Buchmesse Leipzig im März 2011: Auf dem "Blauen Sofa" sitzen zwei Frauen, Julia Albrecht, Juristin und Journalistin, und Corinna Ponto, ehemals Opernsängerin. Vor langer Zeit waren ihre Familien befreundet und die Väter ihre Paten. Am 30. Juli 1977 benutzte Julias ältere Schwester Susanne diese Beziehung, um den RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar Zugang zum Haus der Pontos zu verschaffen. Sie erschossen auf der Stelle Corinnas Vater Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Susanne Albrecht tauchte unter. Der Vertrauensverrat und die Tat liess beide Familien fassungslos zurück, und die Pontos brachen bald darauf den Kontakt zu Albrechts ab.
Mutig hat Julia Albrecht 30 Jahre später das Schweigen gebrochen und an Corinna Ponto geschrieben:. Es sei „einer der emotionalsten Momente meines Lebens“ gewesen, so Ponto im Interview. Die beiden Frauen trafen sich und tauschten sich über das aus, was ihnen als Angehörigen seither widerfahren war – zwei unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Ereignis. Die Briefe, die sie sich schrieben, haben sie in ihrem Buch öffentlich gemacht.
Nähe zum Verbrechen
Anders als im Untertitel angekündigt, ist zwischen den beiden Frauen aber kein wirklicher Dialog entstanden, denn sie vermochten es nicht, die zwischen ihnen herrschende Opfer-Täter-Dichotomie und ihre ungleiche Ausgangslage zu berücksichtigen – ein Voraussetzung für einen erfolgreichen Dialog in Konfliktsituationen.
Auf dem "Blauen Sofa" gibt es eine Schlüsselszene: Der Moderator fragt die Autorinnen, wie das erste Zusammentreffen für sie gewesen sei. „Für Corinna leichter als für mich, glaube ich“, antwortet Julia Albrecht prompt. Dabei streicht sie der Anderen freundlich lächelnd, aber fast ein wenig verschämt, über den Oberarm. „Kann sein“, antwortet Corinna Ponto knapp und lässt sich darauf nicht weiter ein.
Diese Szene lässt vermuten, dass auch Julia Albrecht als Opfer wahrgenommen werden möchte. Ihre Position vis-à-vis der Tochter des Ermordeten ist tatsächlich schwierig: Wer mit dem Täter identifiziert wird, steht von aussen betrachtet moralisch schnell auf der "falschen" Seite. Die Schwester der RAFlerin kann sich davon nicht frei machen. Immer wieder plagen sie Schamgefühle: „Diese Nähe zu einem Verbrechen, selbst wenn man vollkommen unschuldig ist, macht es schwer, sich davon wieder zu emanzipieren. Mir scheint es strukturell fast unmöglich, mich von dem Gefühl zu lösen, auch irgendwie schuldig geworden zu sein.“
"Schwester der Schwester"
Dabei war Julia Albrecht zum Zeitpunkt des Anschlags 13 Jahre alt und selbst traumatisiert. Ihre angehimmelte ältere Schwester war zur Komplizin eines unbegreiflichen, abscheulichen Mordes geworden und aus ihrem Leben verschwunden. Julia musste mit der unauflöslichen Ambivalenz leben lernen, eine Täterin zu lieben. Diesen quälenden inneren Widerspruch zwischen bedingungsloser Liebe und der Ablehnung des Verbrechens kennen auch Angehörige von Nazi-Tätern, die sich mit ihrem Erbe auseinandersetzen.
Julia Albrecht erlebte den zweiten Schock, als Susanne, die unter falschem Namen in der DDR gelebt hatte, 1990 gefasst wurde. Sie musste erfahren, dass ihre nun sächselnde Schwester sie vollkommen aus ihrer Biographie gestrichen hatte: Für Susanne alias Ingrid Jäger gab es keine Julia mehr. Für Julia war es genau andersherum gewesen: Von der Aussenwelt war sie oft nur als "Schwester der Schwester" wahrgenommen worden. Es wird sie gewiss viel Kraft gekostet haben, sich selbst zu finden und ihre eigene Identität zu entwickeln.
Geheiss der Stasi?
Corinna Ponto sagt zwar, sie hasse ihren Opferstatus, doch zugleich betont sie: „Muss ich über die RAF-Zeit reden, wird eine Opferhaltung von mir erwartet – ich erwarte sie fast selbst von mir“. Die Öffentlichkeit habe sich bislang nur für die Täter interessiert und die Angehörigen der RAF-Opfer im Stich gelassen. „Es gibt bis heute keinen gemeinsamen Gedenkort für die Opfer des nationalen Terrorismus in Deutschland. Theater, Film und Literatur hingegen haben der RAF auf vielfältige Weise Denkmäler gebaut.“ Künstlerisch und juristisch allein sei dem "nationalen Terror" nicht auf die Spur zu kommen: „Wo bleibt die historische Aufarbeitung dieser Zeit?«, fragt Ponto anklagend.
Sie selbst stellt die RAF wiederholt in den Kontext der DDR, von Che Guevara, der PLO und Al-Qaida, ohne zu differenzieren. „Die RAF war ein nationaler Vorläufer des heutigen internationalen Terrorismus“, sagt sie etwa, obwohl das historisch und politisch so nicht haltbar ist. Hätte sie gesagt, die RAF sei eine nationale Folge des Nationalsozialismus, hätte das die von ihr geforderte Aufklärung weiter gebracht. Mohnhaupt und Klar hält sie für Instrumente höherer Mächte – hinter dem Attentat vermutet sie die Stasi, also ein Komplott des Ostens, und sie wirft den bundesdeutschen Behörden Verschleierung vor.
Misstrauen gegenüber den Eltern
In der zweiten Hälfte des Buches beschäftigt sie sich überwiegend damit, dafür die Beweise zu erbringen. Auch wenn es ihr gutes Recht ist, den Mordfall vollständig aufgeklärt zu sehen, so verfällt sie doch streckenweise in einen Monolog, der ihre Co-Autorin links liegen lässt. Sie wirkt, als sei sie von ihrem Leid noch so befangen, dass sie noch nicht so weit ist, das Phänomen RAF auch objektiv zu betrachten und dessen Ursachen zu beleuchten.
Julia Albrecht hingegen sucht nach dem "warum", wie konnte das geschehen? Sie beschreibt „das tiefe Misstrauen der Jüngeren gegenüber der Elterngeneration, die ihre Energie weniger in die Aufarbeitung der ungesühnten Verbrechen des Nationalsozialismus und mehr in den Wiederaufbau und das »Wirtschaftswunder« gesteckt hatten.“ Sie streift dabei die Entwicklungen der deutschen Nachkriegszeit, ohne die die RAF nicht zu erklären ist.
Für die Komplexität dieser Zusammenhänge war in diesem Buch leider kein Platz. Das ist vielleicht auch ein Indiz dafür, dass die deutsche Gesellschaft die Nazi-Vergangenheit biographisch bislang wenig bearbeitet hat und die Auseinandersetzung mit den Tätern in den eigenen Familien gerade erst begonnen hat.
Todbringende Ideologie
Die eine kann keine Ruhe finden, bis die eigentlichen Täter gefunden sind, die andere versucht zu begreifen, wie die RAF entstehen und ihre Schwester sich daran beteiligen konnte. Das sind unvereinbare Zielsetzungen. Die Verständigung der beiden Betroffenen mit ihren so unterschiedlichen Ausgangslagen musste zwangsläufig an ihre Grenzen stossen. Am Ende des Buches äussert Julia Albrecht die Befürchtung, auch Corinna Ponto könnte in ihr nur die „Schwester der Schwester“ gesehen haben.
Doch sie begreift auch ihren eigenen Anteil: „Ich bin ja ein Teil der Familie.“ Sie könne nicht alles sagen oder schreiben, „ich kann nicht anklagen wie Du.“ Die RAF-Täter bekämen so lange mehr öffentliches Interesse als die Opfer, „bis sie selbst oder ihre Kinder sich an die Arbeit machen, die todbringende Ideologie und deren Ursachen und Folgen aufzuarbeiten. Bisher ist das nicht wirklich geschehen.“ Julia Albrecht hat jedoch einen bedeutsamen Anfang gemacht.
Vielleicht ist die Zeit noch immer nicht ganz reif für einen echten Dialog. Das unbestreitbare Verdienst der „Patentöchter“ ist jedoch, einen Anstoss gegeben zu haben, indem sie das Schweigen brachen und sich mit ihren Biographien an die Öffentlichkeit wagten. Sie haben sich damit aus einer Position der Ohnmacht in eine aktive, konstruktive Haltung begeben. Das könnte auch andere Betroffene ermutigen, ihre Geschichte zu erzählen.
Julia Albrecht, Corinna Ponto: Patentöchter. Im Schatten der RAF – ein Dialog, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2011, 216 Seiten