Der Sieg der ISIS-Kräfte (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) und ihrer Verbündeten über die irakischen Truppen und Sicherheitskräfte kam für alle Beteiligten unerwartet. Seit geraumer Zeit hatten Kämpfe auf der westlichen Seite der Grossstadt von rund zwei Millionen Einwohnern stattgefunden.
Kampf gegen Amerikaner und Schiiten
Mosul, die Hauptstadt der irakischen Sunniten, war seit der amerikanischen Zeit ein Widerstandszentrum gewesen, in dem die islamistischen Radikalen mit baathistischen Überresten des Saddam-Regimes zusammenarbeiteten. Sie betrieben im Untergrund Widerstandsfabriken, die für den ganzen Irak Bomben für Mordanschläge lieferten, zuerst gegen die Amerikaner, später, noch während der Zeit der amerikanischen Besetzung, auch gegen die Schiiten.
Nachdem die Amerikaner 2009 den Irak verlassen hatten, ging der Kampf gegen die Schiiten weiter. Er wurde gefördert durch den Umstand, dass die al-Maliki Regierung in Bagdad sich stark mit den Schiiten identifizierte und Repressionskampagnen gegen die Sunniten auslöste. Immer wieder kam es zu Massenverhaftungen von Sunniten, sogar sunnitischen Frauen, denen ohne klare Beweise vorgeworfen wurde, sie arbeiteten mit dem sunnitischen Widerstand zusammen. Wenn die Beweise fehlten, versuchten die schiitischen Sicherheitskräfte Geständnisse durch Brutalität und Folter zu erpressen.
Noch weiter gefördert wurde der Widerstand im Untergrund durch die Ereignisse in Syrien, wo ISIS (auch als ISIL abgekürzt und arabisch Da'ash benannt) sich im syrischen Osten festsetzte, die dortige Provinzhauptstadt Rakka beherrschte und durch die Syrische Wüste hindurch nach dem Irak übergriff. Durch diesen Schritt wurde die ohnehin immer poröse Wüstengrenze zwischen den beiden Ländern aufgelöst. Kämpfer und Waffen drangen von der syrischen Seite in den Irak ein und fanden dort Helfer unter den mit dem Maliki-Regime bitter verfeindeten Sunniten und den lokalen ebenfalls sunnitischen Stämmen.
Überlegene ISIS
In Mosul sollen sich gegen 7000 Offiziere der ehemaligen irakischen Armee aufhalten, die unter Saddam Hussein bestand, aber von den Amerikanern vorschnell aufgelöst wurde. Weiter soll es dort gegen 100’000 ehemalige Soldaten aus der gleichen Armee geben. Diese Armee wurde zwar von den Amerikanern geschlagen. Doch sie war kriegserfahren. Sie hatte acht Jahre Krieg gegen Iran (1982-1990) hinter sich.
Viele dieser Offiziere und Soldaten wurden brot- und arbeitslos. Ihre schlechte Lage schreiben sie natürlich den Amerikanern und den Schiiten zu. All dies bot den ISIS-Kämpfern Ansatzpunkte, um ihre Mannschaften zu verstärken, und es erlaubte ihnen, auf die Sympathie bestimmter Bevölkerungsanteile zu zählen.
Schwacher irakischer Staat
Das ganze kam zu Ausbruch, als ISIS von Ramadi aus, viel weiter im Süden, die Stadt Samarra bedrohte und die Regierung ihre Eliteeinheiten mit Kampfhelikoptern dort einsetzte. Die Polizeikräfte und die überwiegend schiitischen Soldaten in Mosul wurden überrannt. Es scheint zu einer Panik gekommen zu sein. Viele Berichte sprechen davon, dass die Polizisten ihre Posten geräumt hätten. Diese wurden in Brand gesteckt, und die Gefängnisse, wo mehrere Tausend von angeblichen islamistischen Radikalen eingesperrt waren, wurden erstürmt. Es soll auch Soldaten gegeben haben, die ihre Fahrzeuge im Stich liessen, ihre Uniformen auszogen und zu fliehen suchten.
Gleich darauf setzte auch eine Fluchtbewegung unter den Zivilisten ein. Der Gouverneur der Stadt rief die Bevölkerung am Fernsehen auf, Bürgerwehren zu bilden und ihre Strassen gegen die «fremden Eindringlinge» zu verteidigen. Als kurz darauf sein Amtssitz von Bewaffneten erstürmt wurde ergriff der Gouverneur selber die Flucht.
Die irakischen Militärs erklärten, die Angreifer seien viel besser bewaffnet gewesen als sie selbst. Sie hätten über Raketen, schwere Maschinengewehre und Manpads (individuell einsetzbare Luftabwehrraketen) verfügt. Es gab auch Offiziere, die einräumten, die Kämpfer seien viel besser geschult und auf Haus-zu-Haus-Kämpfe vorbereitet gewesen als die eigenen Truppen.
Kurdistan in der Nähe
Grossmosul ist eine Stadt, die vom Tigris durchschnitten wird. Das Zentrum und die Altstadt liegen auf dem westlichen Ufer. Im Osten jenseits des Stroms schliessen sich Aussenquartiere an, in denen ein bedeutender Teil der Bewohner aus Kurden besteht. Die kurdischen Peschmerga (das heisst die offizielle Armee der kurdischen Autonomiegebiete) benützten die Gelegenheit, um ihre Macht bis an den Tigris heranzuschieben.
Überall entlang den Grenzen des kurdischen autonomen Gebietes gibt es davorliegende Zonen mit gemischter kurdisch-arabischer, manchmal auch kurdisch-turkmenischer Bevölkerung. Einige dieser Zonen stehen seit geraumer Zeit unter der Kontrolle der Peschmerga, obwohl sie nicht zu den offiziell als autonom erklärten kurdischen Provinzen gehören. Die Kurden sind der Ansicht, diese Aussenzonen seien «mehrheitlich» von Kurden bewohnt, und daher sollten sie zu dem autonomen Staat geschlagen werden. Bagdad bestreitet dies. Die Erdölstadt Kirkuk gehört zu diesen heiss umstrittenen Gebieten. Doch auch die Gebiete östlich des Tirgris auf der Höhe von Mosul gehören dazu.
Eine halbe Million auf der Flucht?
Die Fluchtbewegung der zivilen Bevölkerung zielt in erster Linie nach Kurdistan. Erbil, die Hauptstad der irakischen Kurden, liegt nur eine Autostunde von Mosul entfernt, und den Kurden ist es bisher gelungen, in ihrem Landesteil den Frieden aufrecht zu erhalten. Die Berichte sprechen von einer halben Million Füchtlingen aus Mosul. Genau kann sie natürlich niemand zählen. Es gab gewaltige Autostaus vor und in Erbil mit Meeren von blockierten Wagen. Natürlich sind die Besitzer von Automobilen die ersten und die raschesten Flüchtlinge aus der bedrohten Stadt.
Die kurdische Autonomieregierung hat begonnen, neue Lager zu errichten, um die Flüchtlinge irgendwie unterzubringen. Sie hatte schon in den Monaten und Jahren zuvor grosse Mengen von syrischen Flüchtlingen aufgenommen. Der kurdische Ministerpräsident, Necherwan Barzani, hat auch schon um internationale Hilfe ersucht.
Machtverschiebungen im Nahen Osten
Die Einnahme Mosuls durch ISIS und Verbündete hat Folgen für das gesamte Gleichgewicht des Iraks und darüber hinaus im gesamten Nahen Osten. Mosul ist die zweitgrösste Stadt des Landes. Die Regierung von Bagdad kann gegenüber diesem Verlust ihrer Souveränität nicht die gleiche Taktik beibehalten, die sie im Falle von Falludscha und Ramadi, der beiden Städte weiter südlich in Anbar, verwendet hat. Dort hat sie versucht, die von ISIS und Freunden eroberten Städte zu umzingeln und einzuschränken, ohne einen Strassenkampf von Haus zu Haus zu riskieren.
Dies misslang; es führte dazu, dass ihre Gegner seit dem vergangenen Dezember die beiden Städte weitgehend beherrschten und dass sie sich fähig erwiesen, aus ihnen auszubrechen, umliegende Städte zu bedrohen und im Schatten dieser Bedrohungen die weiter entfernte Grossstadt Mosul in ihre Macht zu bringen.
Da Mosul auch die Hauptstadt der irakischen Sunniten und ihrer Widerstandskräfte bildet, würde eine passive Haltung von Bagdad in der gegenwärtigen Lage bedeuten, dass sie einer Teilung des Landes zustimmt. Es gäbe dann einen ISIS-Staat im Irak und in Syrien mit den Hauptschwerpunkten Rakka im heutigen Syrien und Mosul im bisherigen Irak und mit Vorposten nahe an Bagdad in Ramadi und Falludscha.
Dem gegenüber stünde ein schiitischer Staat im irakischen Süden und ein kurdischer im Nordosten. Doch daran, dass diese drei friedlich zusammenleben könnten ist nicht zu denken. ISIS ist viel zu aggressiv, um derartige Hoffnungen zuzulassen. Die ISIS-Leitung würde ohne Zweifel versuchen, ihr Ziel zu verwirklichen, das sie schon zur Zeit ihrer ersten Besetzung von Falludscha und Ramadi andeutete, als sie die «islamischen Kämpfer im Heiligen Krieg» aufforderte, nun von Ramadi aus «nach Bagdad zu kriechen.»
Drohender Bürgerkrieg im Irak
Al-Maliki muss angesichts der neuen Entwicklungen alles versuchen, um eine Streitmacht aufzubauen, die in der Lage wäre, die Hauptstadt des Nordens zurückzuerobern. Er hat bereits das irakische Parlament aufgefordert, den Notstand auszurufen und ihm, Maliki, Sondervollmachten zu erteilen. Ob dies geschehen wird, bleibt zurzeit offen. Das Parlament hätte eigentlich viele Gründe, Maliki eher das Misstrauen auszuprechen, als ihm noch mehr Macht zu gewähren. Das Parlament ist neu gewählt, und eine Regierungskoalition gibt es noch nicht. Maliki ist zurzeit nur Chef einer Interimregierung.
Am Fernsehen hat der interimistische Ministerpräsident das irakische Volk dazu aufgerufen, sich zum freiwilligen Kriegsdienst zu melden. Er erklärte, es sei schon eine Notstandskommission gebildet, die sich mit der Bewaffnung und dem Einsatz der freiwilligen Milizen befassen werde. Man hat anzunehmen, dass sich in erster Linie Schiiten, wahrscheinlich sogar ausschliesslich Schiiten, als Freiwillige stellen werden.
Damit zeichnet sich die Gefahr eines vollen Bürgerkrieges ab zwischen Sunniten und Schiiten, gewissermassen nun offizialisiert dadurch, dass nicht nur meist schiitische Soldaten der regulären Armee gegen die sunnitisch gefärbte Erhebung kämpfen werden, sondern auch noch und dazu schiitische Milizen, die ohne Zweifel schon bald auf sunnitische Gegenmilizen stossen werden.
Dass neu gebildete Milizen aus dem irakischen Süden viel ausrichten könnten gegen die erfahrenen, oftmals fanatischen und todesentschlossen ISIS-Leute sowie deren Helfer und Freunde, kann man nicht erwarten. Maliki wird sich veranlasst sehen, auch die Kurden zu Hilfe zu rufen.
Bagdad ist auf Kurden angewiesen
Diese werden sich ihre Unterstützung bezahlen lassen. Sie haben Forderungen gegenüber Bagdad, die sie nun durchzusetzen hoffen: eigene Produktion und selbständiger Verkauf des eigenen Erdöls sowie Konzessionen in der umstrittenen Frage der oben erwähnten teilweise kurdischen vorgelagerten Zonen, darunter auch die Frage von Kirkuk.
Die kurdische Führung muss sich allerdings auch sagen, dass eine dauerhafte Festsetzung von ISIS an ihren Grenzen und sehr nah an ihren Herzgebieten für die Zukunft Kurdistans verderblich wäre. Irakisch Kurdistan ist unter anderem bemüht, Anlagekapital aus dem Ausland gewinnen, um das eigene Land aufzubauen und zu industrialisieren. Mit ISIS in der Nachbarschaft wird sich dieses Kapital schwerlich einstellen.
Es hat auch immer wieder Bombenanschläge in den kurdischen Zentren gegeben. Oftmals waren sie gegen die Sitze der dort regierenden Parteien gerichtet. Solche Bomben dürften auf Kräfte zurückgehen, die in Mosul beheimatet sind und gegenwärtig mit ISIS zusammenarbeiten, in erster Linie ehemalige Politiker, Offiziere und Aktivsten der Baath-Partei Saddams. Diese Leute sind geschworene Feinde der Kurden.
Kampf um Ölfelder im Norden
Die irakischen Kurden wissen natürlich auch, dass ihre Landsleute in Syrien, die syrischen Kurden, immer wieder bitter mit ISIS-Kräften zusammenstossen. Dabei geht es darum, wer die kurdischen Enklaven in Nordsyrien beherrschen kann, inklusive der dort gelegenen Ölfelder.
Von der Geschicklichkeit Bagdads wird abhängen, ob sich die irakischen Kurden entschliessen werden, mit Bagdad gegen ISIS zusammenzuarbeiten, oder ob sie die Gelegenheit zu benützen versuchen, den Dauerstreit mit Bagdad zu ihren Gunsten zu lösen, indem sie in den umstrittenen Fragen vollendete Tatsachen schaffen. Rein militärisch wären sie unter den gegebenen Umständen dazu gewiss in der Lage.
Wie werden sich USA und Iran verhalten?
Bagdad hat auch bereits angetönt, dass es die Amerikaner ins Spiel bringen möchte. Ihre Hilfe ist angefordert. Waffenverkäufe sind ja schon im Gange. Amerikanische Agenten sollen sich in Mosul befinden. Doch ob und in wie weit es weitere Hilfe geben wird, ist noch völlig offen.
Der weiteren Aussenwelt, einschliesslich Amerikas, geht es ähnlich wie den irakischen Kurden. ISIS seinen eigenen Staat in Ostsyrien und Westirak aufbauen zu lassen, hätte schwerwiegende Sicherheitsfolgen für alle. Doch dort einzugreifen würde bedeuten, sich auf eine Rolle in dem zu gewärtigenden chaotischen Ringen um die beiden zusammenbrechenden Nachbarstaaten, Syrien und Irak, einzulassen, dessen Ende zur Zeit nicht absehbar ist.
Iran ist an der Stabilität des – schiitischen – Nachbarregimes im Irak interessiert. Was Teheran tun wird, um Maliki zu unterstützen, ist gegenwärtig ebenfalls eine offene Frage.