Natürlich war Mozart ein einsames Phänomen. Trotzdem:
Was war das für eine Zeit, in der ein Sechzehnjähriger es wagen durfte, Verwerflichkeit oder Güte eines zwar vergangenen, aber tatsächlich gelebt habenden Tyrannen abzuhandeln? Auch wenn das Libretto nicht von ihm, sondern vom eindeutig reiferen Autor Giovanni di Gamerra verfasst und vom schon greisen Dichterfürsten Pietro Metastasio überarbeitet worden war.
Prachtentfaltung und Prunk
Wir befinden uns im Rokoko, und zwar zur Zeit der Hochblüte der italienischen „Opera Seria“, in der Prachentfaltung und Prunk oberstes Gebot waren, um auch mittels der kunstvollen, sich überschlagenden Koloraturen aristokratische Anmassung und Verzückungen nicht nur zur Entfaltung zu bringen, sondern sie sogar zu rechtfertigen.
Alle historischen Vorlagen hiefür waren willkommen. Auch wenn sie, wie beim Lucio Silla-Libretto, schon eindeutige Hinweise auf die Fremdherrschaft der Habsburger in Oberitalien bis und mit Mailand aufwiesen. Immerhin war das Werk eine Auftragsarbeit für die Mailänder Karnevalssaison 1773 gewesen. Doch das Libretto passierte anstandslos die habsburgische Zensur.
Die Schreckensherrschaft des Lucius Sulla
Lucius Cornelius Sulla Felix, geb. 138 v. Chr., war ein römischer Politiker, Feldherr und schliesslich drei Jahre lang Diktator Roms. Um seine poilitischen Gegenspieler zu beseitigen, führte er die ersten sogenannten Proskriptionen (Verbannungen) durch und liess in seiner Schreckensherrschaft Tausende römischer Adlige töten. Er ist jedoch vor allem in die Geschichte eingegangen, weil er 79 v. Chr. einen für einen Tyrannen völlig überraschenden Schritt tat: Er legte alle seine Ämter nieder und trat zurück. Dies führte dazu, dass für die Nachwelt sein Nachruhm als weiser, gebrochener Herrscher seine Schreckensherrschaft fast vergessen liess. Dieser Tatsache verdanken wir wohl auch, dass Mozart sich mit dem Stoff überhaupt befasste.
„Lucio Silla“ war die bereits siebte (!) Oper des sechzehnjährigen Mozart. Die Basler Operninszenierung des berühmten und vielfach ausgezeichneten deutschen Regisseurs, Filmemachers und Autors Hans Neuenfels (Jahrgang 1941) ist dessen siebte Operninszenierung einer Mozart-Oper. Neuenfels erzählt uns in seiner Bearbeitung und Version die märchenhafte Geschichte von Brüderlein und Schwesterlein, die von Mozart notdürftig durch ein Liebespaar ersetzt wurden (man denke nur an die innige Liebe zwischen Wolfgang, seiner Schwester Nannerl und dem „Bäschen“) und einem ach so bösartigen und schliesslich bekehrten Tyrannen. Nur in einzelnen Rezitativen dieser gekürzten Fassung wird secco auf die tatsächliche, extreme Gewalt des Lucius Sulla alias Lucio Silla verwiesen.
Tyrannische Begierde
Neuenfels, der immerhin in den Achtzigerjahren die Freie Volksbühne Berlin geleitet hatte, betont zwar im Gespräch, dass Sillas Vorgehen auf die „widerlichste und inhumanste Weise“ erfolgt sei, zieht sich in seiner Inszenierung jedoch ganz auf „Mozarts Hauptthemen von Liebe und Tod“ zurück. „Die Musik Mozarts, das sind offene Falltüren in andere Möglichkeiten“, so in seiner Operneinführung am Theater Basel. Ein schöner Satz, der dem Autor Neuenfels alle Ehre macht. Doch kann man sich mit solchen Sätzen auf alle Positionen zurückziehen – auch ein Vorgehen! Aber wird dies einem solchen, an sich zutiefst politischen und gesellschaftlich relevanten Stoff gerecht?
Die einzig sichtbar gemachte Gewalt in dieser Inszenierung ist eine sexuelle, respektive die Begierde nach sexueller Gewalt an der angebeteten Giunia, Tochter des von Silla vernichteten Gegenspielers Gaius Marius. Dass es in Basel sur scène nicht zu Gewaltorgien à la Zadek oder Hans Hollmann kommt, lässt sicher manche im Publikum aufatmen. Müssen ja auch nicht sein. Aber ist eine ins Riesenhafte vergrösserte Vagina in der geheimen Schatzkammer des Tyrannen, an der er sich blutig reibt, soviel dezenter?
Musikalisches Erlebnis
Wie auch immer man zu dieser Inszenierung (im Bühnenbild von Herbert Murauer) stehen mag: Die musikalische Umsetzung durch den Basler Musikchef Erik Nielsen, das Sinfonieorchester Basel, der hervorragende Basler Theaterchor und, last but not least, eine erlesene und durchwegs junge, lebhaft agierende Sängerschaft lassen diesen Opernabend zum eindrücklichen Erlebnis werden. Einzelne der jungen und zum Teil schon international erfolgreichen Stimmen berechtigen zu grossen Hoffnungen. Zwei der Kastratenrollen wurden nicht mit Countertenören, sondern mit Sängerinnen besetzt, was den Stimm-Zusammenklang ungemein verdichtete.
Den grössten Anteil an diesem bejubelten Erfolg einer doch sehr unbekannten Mozart-Oper aber hat ohne Zweifel das erstaunlich gross besetzte Orchester unter der mitreissenden Stabführung von Henrik Nielsen. Nielsen, der die ursprünglich vierstündige Partitur, welche viele Arienvorspiele und langatmige Wiederholungen enthielt, einleuchtend auf ein fliessendes, dramaturgisch sorgfältig recherchiertes Mass von 2 1/2 Stunden reduzierte, baut musikalische Bilder von zauberhafter Innigkeit, ohne den dramatischen Kern zu vernachlässigen. Wunderbar.