1913 war der gerade zwanzigjährige Max Kleiber aus Biel-Benken im Kanton Baselland, Absolvent der landwirtschaftlichen Schule Rütti in Zollikofen und ETH-Student, als Farmer nach Kanada ausgewandert. Aber schon im September 1914, kurz nach Kriegsausbruch, meldete er sich zum Militärdienst zurück in der Schweiz. In Kanada hatte es gerüchteweise geheissen, Deutschland habe die schweizerische Neutralität verletzt.
Neben dem Aktivdienst – Kleiber brachte es zum Leutnant der Artillerie – studierte er weiter an der Abteilung für Landwirtschaft der ETH. Er stand kurz vor den Abschlussprüfungen, als er am 14. April 1917 vom Divisionsgericht 4 wegen Dienstverweigerung zu vier Monaten Gefängnis, Degradierung, Ausschluss aus der Armee und Entzug des Aktivbürgerrechts für ein Jahr verurteilt wurde.
Harte Bestrafung einer Dienstverweigerung
Der Erste Weltkrieg mit seinen Greueln hatte Leutnant Kleiber zum religiösen Sozialisten und kompromisslosen Pazifisten gemacht. Das Gericht hatte sich beeindruckt gezeigt von der Lauterkeit von Kleibers Überzeugungen, und die Zürcher Justizdirektion gewährte ihm einen Strafaufschub bis zum Prüfungsabschluss. Aber dann verfügte der Schweizerische Schulrat als Aufsichtsbehörde der ETH Kleibers Ausschluss vom Studium. Mitte Juli stellte sich der Bundesrat hinter den Entscheid.
Das rief den geschlossenen Protest der ETH-Studentenschaft gegen diese „Verletzung der akademischen Freiheit“ hervor. Auch die NZZ fand den Beschluss „gewiss diskutabel“. Gefordert hatte diesen Ausschluss allen voran Ernst Laur (1871–1964), Vorsteher der Abteilung für Landwirtschaft an der ETH und Direktor des Schweizerischen Bauernverbandes. Der mächtige Agrarpolitiker galt seinerzeit als „achter schweizerischer Bundesrat“ und „ungekrönter König der Schweizer Bauern“. Militärdienstverweigerer waren für Laur „überintellektuelle junge Herren mit einer krankhaften Geistesverfassung“.
Die Kirchenpflege streikt
Der Erste Weltkrieg hatte die Situation der werktätigen Bevölkerung in der Schweiz, vor allem in den Städten, massiv verschlechtert. Armut, ja Hunger breiteten sich aus, während Exportindustrie, Banken und auch die Landwirtschaft vom Krieg profitierten.
Die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich hatte auch Auswirkungen auf die Wahlen für die evangelisch-reformierte Kirchenpflege Wipkingen. Sie war lange eine Domäne bürgerlich-mittelständischer Kreise gewesen. Nun hatten Sozialdemokraten, Anhänger der religiös-sozialen Bewegung des Theologen Leonhard Ragaz (1868–1945), plötzlich eine komfortable Mehrheit im Gremium. Und diese Mehrheit beschloss nun, am 1. August 1917 das traditionelle Läuten der Glocken zum Bundesfeiertag zu unterlassen – aus Protest gegen den Ausschluss Max Kleibers vom ETH-Studium.
Mit dem Glockenstreik sollte aber auch gegen die sozialen Missstände und – im Jahr vor dem Landesstreik! – „gegen die Umgestaltung des demokratischen Milizheeres in ein bedingungsloses Werkzeug der herrschenden Klasse“ protestiert werden. Initiant war der Präsident der Kirchenpflege, der Sozialdemokrat Louis Streuli. Er hatte kurz zuvor auch in der Zürcher Kirchensynode verlangt, die umfangreichen schweizerischen Munitionsexporte an die kriegführenden Staaten seien zu verurteilen. Der Antrag wurde abgelehnt.
Saufgelage in der Kirche
Der angekündigte Glockenstreik wurde von den alteingesessenen bürgerlichen Wipkingern als Provokation verstanden. Einige ihrer Vertreter forderten eine Intervention des Stadtpräsidenten, allerdings ohne Erfolg. Darauf brach am Abend des 1. August ein rabiater Trupp die verschlossenen Türen zum Kirchturm auf, um dafür zu sorgen, dass die Glocken doch noch „während einer halben Stunde ihren ehernen Ruf ins Limmattal hinaussandten“ – so die NZZ vom nächsten Tag.
Aber bereits am 3. August berichtete das sozialdemokratische „Volksrecht“ unter dem genüsslichen Titel „Kirchenschändung durch gläubige Christen“, dass die gewaltsame Glockenläut-Aktion des „Wipkinger Zopfbürgertums“ grossen Sachschaden verursacht habe und überdies in ein Saufgelage in der Kirche ausgeartet sei. Nach vollbrachter Tat seien von der Wirtschaft „Zum Ankerhof“ grosse Bierkrüge herbeigetragen worden. Ankerhof-Wirt Siegfried und seine Söhne hatten die Glockenläut-Aktion angeführt. Sie machten zwar geltend, es habe sich lediglich um einen „wohlverdienten Trunk Most“ gehandelt.
Der Skandal war perfekt und blieb für einige Zeit Stadtgespräch. Am 2. September 1917 kam es zu einer Kirchgemeindeversammlung, welche nachträglich über den Beschluss ihrer Kirchenpflege befinden sollte.
Pfarrer Altweggs grosser Auftritt
Mit der Rechtfertigungsrede vor der Kirchgemeindeversammlung wurde Pfarrer Ernst Altwegg (1870–1955) betraut. Der thurgauische Bauernsohn wirkte von 1911 bis 1935 in Zürich-Wipkingen und war aktives Mitglied der religiös-sozialen Bewegung um Leonhard Ragaz. Im Nachruf des „Kirchenboten für den Kanton Zürich“ heisst es, er sei ein „unerschrockener Kämpfer, eine kantige und doch liebenswerte Charaktergestalt von Format“ gewesen. Hinzuzufügen ist: Altwegg war auch ein brillanter Redner!
Pfarrer Altwegg kritisierte ein Christentum, das sich mit den herrschenden Verhältnissen arrangiert und nicht wirklich an die alles verändernde Botschaft vom Reich Gottes glaubt. Seine Worte in der Kirchgemeindeversammlung: „Darum schweigen diese Christen zu allen Härten und Ungerechtigkeiten der sozialen Verhältnisse. Sie schweigen zu der Vergewaltigung und Ausplünderung der einen Klasse durch eine andere. Sie schweigen zu den offenbaren Auswüchsen des Erwerbs- und Geschäftslebens. Sie schweigen zu allen Brutalitäten, mit denen die Staaten sich behaupten zu müssen meinen. Sie schweigen – und verlangen vor allem von ihren Pfarrern, dass sie dazu schweigen sollen. ‚Diese Dinge gehen euch nichts an. Das ist Politik. Und Politik hat mit der Religion nichts zu tun.’“
„Da stehen wir nun eben auf einem grundsätzlich anderen Standpunkt. Wir meinen, das allein sei Christentum, wenn man Gott und das Leben aus Gott unter allen Umständen ernstzunehmen wagt. (...) Darum halten wir es für so wichtig, dass von unsern Kanzeln nicht nur allerlei Erbaulichkeiten gesagt, sondern ein kraftvolles Wort für eine gründliche Umgestaltung unseres wirtschaftlichen und politischen Lebens gesprochen werde. In aller Bescheidenheit halten wir uns für verpflichtet, im Namen des Evangeliums Protest einzulegen, wo wir seine Grundsätze verletzt sehen.“
Die Luft in der Kirche Wipkingen muss an jenem Sonntag zum Schneiden dick gewesen sein. Auf Altweggs Rede folgte eine Diskussion, die laut einem Zeitungsbericht vom nächsten Tag „keineswegs den Eindruck aufkommen liess, dass man sich in einem Gotteshaus befinde“. Aber schliesslich billigte die Wipkinger Kirchgemeindeversammlung den Glockenstreik-Beschluss ihrer Kirchenpflege ganz knapp mit 182 Ja- gegen 176 Nein-Stimmen.
Pazifist und internationale Kapazität
Und Max Kleiber? Im Sommer 1920 konnte er sein Studium doch noch abschliessen. Georg Wiegner, ein deutscher ETH-Professor der Agrochemie, setzte sich für den begabten jungen Wissenschaftler ein und erreichte, dass er als Assistent an seinem Institut eingestellt wurde. Wiegner war als Deutscher 1914 zum Kriegsdienst eingezogen, 1916 verwundet und als kriegsuntauglich entlassen worden. 1924 erschien Max Kleibers Doktorarbeit, 1927 habilitierte er sich an der ETH. Aber eine weitere Karriere war dem Militärdienstverweigerer in der Schweiz verbaut, qualifizierte Stellen blieben ihm verschlossen.
1929 entschloss er sich darum zur Auswanderung in die USA, wo ihm an der Universität von Davis in Kalifornien eine Professur angeboten wurde. Kleiber wurde zu einer international anerkannten Kapazität auf dem Gebiet der Ernährungswissenschaften und 1961 Ehrendoktor der University of California. „Kleiber’s law“ ist ein wichtiger Begriff in den gängigen Lehrbüchern der Tierphysiologie. Max Kleiber starb 1976. Noch als alter Mann hatte er sich gegen die atomare Rüstung und gegen den Vietnamkrieg eingesetzt.
Bis zur Entkriminalisierung der Wehrdienstverweigerung und Einführung eines Zivildienstes vergingen nach dem „Fall Kleiber“ noch fast acht Jahrzehnte – mit hohen Gefängnisstrafen und zahlreichen Berufsverboten für Dienstverweigerer. Erst 1992 wurde nach vielen Anläufen ein entsprechender Artikel in der Bundesverfassung mit 82,5 Prozent Ja-Stimmen angenommen, und 1995 trat das Zivildienstgesetz in Kraft.
Die Jubiläumsveranstaltung
Die denkwürdige Rede von Pfarrer Ernst Altwegg wird als szenische Lesung am Originalschauplatz mit den Schauspielern Hanspeter Müller-Drossaart (als Pfarrer Altwegg) und Isabel Schaerer (für die historischen Anmerkungen) aufgeführt.
Dienstag, 1. August 2017, 20 Uhr
Evangelisch-reformierte Kirche Zürich-Wipkingen
Wibichstr. 43, 8037 Zürich.
Der Anlass ist ein Gemeinschaftsprojekt der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Zürich-Wipkingen mit der Zeitschrift „Neue Wege“.