Die Unruhen in Syrien nehmen ihren Lauf. Jeden Freitag finden Demonstrationen statt, am intensivsten in kleineren städtischen Zentren der Provinz. Syrische Truppen unterdrücken sie mit Gewalt. Dabei sterben regelmässig zehn bis zwanzig Menschen. Nur ganz grobe Schätzungen gibt es über die Zahl der Verletzten, der Festgenommenen, der Misshandelten und der Gefolterten. Auch bei den Begräbnissen der Opfer, die zu demonstrationsartigen Zügen anwachsen, lässt das Regime in die Menge der Trauernden schiessen.
Die Toten rufen nach Vergeltung
Die Sicherheitskräfte nehmen sich ein Unruhezentrum nach dem anderen vor. Mit ihren Methoden versuchen sie, diese Zentren zu „beruhigen“. Sie umzingeln die Ortschaften mit Tanks und dringen dann in einzelne Häuser ein. Dort suchen sie Anführer des Widerstands. Wenn diese geflohen sind, nehmen sie ihre Familienmitglieder fest. Im Augenblick ist die Stadt Homs an der Reihe.
Doch die Zentren des Widerstands sind zu zahlreich, als dass mit diesen Methoden alle zugleich in die Zange genommen werden könnten. Während die "Belagerung" eines solchen Zentrums noch andauert, entsteht schon ein neuer Unruheherd, wo erneut demonstriert wird. Langsam aber stetig nehmen immer mehr Leute an den Demonstrationen teil. Und an immer mehr Orten wird demonstriert.
Es sind die Methoden der Sicherheitskräfte selbst, welche für die Ausbreitung des Widerstands sorgen. Die Toten rufen nach Vergeltung. Wut und Verzweiflung der Bevölkerung wachsen. Offene Auflehnung bricht überall dort aus, wo die zentralen Sicherheitskräfte abwesend sind.
Religiöse und soziale Gemeinschaften
Doch im Ringen um die Zukunft des Landes droht die syrische Gesellschaft auseinanderzubrechen. Dies spielt sich zunächst zwischen den verschieden "Religionsgemeinschaften" ab. Diese Gemeinschaften sind nicht nur religiöse Gemeinschaften, sondern auch soziale. Am deutlichsten grenzen sich sie dadurch voneinander ab, dass ihre Mitglieder normalerweise untereinander heiraten und Familien gründen. Heiraten ausserhalb der eigenen Gemeinschaft kommen selten vor. Sie sind zwar legal, aber werden von den Gemeinschaften selbst und von den allermeisten Familien sehr ungern gesehen. Dass sie überhaupt stattfinden können, setzt in der Praxis voraus, dass einer der beiden Ehepartner - mindestens pro Forma - zur Religionsgemeinschaft des anderen übertritt.
Seit vierzig Jahren herrschen die Alawiten
Im Jahr 1971 ergriff der Vater des heutigen Präsidenten die Macht im Land. Seither, also seit vierzig Jahren, werden die Syrer von der Gemeinschaft der Alawiten beherrscht. Regiert wird das Land von einigen Verwandten und Auserwählten der Asad-Familie. Allerdings ist unklar, wer genau die Regierenden sind. Im unteren Teil der Machtpyramide verzettelt sich die Macht. Dort dominieren Polizei-, Unteroffiziere und Mannschaften. Natürlich muss man da zwischen Sicherheitsbeamten und Verkehrspolizisten unterscheiden.
Hauptträger der Macht: die Sicherheitsdienste
Das enge Gefüge der zivilen Sicherheitskräfte dürfte sich ebenfalls bis tief hinab in Händen von alawitischen Regimeanhängern befinden. Auch die militärischen und geheimen Sicherheitsnetze werden von Asad-Vertrauten beherrscht. Deshalb sagen die Syrer, sie würden von „den Alawiten“ regiert.
Vertrauensleute im Wirtschaftsbereich
Im wirtschaftlichen Bereich ist die Zusammensetzung wohl weniger einheitlich. Die baathistische Staatspartei hat dort ihre Vertreter. Diese können aus Syrern aller Gemeinschaften bestehen. In erster Linie natürlich aus der weitaus grössten Gemeinschaft, jener der Sunniten. Doch die Partei ist hierarchisch aufgebaut. An ihrer Spitze stehen der alawitische Präsident Asad und seine engsten Vertrauten. Als Vater Asad vor 40 Jahren die Macht ergriff, setzte er all jene Oberhäupter der Baath-Partei ab, die ihm nicht gehorchen wollten.
Dazu kommen besonders im Wirtschaftsbereich viele Opportunisten, aus allen Kreisen, die sich mit der herrschenden Schicht verbinden und mit ihr zusammenarbeiten, um Karriere zu machen und wirtschaftliche Schlüsselpositionen zu erlangen.
Verbündete sind auch eine bedeutende Zahl von alten Händler- und neueren Unternehmerfamilien aus den christlichen oder auch sunnitischen Kreisen. Sie haben taktische Bündnisse mit den Machthabern abgeschlossen. Sie stützen die Staatsmacht um der Stabilität willen, die von 1971 bis 2011 unter den Asads bestanden hat. Sie werden von den Asads gestützt, deren verlässliche Partner sie sind.
Vor Asad Vater und seit seiner Unabhängigkeit vom französischen Kolonialismus (1946) war Syrien ein wirrer Unruheherd mit regelmässigen Staatsstreichs gewesen.
Tolerierte Christen
"Die Christen" werden im Volk, besonders unter den Sunniten, ebenfalls vereinfachend, als ein untergeordneter Teil der herrschenden Macht angesehen. Sie bilden neben der alawitischen eine andere Minderheit. Auch sie wurden immer wieder von der sunnitischen Mehrheit verfolgt.
Unter den Asads ist es ihnen besser gegangen als den Syrern der sunnitischen Mehrheit. Die christlichen Oberschichten und Technokraten wurden von den regierenden Alawiten bedenkenloser toleriert als die Sunniten. Diese wurden stets verdächtigt, sich heimlich gegen die Regierenden aufzulehnen.
Jetzt brechen die Gegensätze auf
Sowohl die christlichen als auch die alawitischen Oberschichten haben ein Interesse daran, dass sich ihre eigenen Gemeinschaften ihnen unterordnet. Deshalb rufen sie ihre Glaubensanhänger auf, zusammenzuhalten. Doch beide Minderheiten betonen, dass eine Rivalität zwischen den Gemeinschaften „für uns alle“ gefährlich sein könnte.
Deshalb fürchten sich sowohl Christen wie auch Alawiten, dass die gegenwärtige Ordnung zusammenbricht. Selbst jene fürchten sich, die nicht direkt vom Regime profitieren. Sie alle haben Angst, dass bei einem Zusammenbruch der jetzigen Ordnung die sunnitische Mehrheit, die jahrelang vom Regime unterdrückt wurde, Rache üben könnte.
Es ist unvermeidlich, dass ein derart gestaltetes Gemeinschaftsgefüge zunehmenden Belastungen ausgesetzt ist, wenn es in ihrem Gesamtverbund, der durch den syrischen Staat gegeben ist, zu blutigen Auseinandersetzungen kommt.
Im Alltagsleben, vor allem auch im wirtschaftlichen, wurden die existierenden Gegensätze und Abgrenzungen bisher übertüncht. Doch jetzt brechen die Unterschiede auf und treten in den Vordergrund. Jetzt werden die herrschenden Alawiten von einer Mehrheit der Syrer zunehmen als politische Gegner wahrgenommen – ebenso die mit den Alawiten verbundenen Christen. Umgekehrt werden die Sunniten von den Alawiten als Feinde des Regimes dargestellt.
Im Namen Syriens und der eigenen Gemeinschaft
Beide Seiten in dem fortdauernden Kräftemessen verfolgen eine Doppelstrategie. Sowohl die Herausforderer des Regimes wie auch seine Verteidiger geben vor, im Namen ganz Syriens zu sprechen. Die Oppositionellen bezeichnen die Regierung als „Machtklüngel“. Anderseits bezeichnet das Regime die Aufständischen als „bewaffnete Banden“. Beide wollen ganz Syrien und damit all seine Religionsgemeinschaften vertreten. Doch gleichzeitig gibt es kein „Wir“. Die Demonstranten kämpfen gegen „die Alawiten“ – und die Regierenden gegen „die Sunniten“. Zwei Blöcke stehen sich gegenüber: die sunnitische Mehrheit und die alawitisch-christliche Minderheit.
Die Kluft wird tiefer
Je heftiger die Zusammenstösse werden, desto mehr wächst das Interesse der führenden Kreise auf beiden Seiten daran, "ihre" Gemeinschaften hinter sich zu scharen, indem sie ihre Gefährten und Untergebenen daran erinnern, dass sie den Racheakten der Gegengemeinschaft ausgesetzt sein werden, sobald sie sich ihrer nicht mehr erwehren können. Provokationen mit dem Zweck, dies deutlich zu machen, werden immer häufiger und bilden in steigendem Masse einen wichtigen Teil der eigenen Strategie.
Der Staat setzt Scharfschützen ein und erschiesst wahllos protestierende Gegner. Damit verschärft sich der Konflikt zwischen den Gemeinschaften. Damit vertieft sich die Abgrenzung und stärkt den Zusammenhalt der eigenen Seite. Davon hängt letztlich das Überleben des Regimes ab.
Die Demonstranten betonen immer, sie seien „Syrien“. Sie sagen, sie sprächen im Namen Aller gegen „den Tyrannen“. Doch je tiefer die Kluft zwischen den Gemeinschaften wird, desto mehr sieht die Mehrheit der Syrer den Ursprung allen Übels bei den Alawiten. So sieht sich die Bevölkerung „den Schüssen der Alawiten“ und den Misshandlungen der „alawitischen Schergen“ ausgesetzt. Deshalb könnten die Alawiten – und die mit ihnen zweckverbündeten christlichen Oberschichten – zur Zielscheibe von Vergeltung werden.
Wie lange hält die Armee zusammen?
In der Armee dienen die syrischen Sunniten als Soldaten und Offiziere. Doch die entscheidenden Posten sind mit alawitischen Offizieren und Sicherheitsoffizieren besetzt. Da dürften sich die auseinanderstrebenden Kräfte der beiden Gruppierungen am schärfsten auswirken. Doch darüber erfährt man aus der Armee nichts. Offiziell ist sie natürlich unauflösbar vereint.
Es gibt nur Gerüchte. Ab und zu gibt es Berichte von Überläufern, denen die Flucht ins Ausland gelungen ist. Diese Meldungen könnten darauf hinweisen, dass Soldaten, die sich weigern, auf die Bevölkerung zu schiessen, exekutiert werden.
Möglicherweise kommt es vor allem an Grenzorten zu Befehlsverweigerungen und Meutereien. Doch vielleicht dringen nur von dort solche Berichte ins Ausland, weil die Überläufer dort die Möglichkeit haben, über die Grenzen zu fliehen.
Dies geschah seit Beginn der Aufstände an der jordanischen Grenze. Dort sind die ersten Unruhen in der Grenzstadt Deraa ausgebrochen. Später brachen Aufstände im Grenzort Tell Kalakh an der libanesischen Grenze aus. Unter der fliehenden Zivilbevölkerung befanden sich auch Überläufer aus der Armee. Umkämpft wurde auch an der türkischen Grenze die Stadt Jisr ash-Shoghour. Dort sollen sich sogar höhere Offiziere mit Teilen ihrer Einheiten gegen die Truppen des Regimes zur Wehr gesetzt haben.
Neuerdings gibt es Berichte über eine grössere Meuterei in der Armee, die im Grenzort Abu Kemal, am Mittleren Euphrat, dem Grenzübergang zum Irak, ausgebrochen sei.
Es ist denkbar oder fast zu erwarten, dass unter den gegenwärtigen Umständen die Spannungen in der Armee eskalieren. Sie könnten entweder zu einem Zusammenbruch des Regimes oder zu einem offenen Bürgerkrieg führen.