Hiobsbotschaften aus China sind nichts Neues. In den letzten 35 Jahren oszillierte die westliche Wahrnehmung stets zwischen rosarotem Optimismus und pechschwarzem Pessimismus. Zum Beispiel nach den von einer heillos überhitzten Wirtschaft verstärkten Demonstrationen von Arbeitern und Studenten auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens Tiananmen 1989 für mehr Transparenz und weniger Korruption.Oder bei der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98. Oder bei der von gierigen westlichen Bankern und Finanzmärkten 2007/2009 verursachten weltweiten Wirtschaftskrise. Immer hat trotz aller Unkenrufe dabei die kommunistische Führung, ganz einem paternalistischen Staatskapitalismus verpflichtet, doch etwas richtig gemacht. Immerhin ist heute China politisch stabil, Export-Weltmeister und nach den USA die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt. Den Chinesinnen und Chinesen geht es so gut wie nie zuvor in der Geschichte.
Weltrezession?
Gerade aber weil das Reich der Mitte in den letzten dreieinhalb Reform-Jahrzehnten so schnell gewachsen ist – im Durchschnitt mit etwas über 9 Prozent pro Jahr - spielt es mittlerweile ökonomisch eine weltweit tragende Rolle. Nach Erkenntnissen des Internationalen Währungsfonds (IMF) ist China seit fünf Jahren für über 30 Prozent des weltweiten Wirtschaftswachstums verantwortlich, die USA für 17 Prozent sowie Japan und Europa für 10 Prozent. Für Amerika und Europa ist China ein willkommener Abnehmer hochwertiger Industriegüter, und Schwellen- und Entwicklungsländer profitieren als wichtige Rohstofflieferanten. Jetzt sieht alles düsterer aus. Chinas Wachstum normalisiert sich, westliche Exporte und Rohstoffpreise leiden. Das Leitmedium des internationalen Kapitalismus, das „Wall Street Journal“, munkelt bereits dunkel, vielleicht sei China jetzt die Quelle der nächsten Weltrezession.
Für einmal begibt sich das Weltblatt auf das Niveau der kurzatmigen Börsen-Analysten und Bank-Chefökonomen. Weil sich im ununterbrochenen News-Strom die Negativ-Nachrichten gegenseitig verstärken, könnte sich das ganze schliesslich als sich selbst erfüllende Prophezeiung herausstellen. Das Schweizer News-Portal „Watson“, das sich stets seines „Contents“ rühmt, titelte in sülzig-dräuendem Boulevard-Stil am 24. August: „Abwertung und Börsencrash: Stürzt China die Weltwirtschaft ins Elend?“.
Spielcasino-Ersatz
Negativ-Nachrichten aus dem Wirtschaftswunderland China häuften sich in den letzten drei Monaten. Zunächst tauchten die Börsen in Shanghai und Shenzhen markant Richtung Süden. So hiesse es etwa zu Beginn der letzten August-Woche in europäischen und amerikanischen Qualitätsblättern: „Der Einbruch des chinesischen Börsen um 9 Prozent erreichte am Montag einen neuen Höhepunkt. ... Das ist der grösste Kurseinbruch seit Beginn der Finanzkrise 2007“. In den folgenden drei Tagen kamen nochmals Verluste von minus 7, minus 8 und minus 1,3 dazu. Zeitungen und Websites bebilderten das Desaster meist mit dem immer wieder auftauchende Cliché-Photo eines sich an den Kopf greifenden „Investors“. Die Konjunkturabkühlung sei der Grund, warum die Anleger sich zurückziehen. Oder die Abwertung des Yuans. Das allerdings ist allenfalls die halbe Wahrheit, wenn überhaupt, denn im Reich der Mitte zocken an der Börse – wegen Glücksspielverbot eine Art Ersatzcasino – vor allem Klein- und Kleinstverdiener. Es war kein Crash, sondern die längst überfällige Kurskorrektur des grotesk überbewerteten chinesischen Aktienmarktes.
Auch die Nachrichten aus der chinesischen Realwirtschaft zeigen mit der westlichen Ökonomen-Brille eher ins Negative. Das Wachstum in den beiden ersten Quartalen war nach den Vorgaben der Regierung mit plus 7 Prozent knapp genügend, und das laufende dritte Quartal entwickelt sich in Richtung einer weiteren Abschwächung. Die Prognosen chinesischer Wirtschaftsprofessoren: plus 6,8 Prozent für 2015.
„Willkommene Etappe“
Mit Enttäuschung wurde im Westen – zumal in den USA – auch die Abwertung der chinesischen Währung Yuan Renminbi registriert. Zu Unrecht, denn was die kapitalistischen Staaten seit Jahren fordern, wird jetzt langsam Realität. Mit der neuen Referenz-Setzung des Wechselkurses steuert Chinas Zentralbank – die Volksbank – unter Notenbankchef Zhou Xiaochuan eine Annäherung an den Markt an. Lob deshalb vom Internationalen Währungsfond IMF, der den Schritt als eine „willkommene Etappe“ zur Verbesserung bei der Bildung des Wechselkurses bezeichnet und hinzufügt: „China kann und muss ein effizientes System der flottierenden Wechselkurse in zwei bis drei Jahren anstreben“.
Unterdessen ist der Yuan Renminbi die im Handelsverkehr fünfthäufigste Währung der Welt, und wird neben dem US-Dollar, dem japanischen Yen, dem britischen Pfund und dem Euro wohl bald in den IMF-Währungskorb der Sonderziehungsrechte eingebettet. Nach Einschätzung sowohl westlicher als auch chinesischer Ökonomen ist das nicht mehr eine Frage des Ob sondern nur noch des Wann. Was noch fehlt ist die Konvertibilität – die freie Handelbarkeit – des Yuan. Wenn nicht alles täuscht, wird also bald – vermutlich 2016 – ein Meilenstein in der Internationalisierung des Yuan erreicht. Bereits gibt es Yuan-Handelszentren in über einem Dutzend Städten, darunter Hong Kong, Singapur, Sidney, Toronto, Frankfurt oder Dubai. Bald wird auch Zürich dazugehören.
Nachhaltiges Wirtschaftsmodell
Der Internationale Währungsfonds lobt nicht nur, sondern mahnt China auch zu „mutigen Strukturreformen“. Das hat die allmächtige Kommunistische Partei unter der Führung von Staats-, Partei- und Militärchef Xi Jinping längst erkannt. Doch Strukturreformen sind leichter dekretiert als durchgesetzt. Interessen der Partei-, Regierungs- und Staatsbetriebs-Bürokratie von der Zentrale bis in die Provinz stehen auf dem Spiel. Seit über zwei Jahren wird an einem neuen, „nachhaltigeren“ Wirtschaftsmodell gearbeitet: Weniger Abhängigkeit von Export sowie von Infrastruktur- und Immobilien-Investitionen und mehr Gewicht auf Binnennachfrage, Konsum, Innovation, High-Tech und Qualität.
Zur „Nachhaltigkeit“ gehört nach offiizieller Auffassung auch der „entschlossene Kampf“ gegen die Korruption und vor allem Schonung der natürlichen Ressourcen, also der Umwelt insgesamt, aber auch eine bessere Verteilung der finanziellen Mittel. Mehr Markt in allen Bereichen – damit soll seit anfangs 2013 mit den jeweils vom Politbüro, dem Zentralkomitee und dem Nationalen Volkskongress verabschiedeten Reformschritten die chinesische Volkswirtschaft „harmonisch“, d.h. sozialverträglich vorangetrieben werden.
„Ozean-Tiefwasser“-Phase
Die Wirtschaftsdaten aus dem Reich der Mitte sind entgegen der allgemeinen Börsen-Hysterie gar nicht so schlecht. Ein Wachstum zwischen 6 und 7 Prozent kann sich durchaus sehen lassen. Von Rezessionsängsten, wie westliche Finanz- und Börsen-Analysten schwadronieren, keine Spur. Parteichef Xi Jinping hat schon vor längerem das Wort vom „Neuen Normalen“ geprägt. Premier Li Kejiang, promovierter Wirtschaftswissenschafter, wiederum verwendet in Anlehnung an das Diktum von Reform-Übervater Deng Xiaoping – „den Fluss überqueren und die Steine an den Fusssohlen spüren“ – die Metapher von einer neuen Ära des „Ozean-Tiefwassers“. Was Xi und Li mit ihren Wortschöpfungen auszudrücken versuchen, ist – für Westler übersetzt – das einfache Faktum, dass China in der neuesten Wirtschaftsphase ein zwar wichtiges, dennoch aber normales Land geworden ist. Ähnlich wie vor einiger Zeit etwa Japan, Taiwan oder Südkorea schwenkt jetzt auch China von exorbitanten auf moderatere Wachstumsraten ein. Wie immer bis anhin, so hoffen die roten Kapitalisten, mit einer weichen Landung der Wirtschaft.
So betrachtet ist China zusammen mit den USA zwar immer noch die Wachstums-Lokomotive der Weltwirtschaft. Doch die Entwicklungen anderswo auf der Welt, zumal in Europa und den Schwellenländern, sind bei der Analyse der Weltkonjunktur nicht zu vernachlässigen. Ökonomisch ist die interdependente Welt heute auch eine andere als noch zur Zeit der asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise 1997/98 oder dem weltweiten Finanz-Debakel 2007/09. Die Schwellenländer sind bei allen wirtschaftlichen und politischen Problemen heute wirtschaftlich besser aufgestellt als damals.
Mandat des Himmels
Wirtschaftswissenschafter mit ihrer eher langfristigen Perspektive wissen das alles. Die KP Chinas auch. Im Hebst wird wie jedes Jahr das Plenum in Peking zusammentreten, die Entwicklung der vergangenen zwölf Monate auf der Grundlage eines längerfristigen Plans kritisch durchleuchten und für die nähere Zukunft die Ziele vorgeben. Tian Yun, Chefredaktor einer wichtigen Wirtschafts-Website, wird in der Tageszeitung „Global Times“ – einem Ableger des Parteisprachrohrs „Renmin Ribao“ (Volkkszeitung) - mit den Worten zitiert: „Die Regierung versucht mit Taten und nicht mit Worten zu führen“. Von Taten erwarten die Chinesinnen und Chinesen – vom Bauern bis hin zum städtischen Mittelständler – vor allem eines: jedes Jahr mehr Wohlstand, jedes Jahr die nötigen gut zehn Millionen neuen Arbeitsplätze. Ohne das droht Chaos (Luan). Das wiederum bringt – wie so oft zur Zeit der Kaiser-Dynastien – das Mandat des Himmels und mithin die Macht in Gefahr.
Die hochbezahlten Finanz- und Börsen-Analysten und auf schnelle Profite orientierte Investoren freilich kümmern langfristige Prerspektiven im permanenten digitalen News-Gehechel keinen Deut. Es gibt zwar Volatilität an der Börse, Turbulenzen auf den Finanzmärkten und in der Wirtschaft, gewiss, doch bei allseitigem rationalem Handeln steht die Welt nicht vor einem Wirtschafts-Kollaps. Schon gar nicht vor einer durch China verursachten weltweiten Rezession. Es sei denn, dass durch News- und Börsen-Hysterie und durch Einprügeln auf den wohlfeilen Sündenbock China sich die aktuelle Lage in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung verwandeln wird.