Lukas Fierz ist Arzt, Neurologe, ehem. Berner Stadtrat und Nationalrat. Er schrieb „Begegnungen mit dem Leibhaftigen – Reportagen aus der heilen Schweiz“ (Tredition 2016) und führt seit 2019 als Reaktion auf Fridays for future den Blog "Sein oder Nichtsein – Orientierungssuche in verwirrter Zeit".
Neu ist, dass sich alles beschleunigt: Das Eis schmilzt rascher als gedacht, und wenn es die Strahlung nicht mehr reflektiert, steigt die CO2-bedingte Erwärmung nochmals um bis 50 Prozent (1). Das Meer erwärmt sich rascher, und der Meeresspiegel steigt schneller als vorausgesagt, ebenso die Lufttemperatur. Weiter steigende Treibhausgase sorgen für Beschleunigung der Erwärmung, und die fatale Selbstverstärkung durch Methanfreisetzung hat eben erst begonnen. Wir merken es ja selber: Die Sommer werden gnadenlos heisser und heisser.
Die vier apokalyptischen Reiter sind: Die Klimaerhitzung, die bis hundertmal schneller abläuft als frühere Erwärmungen; der Wassermangel, der einen Drittel der Menschheit bedroht; das Artensterben durch Schwund und Vergiftung der Lebensräume; und nicht zuletzt die Überbevölkerung, die Grundursache, die weiter zunimmt. Jeder dieser Faktoren kann für sich allein tödlich sein.
Kollaps angekündigt
Viele rufen nach Massnahmen, und viele balgen sich mit jenen, die die Probleme leugnen. Aber ist das sinnvoll? Gibt es aus diesem vierfachen Overkill überhaupt noch ein Entrinnen?
Der Amerikaner Roy Scranton erlebte als Soldat im Irakkrieg Schrecken und Staatszerfall. Zurück in den USA dämmerte ihm, dass dieselben Entwicklungen den Industriestaaten bevorstünden. Wie der Soldat das Sterben lernen müsse, müssten im Anthropozän auch wir lernen zu sterben, und zwar nicht nur als Einzelne, sondern als Kollektiv, wie er in seinem Buch „Learning to Die in the Anthropocene“ (2) schreibt.
Unabhängig von ihm sagen die Franzosen Pablo Servigne und Raphaël Stevens in ihrem Buch „Comment tout peut s’éffondrer – Petit manuel de collapsologie à l’usage des générations présentes“ (3) den Kollaps der Zivilisation voraus. Ein zusammenfassendes Interview (8) ist in „Le Temps“ erschienen.
Persönliche Schlüsselerlebnisse
Drei persönliche Erlebnisse bestärken meine Sorge: Ein in den Medien dauerpräsenter prominenter Klimatologe, der öffentlich einen milden, lösungsorientierten Optimismus verbreitet, sagte uns vor zwei Jahren in privatem Rahmen, dass er nach wissenschaftlichem Ermessen für die Menschheit keinen Ausweg aus dieser Falle mehr sehe.
Und etwa 1973, kurz nach dem ersten Bericht des Club of Rome, hatte ich einen lebhaften Traum. Ich stand am Rande einer mittelgrossen Kiesgrube, die teils locker renaturiert war. Dort unten zwischen Büschen, in vielleicht zwanzig Metern Distanz war eine kleine Gruppe von nackten ganz grünen Menschen, etwa drei an der Zahl, wohl erwachsen, aber nicht alt. Sie bemerkten mich nicht und sagten zueinander: „Wir sind die letzten Menschen.“ Ich hielt das für einen bedeutungsvollen, einen sogenannten „grossen Traum», konnte damit jedoch rational nicht viel anfangen und brachte ihn höchstens hypothetisch mit der Umweltsituation in Verbindung. Immerhin pflegte C. G. Jung einen Rabbiner zu zitieren, der geschrieben hatte: „Der Traum ist seine Deutung.“
Mein Vater, Markus Eduard Fierz (1912–2006), theoretischer Physiker der ersten Stunde, kannte Pauli, Bohr, Heisenberg, Einstein, arbeitete und lehrte in Basel, Princeton, am CERN und an der ETH. Er hatte eine grosse Intuition und war ein Virtuose für sogenannte Fermi-Schätzungen, das Abschätzen von Grössen aus unzureichenden Vorgaben. (Die berühmte Fermi-Frage war: „Wie viele Klavierstimmer gibt es in Chicago?“). Im Alter wurde er äusserst besorgt über die Umwelt und sagte einen allgemeinen Ökokollaps ab etwa 2020 voraus. Natürlich könne man das nicht aufs Jahr genau voraussagen. Aber wenn es einmal beginne, werde es aus mathematisch-physikalischen Gründen sehr rasch bergab gehen. Nachdem ich sowohl Traum als auch Vater jahrzehntelang nicht verstanden hatte, könnten beide am Ende recht behalten.
Auflösung der Zivilisation
Aufschlussreich sind Inhalt und Schicksal eines Artikels von Jem Bendell, dem englischen Hochschullehrer für Nachhaltigkeit. Er vertritt aufgrund einer grossen Literaturübersicht die Meinung, die Umweltsituation sei ausser Kontrolle und unumkehrbar. Schon im nächsten Jahrzehnt müsse man mit grossen Krisen, ja mit beginnender Auflösung der Zivilisation rechnen. Dieser Artikel wurde von einer Fachzeitschrift nicht akzeptiert, weil er nicht genug wissenschaftliche Literatur zum Zivilisationskollaps zitiere (es gibt fast keine) und weil er die Leserschaft erschrecken könnte.
Bendell, der die Schnauze voll hatte von dieser akademischen Korrektheit, veröffentlichte den Artikel im Netz, wo er inzwischen eine halbe Million Mal heruntergeladen und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Dort und in einem Interview mit dem Klimatologen Wolfgang Knorr kommt er zum Schluss, dass auch die Wissenschaft das Publikum nicht wahrheitsgetreu informiere. So vernachlässigten die Berichte des International Panel on Climate Change (IPCC) die beschleunigte Erderwärmung durch steigende Treibhausgase und durch schwindende Strahlungsreflexion wegen Eisschmelze und seien deshalb durchwegs viel zu optimistisch – wörtlich: „They are letting down humanity.“
Ausgeblendete Katastrophenperspektive
Tatsächlich wird die Katastrophenperspektive überall ausgeblendet. Zwar warnen Wissenschafter und teils auch Medien seit bald vierzig Jahren, aber regelmässig nur sektoriell, vorsichtig und objektiv abgewogen. Mal redet einer von schwindenden Gletschern, ein anderer bespricht die Zukunft des Wintersports, einer berichtet über Insektenschwund, noch einer studiert die Bienen, ein anderer das Gift in den Gewässern, weitere warnen vor den Temperaturen in den Städten, andere betrachten Ernteausfälle oder erforschen Migrationsgründe.
Sie haben Teile in der Hand, aber für die Erkenntnis, dass alles zusammen auf eine selbstverstärkende globale Katastrophe hinausläuft, fehlt leider die geistige Verbindung zwischen den Teilen. Und so fehlen auch der dringend angebrachte Bezug auf unser eigenes Schicksal und jeglicher Alarmismus. Einig sind sie sich nur darin, Geld für weitere Forschung zu fordern. Und das bewilligen die Politiker nur allzu gern, wenn sie dann im übrigen untätig bleiben können.
Haben die Wissenschaftler Angst vor dem eigenen Mut? Fürchten sie Verlust von Kredit und Krediten in der Öffentlichkeit, Verlust der Sendefenster in den Medien, Verlust von Ansehen bei den Kollegen, wenn sie den Klartext redeten, der angebracht wäre und wehtäte?
Die Weigerung, reinen Wein einzuschenken, vermeidet zwar Erschrecken und Depression bei den Adressaten. Sie hat aber die fatale Folge, dass diese sich weiter an die Hoffnung des Weiter-so klammern. Erst Erschrecken und Depression würden den Weg zu radikalem Umdenken schaffen.
Schonung untergräbt Vertrauen
Lange war mir ein Rätsel, wie ein so gescheiter, beredter und gebildeter Mann wie Roger Köppel behaupten kann, dass sich die Klimawissenschaft irre. Beim Schreiben dieses Texts ist mir etwas eingefallen: Wir wissen von Krebspatienten, dass sie ihre Diagnose immer kennen, auch wenn man diese verheimlicht. Die nichtverbale Kommunikation ist offenbar so stark, dass sie alles Verschweigen und Lügen enttarnt. In der praktischen Tätigkeit als Arzt habe ich überdies erfahren, dass einem fast immer geglaubt wird, wenn man deutsch, deutlich und direkt sagt, was Sache ist. Könnte es sein, dass Roger Köppel und andere Skeptiker dumpf und ganz richtig spüren, dass etwas mit den IPCC- und anderen Berichten nicht stimmt und dass sie diese deshalb nicht glauben? Ausgeschlossen scheint das nicht.
Die fragmentierte Betrachtungsweise finden wir nicht nur bei Wissenschaftlern, sondern auch bei den Besorgten und Grünen. Diese predigen gutgemeinte Einzelmassnahmen wie Vegetarismus oder Plastikverzicht, verschweigen aber oft, dass das niemals genügt. Schliesslich will man die Wähler nicht verschrecken. Nur Kinder und Narren sagen die Wahrheit und führen verzweifelte Kreuzzüge.
Zeit noch bis 2020
Alle zusammen blenden die Bevölkerungsfrage aus, und ohnehin werden sie überstimmt von den dumpfen Mehrheiten, die Trump, Bolsonaro und Johnson wählen, jene Politiker, die im Grunde schon das Ende der Zivilisation ankündigen. Medien, welche Tatsachen als Meinungen in Frage stellen und quallenartige Politiker, die nach Umfragen navigieren, fördern die Bewegungsunfähigkeit der Masse, die in Wellness narkotisiert auf die Katastrophe wartet.
Was kommt, zeigt schon jetzt der Nahe Osten mit Hitze, Dürre, Hunger, Staatszerfall, Willkürherrschaft, Seuchen, Krieg und Massenmigration. Das wird sich schubweise auf weitere Regionen und bis zu uns ausbreiten. Besonders störanfällig sind komplexe Systeme wie Grossstädte, Grossverteiler, Hochkultur, Geldwert, Banken, Fernverkehr, Altersvorsorge oder Rechtssicherheit. Das Gerede von Klimagerechtigkeit und Menschenrechten wird als Hohn auf der Strecke bleiben. Wir sind in einer suizidalen Kultur gefangen.
Mittlerweile warnt sogar der Generalsekretär der Uno, dass wir nur noch bis 2020 Zeit haben, um ein Kippen der Situation zu vermeiden. Und dennoch gibt es kaum eine Reaktion. Protestierende werden eingesperrt oder ausgewiesen. So entsteht die nächste Frage: Wenn wir uns nicht retten wollen oder können, was dann?
Dann bedeutet dies das Ende mancher Nationen, mancher Kulturen, vielerorts der Menschlichkeit. Es heisst Massensterben von Menschen und grosser Teile der belebten Welt, vielleicht überhaupt das Ende der Menschheit.
Manch alter Mensch beschäftigt sich mit seinem individuellen Ende. Im Mittelalter gab es sogar die Kunst des Sterbens (Ars moriendi), welche auf einen guten Tod vorbereiten sollte und auf die vier letzten Dinge – Tod, Gericht, Himmel, Hölle. Immerhin konnten sich Sterbliche mit ihren Nachfahren trösten, welche ihre Ideale, ihr Können, ihre Kultur und ihre Gene weiterführen würden. Dem Tod der Zivilisation fehlt dieser Trost. Aber irgendwie müssen wir die Haltung zum Tod des Individuums in eine zum Tod der Zivilisation übersetzen.
Nur Gesten in der Luft
Robert Bringhurst und seine Partnerin Jan Zwicky, zwei kanadische Naturwissenschafter, Philosophen und Dichter meinen in ihrem Büchlein „Learning to die – Wisdom in the Age of Climate Crisis“ (4), dass höchstens einige wenige Menschen das sechste Massensterben überleben dürften; nicht überleben werde aber unsere Zivilisation. Und danach werde niemand mehr von Plato, Bach oder Rembrandt wissen.
Bringhurst ist ein kenntnisreicher Buchautor über Mythen und Kultur der amerikanischen Ureinwohner (5). Er beschreibt, wie diese sich als Teil einer Natur verstanden, die man nicht dominieren kann. Fremd sei ihnen die abendländische Einstellung, welche die Natur dominieren will, ausgedrückt schon in Genesis 1,28: „Seid fruchtbar und mehret euch, füllt die Erde und unterwerft sie.“ Diese Einstellung sei der eigentliche Grund für unsere Katastrophe.
Zwicky fragt, welche moralischen Qualitäten wir am Ende unserer Zivilisation bräuchten. Es seien die Qualitäten, die es seit jeher im Leben gebraucht habe: Erkenntnis und das Wissen, dass diese begrenzt sei, Bescheidenheit, Mut, Selbstkontrolle, Gerechtigkeit, Geduld und Barmherzigkeit. Bescheidenheit brauche es, um das Ego aus dem Weg zu räumen; erst das gebe den Mut, den Tatsachen in die Augen zu blicken. Und Mitleid brauche es für jene, welche den Tatsachen nicht in die Augen blicken könnten. Ohnehin seien die eigenen Handlungen und die der anderen nur Gesten in der Luft, die verschwänden wie Musik. Wie die bisherigen Massensterben werde auch das jetzige irgendein Leben zurücklassen, Leben, aus dem anderes entstehen werde.
Wenn das Lebensende des Individuums unausweichlich ist und nur noch aus Leiden besteht, dessen Sinn schwer einsehbar ist, so stellt sich die Frage der Sterbehilfe, die heute manchmal praktiziert wird. Diese Frage wird sich auch stellen, wenn Gesellschaften in Hunger, Seuchen, Plünderung und gegenseitigem Totschlag zugrunde gehen. Die Vorstellung ist nicht neu. Im Endzeitroman „On the Beach“ (1957) lässt Nevil Shute die letzten Überlebenden des Atomkrieges sich mit Zyankali umbringen, um diesen Endstadien zu entrinnen.
Es geht auch darum, wie man die letzten Stunden gestaltet: Als die Kinder des von Janusz Korczak geführten Waisenhauses das Warschauer Ghetto verlassen mussten, gaukelte er ihnen einen Ausflug aufs Land vor und zog sie so schön an wie möglich. Korczak ging mit, vor dem Zug spielte ein Bub die Geige, und geschmückt und singend zogen sie zu den Viehwagen, die sie in Treblinka abladen sollten zur unverzüglichen Vergasung. Le style c’est l’homme.
(1) Wadhams, P. (2016) A Farewell to Ice, Oxford University Press, Oxford.
(2) Roy Scranton: Learning to Die in the Anthropocene, City Light Editions 2016
(3) Pablo Servigne und Raphaël Stevens : Comment tout peut s'éffondrer- Petit manuel de collapsologie à l'usage des générations présente, Seuil, 2015
(4) Richard Bringhust and Jan Zwicky: Learning to Die – Wisdom in the Age of Climate Crisis, University of Regina Press, 2018
(5) Richard Bringhurst: A story as sharp as a knife, Douglas & McIntyre, 2011