hörte von Plünderungen. Das Museum der Stadt war ausgeraubt worden. Die zerstörten Häuser wurden rasch hinter geweisselten Mauern versteckt. Im Eiltempo wurden neue Strassenzüge gebaut. Jedermann wusste: Da hat ein Massaker stattgefunden. Doch Konkretes erfuhr man nicht. Hama war zum Mahnmal geworden. Rifaat al-Asad versuchte später, seinen Bruder politisch auszuschalten. Was ihm ein vergoldetes Dauer-Exil in Frankreich eintrug.
Demonstranten - "vom Ausland eingeschleust"
Das Verhalten der gegenwärtigen syrischen "Informationsgewaltigen" erinnert an das damalige Vorgehen. Ausländische Journalisten werden nicht zugelassen, die meisten syrischen Medienvertreter werden weggewiesen. Die rebellierenden Städte und Ortschaften werden von den Truppen umstellt. Die Informationsdienste verbreiten Gegengerüchte. Auch wenn sie noch so absurd sind, dienen sie doch dazu, Nebel des Zweifels und der Ungewissheit auszubreiten.
Die Demonstranten würden vom Ausland aufgewiegelt oder gar von aussen eingeschleust, heisst es. Sie hätten Flaschen mit Blut bei sich, mit dem sie Menschen beschmierten, um Verwundungen vorzutäuschen. Die Armee habe auf Mobiltelefonen Kurzfilme mit gestellten Szenen gefunden. Zu sehen seien "inszenierte Repressionsakte" der Armee. Diese Bilder würden sowohl in Syrien wie auch im Ausland verbreitet, um das brutale Vorgehen des Regimes „vorzutäuschen“. Auch wenn kaum jemand diese Geschichten des Informationsministeriums ganz glaubt, gibt es vielleicht doch einige, die sich beeinflussen lassen. Versuchen kann man es ja. Die falschen Informationen, die die Regierung verbreitet, könnten glaubwürdiger erscheinen, wenn solche Gerüchte sie untermauern.
Heute sind alle informiert
Doch die Sache geht heute nicht mehr auf. Es gibt unzählige Mobiltelefone mit der Möglichkeit, bewegte Bilder aufzunehmen und sie zu verbreiten. Als damals in Hama gemordet wurde, war die Stadt innerhalb des Landes isoliert und von der Welt abgeschnitten. Das Informationsmonopol des Regimes hielt etwa zwei Wochen lang dicht. Auch als es allmählich durchlöchert wurde, gab die Regierung Gegensteuer und verbreitete Informationen, die einen Schein von Glaubwürdigkeit bewahrten. Auch deshalb, weil die ganze Wahrheit, als sie dann endlich ans Licht trat, in ihrer Brutalität kaum zu fassen war.
Zurzeit wird an vielen Orten und immer mehr gemordet. Alle sind heute informiert, was da und dort geschieht. Doch den Repressionskräften scheint noch nicht bewusst zu sein, dass die Zeiten sich geändert haben. Diese Kräfte handeln weitgehend nach dem Schema, das sie vor 32 Jahren in Hama angewendet hat – ein Schema, das dem Land eine Generation lang Grabesruhe brachte.
All das heisst nicht, dass wegen der neuen Informationsmöglichkeiten, die Repressionskräfte keine Chance hätten, der Protestbewegung Herr zu werden. Doch es scheint wahrscheinlich, dass die Aufstände nicht so verlaufen wie damals.
Die Niederschlagung der Protestbewegung spielt sich anders ab als in Hama. Sie findet weder unter Ausschluss der in- und ausländischen Öffentlichkeit statt, noch beschränkt sie sich auf einen einzigen Unruheherd. Sowohl ganz Syrien als auch das Ausland wissen, was vor sich geht. Von Deraa aus, wo die Proteste diesmal begannen, haben sich die Aufstände auf fast alle Städte und Dörfer ausgedehnt: in einigen Orten modert es nur, andere stehen schon in hellen Flammen.
Vor einem Bürgerkrieg
Die Brandherde zu löschen, ist für die Sicherheitskräfte unendlich viel schwieriger geworden. Doch sie werden wohl weiterhin versuchen, mit Gewalt Ruhe zu schaffen. Sie werden fortfahren, flächendeckend gegen die Protestierenden vorzugehen. Die Toten und Verletzten werden sie nicht beeindrucken, denn ihre Solidarität gilt nicht dem syrischen Volk, sondern der heute regierenden alawitischen Minorität. Die Protestbewegung ist ihrerseits nicht mehr auf einen zentralen Ort beschränkt; sie ist pan-syrisch geworden.
Das bedeutet wohl: Wenn nicht noch eine unerwartete Wendung eintritt, steuert Syrien auf eine Art Bürgerkrieg zu, in dem sich die bewaffnete Minderheit der Alawiten und die (vorläufig ?) unbewaffnete Mehrheit der übrigen Syrer im ganzen Land gegenüberstehen.