Einführung
(Der vorliegende jetzt von der "Daimler und Benz Stiftung" publizierte Text ist eine aktualisierte und überarbeitete Fassung eines früher gehaltenen Vortrages von Stephan Russ-Mohl. Wegen der Brisanz und der Aktualität des Themas publizieren wir den integralen Text, und zwar in drei Teilen.
Professor Russ-Mohl unterrichtet seit 2002 Journalistik und Medienmanagment an der der Università della Svizzera italiana (USI) in Lugano. Dort leitet er das das European Journalism Observatory (www.ejo.ch). Zuvor lehrte er am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin. Russ-Mohl hat mehrere Bücher verfasst und schreibt regelmässig für grosse deutschsprachige Print-Medien.)
Vom Qualitätsjournalismus zu Zeiten des Internets, Teil 1
Von Stephan Russ-Mohl
Einige einschneidende Ereignisse der Jahre von 2011 bis Anfang 2013 gilt es in Erinnerung zu rufen: Da war, schon fast vergessen, die EHEC-Epidemie, es folgten jüngst die Skandale um Pferdefleisch, falsch deklarierte Bio-Eier und Antibiotika in Truthahnschnitzeln.
Zuvor gab es den dritten Börsencrash innerhalb weniger Jahre, und die Politiker bastelten seither europaweit an immer weiter aufgeblähten Rettungsschirmen für Griechenland, Italien und andere Staaten, die eigentlich pleite sind – zuletzt das kleine Zypern, das sich als Hort von Oligarchen-Fluchtgeldern überlupft hat. Nicht minder spektakulär war die Kehrtwende in der Kernenergiepolitik. Und auch die Bilder vom Amoklauf in Norwegen sowie vom School Shooting in Newtown, Connecticut, haben wir wohl alle noch mehr oder minder vor Augen. Selbst ein Papstrücktritt und die anschließende Papstwahl sorgten in einem eher protestantisch-agnostischen Milieu, wie es die Bundesrepublik inzwischen prägt, für einen bombastischen Medienhype.
Gibt es Gemeinsamkeiten zwischen solchen medialen Großereignissen? Auf den ersten Blick recht wenig, außer dass es sich eben um Geschehnisse handelt, die über Wochen oder gar Monate hinweg unser aller Aufmerksamkeit absorbieren. Auf den zweiten Blick findet sich aber zumindest ein gemeinsamer Nenner. Man kann mit guten Gründen die kühne These vertreten, dass diese Ereignisse gar nicht oder ganz anders stattgefunden hätten, würden Medien und Journalismus ihre Rolle so spielen, wie sie sie im viel beschworenen öffentlichen Interesse in einer Demokratie eigentlich spielen sollten. Es war klar, dass diese zentrale Strophe meines heutigen Lamentos Widerspruch auslösen würde. Eine erste Wortmeldung, die der Einladung zum Vortrag folgte, stammt von Tagesspiegel-Herausgeber Gerd Appenzeller (2011): „Himmel, Himmel, an was wir alles Schuld sein sollen – nun auch an der Griechenlandkrise! Wenn ich mir wenigstens ein paar Milliarden hätte einstecken dürfen, wäre ich ja gerne schuldig geworden … also, das muss ich mir anhören. Ich komme!!“
„The public’s interest“ vs. „The public interest“
Mein Lamento wird folglich zunächst einmal davon handeln müssen, wie ich zu dieser steilen These gekommen bin. Jedes der genannten Ereignisse steht für eine Form medialen Versagens, auf die ich aufmerksam machen möchte – ohne leichtfertig den Verdacht auf Senilität zu nähren und behaupten zu wollen, früher wäre alles besser gewesen. Um meine These bekräftigen zu können, ist eine feinsinnige Unterscheidung wichtig, an die Stephen Whittle und Glenda Cooper (2009) vom Reuters Institute for the Study of Journalism der University of Oxford erinnert haben – und zwar bereits vor dem Abhör-Skandal der Murdoch-Boulevardblätter: Das öffentliche Interesse, „the public interest“, wird im journalistischen Alltagsgeschäft leichtfertig immer wieder mit the „public’s interest“ verwechselt. Während sich Journalisten und Paparazzi-Fotografen leidenschaftlich der Aufgabe widmen, „the public’s interest“, also die Neugier der Publika zu bedienen, kommt im Wettbewerb um Auflagen und Aufmerksamkeit „the public interest“, also unser kollektives öffentliches und gesellschaftliches Interesse an einer funktionierenden Zivilgesellschaft, zusehends unter die Räder.
Die Schäden des EHEC-Zirkus
Beginnen wir bei EHEC. Statt besonnen das Noch-nicht- Wissen der Epidemiologen zu rapportieren, haben die Medien tagelang den Gurkenfund der Hamburger Behörde für Gesundheit und Verbraucherschutz hemmungslos ausgeschlachtet.
Dabei ließ die Pressemitteilung der Behörde den eindeutigen Schluss, die Gurken seien schuld an EHEC, gar nicht zu. Außerdem hatte das zuständige Bundesinstitut für Risikobewertung noch am gleichen Tag mitgeteilt, es sei „nicht bewiesen, dass auf den untersuchten Gurken der gleiche EHEC-Subtyp vorhanden war wie in den Stuhlproben der Erkrankten“, so jedenfalls die Pressesprecherin des Robert Koch-Instituts, Susanne Glasmacher (zit. n. Stollorz 2011).
Die dramatischen Folgen sind bekannt: Eine ganze Ernte wurde vernichtet, mit ihr Existenzen und Arbeitsplätze. Allein den deutschen Steuerzahler habe die „Panikinszenierung der Medien“ 200 Millionen Euro an Ausgleichszahlungen für die angerichteten Schäden gekostet, bilanziert der Leipziger Medienforscher Michael Haller (2011). Er fährt fort – ich zitiere: „Keine Frage, die Pressemitteilungen der Behörden und des Robert-Koch-Instituts waren wichtigtuerisch, vorschnell und absichtsvoll. Aber genau deshalb reklamiert doch der Journalismus für sich die Position des unabhängigen Beobachters, der kritisch nachfragt, um aufklären zu können. Statt nachzufragen, haben die Journalisten auch der tonangebenden Medien nur kolportiert. Und sich immer neue Aufhänger für Panikgeschichten ausgedacht.“
Würden Journalisten gründlich Fakten prüfen, bevor sie Alarmmeldungen hinausposaunen, hätte es den EHECZirkus so nicht gegeben.
Dass sie das nicht tun, dass sie stattdessen eher voneinander abschreiben, hat gleich doppelt mit Ökonomie zu tun – denn wer möchte sich schon durch aufwendige, teure Recherche eine Geschichte kaputtmachen, die ohne Rechercheaufwand Auflage und Quote sichert? „Wer hohe Quoten haben will, muss Katastrophenankündigen“, so Norbert Bolz (2011).
Das gilt auch für das Pferdefleisch in der Lasagne und für die falsch deklarierten Bio-Eier. In beiden Fällen handelt es sich zwar um skandalösen Betrug, aber eben um keine Katastrophen. Es ließe sich trefflich darüber streiten, was die größeren gesellschaftlichen Schäden verursacht hat: die Betrüger im Agro- und Ernährungsbusiness selbst oder die Medien mit ihrer aufgeplusterten Berichterstattung über diese Fälle.
Fraglos kommt dann noch Herdentrieb dazu, dem sich das einzelne Medium, die einzelne Redaktion nicht entziehen kann. Von Stanislaw Lem stammt der Aphorismus: „Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“. Damit hat Lem eine Grundregel des anspruchsvollen Journalismus formuliert. Aber das schwarze Schaf, das diese Regel ernst nimmt und sich gegen die Herde stemmt, läuft eben Gefahr, niedergetrampelt zu werden. Bequemer ist es allemal, sich der Herde im Galopp anzuschließen – solange sie sich dabei nicht kollektiv, den Lemmingen gleich, ins Verderben stürzt. Schwarmintelligenz (Shirky 2009, 2010) sähe indes anders aus – Matthias Döpfner, der Chef der Springer AG, hat ihr jüngst die „Schwarmdummheit“ entgegengesetzt (zit. n. Zimmermann 2011).
Mitschuld am Meltdown der Finanzmärkte?
Mit Schwarmverhalten hat jedenfalls auch unser zweiter Fall zu tun: Hätten die Watchdogs in den Wirtschaftsredaktionen wirklich aufgepasst, dann bedürfte es heute schlichtweg keiner Rettungsschirme – und die Medien könnten auch nicht täglich neu den Weltuntergang inszenieren. Es wäre einfach nie so weit gekommen, dass ringsum in Europa die politischen Eliten glauben, Gesetze machen zu können, an die sich gefälligst die anderen halten sollen, nur sie selbst nicht. Jedenfalls hätten kundige Wirtschaftsjournalisten uns rechtzeitig davor warnen müssen, dass der Pleitegeier über mehreren europäischen Staaten kreist. Vielleicht hätte es dann den Euro nie gegeben.
Die Frage, welche Mitschuld am Meltdown der Banken und der Finanzmärkte möglicherweise die Medien und den Journalismus treffen könnte, hat am amerikanischen Beispiel Anya Schiffrin (2011) von der Columbia University aufgeworfen. Sie gehört zu den weltweit raren Experten, die den Wirtschafts- und Finanzjournalisten genauer auf die Finger sehen.
In dem von ihr herausgegebenen Büchlein „Bad News“ hat sie von allen möglichen Seiten ausleuchten lassen, was schiefgelaufen ist. Im Untertitel fragt sie kess danach, wie es passieren konnte, dass „Amerikas Wirtschaftspresse die Geschichte des Jahrhunderts verfehlte“.
Einer ihrer Autoren ist der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz. Er lässt keinen Zweifel daran, dass eine kritische Presse dem Herdentrieb entgegenwirken könnte, der Spekulationsblasen entstehen lässt. Sie könnte für die nötigen „checks and balances“ sorgen und „zur Gesundung von Märkten beitragen, die den Bezug zur Realität verloren“ haben. Andererseits macht Stiglitz aber auch klar, weshalb solch ein Anspruch vielfach Wunschdenken bleibt: Journalisten „stehen nicht abseits vom Rest der Gesellschaft. Auch sie werden leicht von der Herdenmentalität erfasst“ – und es gebe starke Anreize, weshalb sie sich meist nicht „gegen den herrschenden Wind“ stemmen könnten. (Stiglitz 2011, 24)
„Die Medien spielen eine zentrale Rolle beim Bewegen der Herde – in den Jahren vor der Krise geleiten sie diese in die Spekulationsblase hinein, und nach deren Platzen in den tiefen Pessimismus, der sich dann in der Welt ausbreitet“, so weiter Stiglitz (2011, 24). Das soll wohl heißen, die Medienberichterstattung wirkt jeweils prozyklisch, also krisenverschärfend.
Stiglitz sieht „in der symbiotischen Beziehung“ zwischen Journalisten und ihren Quellen eine große Gefahr. Dieses enge Verhältnis füge der Gesellschaft oftmals Schaden zu. Außerdem verleite „Hybris Journalisten zu der Fehleinschätzung, sie könnten als Empfänger von Informationen verzerrte und fehlerhafte Darstellungen aussortieren, solange sie nur die Information selbst bekommen.“ (Stiglitz 2011, 26)
Farbenblinde Reporter, Korken im Niagara-Strom
Die Redaktionen flüchteten sich allzu oft in „he said, she said“-Berichterstattung, ein „einfaches, wenig ausgewogenes Reportieren der verschiedenen Positionen, ohne jedwede Analyse“ – als würde „ein farbenblinder Reporter über den Himmel berichten und denen, die ihn für orangefarben erklären, gleiches Gewicht geben wie denen, die ihn für blau halten.“ (Stiglitz 2011, 30)
In einem weiteren Beitrag präsentiert Dean Starkman von der Columbia Journalism Review eine Inhaltsanalyse, die im Zeitraum von Anfang 2000 bis Mitte 2007 die neun wichtigsten Wirtschaftsmedien der USA umfasst. Er identifiziert immerhin 730 Beiträge, in denen vor der Krise gewarnt wurde. Gemessen an den 220 000 Artikeln, die allein das Wall Street Journal in diesem Zeitraum veröffentlicht habe, sei das aber eben wie „ein Korken, der auf einem Nachrichtenstrom von der Größe der Niagara-Fälle daherkommt“.(2011a, 43)
Soll heißen, es gab kritische Berichterstattung, aber sie ging in der Flut der PR-induzierten „good news“ unter. Über diese Fernsteuerung des Journalismus durch bestens ausgerüstete Stäbe und Agenturen für Öffentlichkeitsarbeit erfahren wir in der Berichterstattung der Medien so gut wie nichts – ebenso wenig wie über die Kompetenzgrenzen der Journalisten, welche die Mainzer Forschergruppe um Oliver Quiring und Hans Matthias Kepplinger vornehmzurückhaltend umschreibt: Sie hätten Orientierungsbedarf, statt dass sie uns Orientierung vermittelten (Quiring et al. 2013, 11).
Früher habe man Journalisten auf Missstände aufmerksam machen können, und diese hätten dann weiter recherchiert, berichtete ein Greenpeace-Vertreter auf einer Tagung des Vereins Medienkritik in der Schweiz. Heute müssten NGOs die Recherchen selber durchführen. (Stutz 2011) Die Wissenschaftsberichterstattung der Schweizer Nachrichtenagentur sda finanziert die Schweizer Rektorenkonferenz, die Wissenschaftsseite des hochprofitablem Gratisblatts 20 Minuten sponsern zwei Stiftungen. Der Schweizer Drogistenverband suchte kürzlich einen Radiojournalisten, um in verschiedenen Lokalradios eine wöchentliche Gesundheitssendung zu verbreiten. Die Drogistenlobby möchte die Sendung selber produzieren (Stutz 2011) – hier ersetzt PR ganz schamlos bereits komplett den Journalismus.
„Journalismus wie PR hören auf, eine Profession zu sein“, hat mir der Kommunikationsberater Klaus Kocks (2011) mitgeteilt. Das schmerze die Profis in beiden Lagern. In diesem Fall muss ich ihm widersprechen: Eine Entprofessionalisierung vermag ich nur im Journalismus festzustellen. Und zu ihr trägt, so befürchte ich, die fortschreitende Professionalisierung der PR bei, die sich inzwischen übrigens viel lieber „Kommunikationsmanagement“ nennt – auch diese sprachschöpferische Leistung gilt es zu goutieren.
Fukushima und die verspätete Energiewende
Ich komme zu meinem dritten Beispiel: Hätten die Medien hartnäckig recherchiert und nicht immer wieder, mitunter jahrelang, weggeguckt, wäre die Energiewende in Deutschland wohl weniger abrupt und mit weniger absurden Resultaten eingeleitet worden – dafür aber sehr viel früher. Nicht Fukushima wäre zu ihrem Auslöser geworden, sondern die seit eh und je ungeklärte Frage, wie sich Atommüll entsorgen und endlagern lässt (Posner 1990). Würden umgekehrt die Medien in Frankreich und Tschechien weniger Hofberichterstattung betreiben, könnten dort Atommeiler kaum auch nach Fukushima fleißig weiter Strom produzieren, den sie seither vermehrt in die Netze bei uns in Deutschland einspeisen.
Das vierte Exempel: Auch der Terroranschlag von Norwegen und diverse School Shootings wie zuletzt in Newtown sind schwer vorstellbar, hätten nicht andere Attentäter bereits zuvor nach weltweiter Medienaufmerksamkeit gegiert und diese auch – ziemlich berechenbar – bekommen. Ist es wirklich undenkbar, unter zivilisierten Menschen in solchen Fällen zu einem freiwilligen Arrangement zu finden, das die Medienaufmerksamkeit im öffentlichen Interesse drosselt? (Frey 2004)
Andererseits erzeugt nicht nur das Abgründig-Negative Medienhypes – und selbst einer 2000 Jahre alten Institution wie der katholischen Kirche ist zu attestieren, dass sie, dem Weltlichen nur scheinbar abgewandt, das Spiel des Kommunikationsmanagements beherrscht (Arasa et al. 2011).
Auch Papstrücktritt und -neuwahl wären ohne TV-Kameras, ohne Abertausende Kameras in Smartphones und ohne Facebook und Twitter-Accounts fraglos ganz anders verlaufen – das Zusammenspiel alter und neuer Medien war jedenfalls ein überwältigender PR-Erfolg für die katholische Kirche. Der Berliner Umweltforscher Sandor Ragaly (2011) hat auf meinen Crowdsourcing-Versuch reagiert und daran erinnert, wie „bereits das bloße Vorhandensein der journalistischen Beobachter und eines hervorragend ausdifferenzierten Systems von Nachrichtenflüssen … den Charakter der „realen“ politischen Geschehnisse [ändert] oder … sie gar hervor[bringt].“ Diese Geschehnisse würden von Akteuren vorangetrieben, „die gleichsam permanent vor einer ArtSpiegel handeln“.
Ragaly verweist auf die (Eigen-)Dynamik des Mediensystems bzw. von Themenkonjunkturen. Der Medieneinfluss in Krisen sei also nicht primär eine Frage journalistischen Fehlverhaltens. Damit hat er zwar recht. Aber ganz so einfach sollten wir diejenigen, die im Mediensystem Entscheidungen treffen, dann vielleicht doch nicht aus ihrer Haftung entlassen. Wenn Journalisten vielfach zum individuellen und kollektiven Realitätsverlust beisteuern, statt uns zu informieren, wenn sie uns mit der Apokalypse, die sie tagtäglich verkünden, überfordern, wenn es auch klugen Menschen kaum noch gelingt, reale Krisen von medial konstruierten zu unterscheiden, dann wäre es an der Zeit, dies öffentlich zu thematisieren und die Kollateralschäden zu benennen, welche die Medien verursachen.
Doch von den medialen Windmaschinen zu erwarten, dass sie das selbst tun, dass sie ihre eigene Unzulänglichkeit thematisieren, dass sie uns nicht nur über EHEC und Pferdefleisch- Lasagne, die Finanzkrise und Fukushima, sondern über sich selbst aufklären, ist vermutlich zu viel verlangt. Da haben wir es wohl mit dem berühmten blinden Fleck des Journalismus zu tun (Kreitling 1996).