«Marty fucking Baron», hat ein Reporter der «Post» den Chef voller Respekt genannt, als der letzte Woche unerwartet ankündigte, er werde seinen Posten bereits Ende Februar verlassen. Baron war 2013 in grosse Fussstapfen getreten, denn noch war seinerzeit zwei Nachfolgern zum Trotz Chefredaktor Ben Bradley unvergessen. Unter ihm hatte die Hauptstadtzeitung in den frühen 1970er Jahren die Pentagon-Papers publiziert und dank Bob Woodward und Carl Bernstein den Watergate-Skandal aufgedeckt.
Doch auch der Leistungsausweis von Ben Bradleys Nachfolger kann sich sehen lassen: Unter Marty Baron hat die «Washington Post» innert acht Jahren zehn Pulitzerpreise gewonnen, unter anderem 2014 mit dem Londoner «Guardian» für eine Serie von Artikeln, die dank Edward Snowdens Enthüllungen die weltweiten Überwachungsaktivitäten der National Security Agency (NSA) dokumentierte. Im selben Zeitraum wuchs die Redaktion um rund die Hälfte auf 1010 Mitarbeitende und seit 2016 verdreifachte sich die Zahl der Digital-Abonnenten auf drei Millionen.
Ein erstes Motto
Dabei profitierte Marty Baron, wie es hiess, vom grössten Geschenk, von dem ein Chefreaktor träumen kann: vom reichsten Mann der Welt. Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, hatte die «Post» von der Besitzerfamilie Graham zum Schnäppchenpreis von 250 Millionen Dollar gekauft und danach in alle Bereiche der dümpelnden Zeitung investiert.
Doch gleichzeitig gelang es Baron, den Startvorteil zu nutzen und die «Washington Post» erneut zu einem Blatt mit nationaler und internationaler Ausstrahlung zu machen, das sich auf einer Ebene mit der «New York Times» bewegte. Er verpasste der Zeitung das erste Motto ihrer 140-jährigen Geschichte: «Democracy Dies in Darkness» – Demokratie stirbt in Finsternis.
Für einen Reporter, der das Blatt im Streit mit dem neuen Chefredaktor verliess, steht ausser Frage, «dass die Post heute Tag für Tag den gewichtigsten Journalismus in der Geschichte der Institution produziert und einen Weg gefunden hat, nicht nur zu überleben, sondern wirtschaftlich zu florieren in einer Zeit, da der Journalismus mächtig unter Druck steht – wofür Marty riesiger Dank gebührt».
Eine seltene Erscheinung
Für einen früherer Kollegen beim «Boston Globe» gibt es keinen Journalisten, den er mehr bewundert als Marty Baron: «In einer Zeit, da zu viele Redaktionen von Arschkriechern, Erbsenzählern und Sesselfurzern geleitet werden, pflegte Marty für seine Leute durchs Feuer zu gehen – das wichtigste Merkmal eines grossen Chefredaktors.»
Dean Baquet, leitender Redaktor der «New York Times», sagte nach Bekanntwerden des Rücktritts von Marty Baron, sein 66-jähriger Konkurrent habe jede Institution besser gemacht, für die er arbeitete: «Der Post ging es nicht gut, als er sie übernahm. Sie hatte wohl einiges an ihrem früheren Selbstvertrauen verloren. Doch er brachte sie auf die richtige Spur.»
Gerüchten zufolge will auch der 64-jährige Baquet in absehbarer Zeit zurücktreten; zumindest hat er unlängst in Los Angeles ein Haus gekauft. Wie Barons Nachfolge ist auch sein möglicher Rücktritt Auslöser von allerlei Spekulationen, die im Fall der «Post» und «Times» zumindest in Journalistenkreisen so intensiv zu spriessen pflegen, als ginge es um die Wahl eines Papstes.
Ein Oscar-gekrönter Film
Beim «Boston Globe», dessen Chefredaktor er ab 2002 war, hatte Marty Baron den investigativen Journalismus einer Truppe verantwortet, die trotz grosser Widerstände den massiven Kindsmissbrauch der lokalen katholischen Kirche aufdeckte. Hollywood verfilmte die Geschichte unter dem Titel «Spotlight» und das Werk von Regisseur Tom McCarthy erhielt 2016 den Oscar als bester Film des Jahres. Der Schauspieler Liev Schreiber, sagte Baron nach der Oscar-Verleihung, porträtiere ihn im Film «als stoischen, humorlosen und etwas mürrischen Charakter, den viele meiner Berufskollegen augenblicklich wiedererkennen (‘Er trifft dich haargenau’), der meinen engsten Freunden aber nicht ganz vertraut ist.»
Allem fast überschwänglichen Lob zum Trotz ist bei der «Washington Post» unter Marty Baron nicht alles optimal gelaufen. Im vergangenen Jahr suspendierte der Chefredaktor eine Reporterin, weil sie Stunden nach dem Unfalltod des Basketballstars Kobe Bryant bei einem Helikopterabsturz einen Tweet abgesetzt hatte, der daran erinnerte, dass es gegen den weltweit populären Sportler Vorwürfe wegen einer Vergewaltigung gegeben hatte.
Ein Protest der Redaktion
Baron ortete im Vorgehen seiner Untergebenen «einen grossen Mangel an Urteilsvermögen», worauf Hunderte von Mitarbeitenden der «Post»-Redaktionen einen Protestbrief unterzeichneten, in welchem sie dem Management vorwarfen, die Redefreiheit der Kollegin einschränken zu wollen und sie zudem nicht ausreichend geschützt zu haben, nachdem sie aufgrund ihres Tweets zahlreiche Drohungen erhalten hatte.
In einem zweiten Fall hatte Marty Baron einen schwarzen Pulitzerpreisträger der «Post» gemassregelt, weil der sich in Tweets kritisch über die Berichterstattung amerikanischer Medien zum Thema Rassismus geäussert hatte. «Was bringt es, diverse Erfahrungen und Stimmen in einem Raum zu versammeln, nur um sie dann zum Schweigen zu bringen», twitterte der Reporter, der die Zeitung inzwischen verlassen hat und sich heute als Mitarbeiter des Fernsehsenders CBS profiliert zum Thema Objektivität im Journalismus äussert.
Ein durchzogenes Arbeitsklima
Auch ist im vergangenen Jahr ein interner Report der «Washington Post» über soziale Medien zum Schluss gekommen, die Zeitungsspitze zeige für «Indiskretionen weisser Männer und Stars der Redaktion» mehr Verständnis als für jene von «Frauen, Minderheiten oder weniger hochgehandelten Reportern». Auch hatte 2019 eine Lohnuntersuchung der «Post»-Gewerkschaft ergeben, dass auf der Redaktion Frauen und Schwarze weniger verdienten als weisse Männer.
Jedenfalls haben in jüngerer Zeit einige schwarze Journalistinnen und Journalisten die Zeitung aus Frust über mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten verlassen. «Es scheint, dass dieser Laden seine besten Leute vertreibt», sagt eine Mitarbeiterin, die gekündigt hat. Wenig erfreut war auch Star-Reporter Bob Woodward, als Marty Baron eine Story nicht publizierte, die Brett Kavanaugh, den umstrittenen Kandidaten Donald Trumps für das Oberste Gericht, als Lügner entlarvt hätte. Zwar hat die «Post» seither Schritte unternommen, um ihre Redaktion diverser und fairer zu besetzen, doch etliche Mitarbeitende sind der Ansicht, die Massnahmen genügten noch nicht. Was der Chefredaktor im Abschiedsbrief an die Belegschaft vom 26. Januar selbst eingeräumt hat.
Eine grundsätzliche Diskussion
Marty Barons Rücktritt erfolgt zu einem Zeitpunkt, da auf vielen Redaktionen heftig diskutiert wird, ob die herkömmlichen journalistischen Ideale der Objektivität und Fairness, wie eine ältere Generation sie vertritt, noch zeitgemäss sind angesichts von Ereignissen wie Rassenprotesten oder von Politikern wie Donald Trump, über die zu berichten einer jüngeren Generation zufolge mehr Subjektivität und persönliche Meinungsäusserung erfordert. Während Marty Baron unbestritten ein Vertreter des traditionellen Journalismus ist, könnte sein Nachfolger ein moderneres Genre befürworten, das Entwicklungen wie jene des Nachrichtenflusses auf diversen Plattformen rund um die Uhr oder den zunehmenden Einfluss sozialer Medien auf den Journalismus stärker berücksichtigt – das Ganze vor dem Hintergrund schwindender Erträge und sinkenden Vertrauens in die Medien.
«Ich weiss nicht, wie man einen Spitzenjob bei irgendeiner dieser Publikationen besetzen kann, ohne zu berücksichtigen, wie sich die Protestbewegung 2020 von der Strasse in die Redaktionen verlegt hat», sagt der 78-jährige Norman Pearlstine, der als Chefredaktor der «Los Angeles Times» seinerseits zurückgetreten ist: «Es wird interessant sein zu beobachten, wieviel von dem, was wir im Sommer (2020) gelernt haben, in diese Suche (nach neuen Chefredaktoren) einfliesst. John Harris, Gründer von «Politico», indes meint: «Als es der Medienindustrie noch besser ging, war es leichter, einen geordneten Übergang zu gewährleisten.» In einer Zeit, in der für die Medien alles im Fluss sei, würden sich in Sachen neuer Führung ganz andere Herausforderungen stellen als noch vor zehn oder zwanzig Jahren.
Ein unvergesslicher Brief
Um der Öffentlichkeit mit bestmöglichem Journalismus zu dienen, sei es nötig, eng zusammenzuarbeiten, schreibt Marty Baron in seinem Abschiedsbrief: «Dieser Geist der Kooperation und des guten Willens ist erforderlich, um Erfolg zu haben. Auch braucht es eine gemeinsame Ethik: Wir beginnen mit mehr Fragen als Antworten, eher der Neugier und der Recherche zugeneigt als der Gewissheit. Wir müssen immer mehr lernen. Wir müssen allen Leuten offen zuhören. Wir schulden der Öffentlichkeit eine rigorose, gründliche und ehrenvolle Informationsbeschaffung sowie einen ehrlichen, geradlinigen Bericht dessen, was wir finden.»
Bevor er 2013 zur «Washington Post» wechselte, hatte Marty Baron auf seinem Pult in Boston einen Brief von Father Thomas P. Doyle aufbewahrt, in dem sich der Geistliche für den grossen Einsatz bedankte, den Barons Zeitung geleistet hatte, um den Opfern des Kindsmissbrauchs Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: «Was Sie und der Globe für die Opfer, die Kirche und die Gesellschaft getan haben, kann nicht angemessen beziffert werden. Es ist riesig und die gute Wirkung wird noch Jahrzehnte lang anhalten.» Der Brief, sagte Baron nach der Oscar-Verleihung, habe ihn stets daran erinnert, warum er Journalist geworden und Journalist geblieben sei: «Damals gab es noch keinen Film. Es gab noch keine Preise. Ich fühlte mich aber belohnt, und diese Belohnung würde für immer anhalten.»
Quellen: Washington Post, New York Times, Los Angeles Times, Poynter Report, Columbia Journalism Review, Wikipedia