Marcelo hat in elf Jahren sieben Angehörige verloren. Als er zwölf war, töteten vier gedungene Mörder seinen Vater. Der ehemalige Polizist, der mit seiner sechsköpfigen Familie im Armenviertel Caranguejo der brasilianischen Stadt Recife lebte, hatte für Drogenhändler als Killer gearbeitet und war schliesslich selbst Opfer einer Abrechnung zwischen rivalisierenden Banden geworden. In den folgenden Jahren erlitten mehrere Verwandte von Marcelo das gleiche Schicksal. Der bisher letzte Tote, den die Familie zu beklagen hatte, war Lúcio Flávio, Marcelos Cousin.
Der 18-jährige hatte sich an einem Raubüberfall beteiligt und war von der Polizei auf der Flucht erschossen worden, von hinten. „Er hat sich mit den falschen Leuten eingelassen“, sagt Marcelos Mutter, und der Sohn nickt zustimmend. „Wir haben ihn mehrmals gewarnt, aber er hat genau so wenig auf uns gehört wie mein Mann. Und irgendwann konnten beide nicht mehr aussteigen.“
Jung, männlich, schwarz und arm
Die Waffen sitzen nicht nur dort locker, wo sich Drogenbanden um die territoriale Vorherrschaft streiten. Und auch nicht bloss in Recife, der Hauptstadt des nordostbrasilianischen Bundesstaates Pernambuco. Gewalt ist in Brasilien für unzählige Menschen ein täglicher Begleiter.
Lateinamerikas grösstes Land hat eine der erschreckendsten Mordraten weltweit. Auf 100 000 Einwohner kommen 25 Tötungsdelikte, im Schnitt werden täglich 140 Morde registriert. Die tatsächliche Opferzahl dürfte um einiges höher sein, da bei weitem nicht alle Morde statistisch erfasst werden. Mehr Morde gibt es in Lateinamerika laut einer Uno-Statistik nur in Guatemala, Venezuela, El Salvador, Kolumbien und Honduras.
Besorgniserregend ist vor allem der ständig wachsende Anteil junger Leute unter den Ermordeten. Einer Unicef-Studie zufolge werden in Brasilien alljährlich 5000 Kinder und Jugendliche bei Gewalttaten umgebracht. Am stärksten gefährdet sind Schwarze zwischen 15 und 24 Jahren, die in Armut leben. Etliche von ihnen waren nicht bloss Opfer, sondern auch Täter: Sie sahen in der Kriminalität die einzige Möglichkeit, der materiellen Misere mindestens teilweise zu entfliehen.
Die Daten über ermordete Jugendliche in Brasilien decken sich weitgehend mit den Angaben für den gesamten Subkontinent. Wissenschafter haben 83 Länder miteinander verglichen und dabei festgestellt, dass für junge Lateinamerikaner, das Risiko getötet zu werden, 30mal höher ist als für 15-bis 24-jährige Europäer. In Lateinamerika liegt die Mordrate in dieser Altersgruppe bei 36,6 pro 100 000 Einwohner, in Afrika bei 16,1, in Nordamerika bei 12, in Asien bei 2,4, in Ozeanien bei 1,5 und in Europa bei 1,2.
Gescheitertes Waffenverbot
Einer der Gründe für Brasiliens hohe Mordraten ist, dass man sich auf dem Schwarzmarkt ganz einfach Waffen beschaffen kann. Gemäss einer dieser Tage veröffentlichen Untersuchung wurden von den 18 Millionen leichten Waffen, die im Umlauf sind, 10 Millionen illegal erworben – also mehr als die Hälfte. Die Regierung hat in den vergangenen Jahren mehrere Initiativen gestartet, um den verbotenen Waffenverkauf einzudämmen. Mit wenig Erfolg, wie die jüngsten Zahlen belegen.
Besser als erwartet fiel 2004 das Ergebnis einer Entwaffnungsaktion auf freiwilliger Basis aus: Rund eine halbe Million Brasilianer gaben ihre ohne Waffenschein erstandenen Revolver, Pistolen oder Gewehre ab und wurden dafür mit bis zu 130 Franken belohnt. Der nach wie vor sehr hohe Anteil illegaler Waffen legt jetzt aber den Schluss nahe, dass viele bloss ihr Arsenal erneuert haben, mit staatlicher Subvention die alte Waffe gegen eine neue eintauschten.
Deutlich gescheitert ist Präsident Luiz Inácio Lula da Silva mit seiner Absicht, den Waffenverkauf an Privatpersonen generell zu verbieten. In einer Volksabstimmung sprachen sich im Oktober 2005 rund zwei Drittel der Wähler gegen ein solches rigides Regime aus. Für viele Brasilianer ist ein Gewehr oder ein Revolver ein Symbol ihrer Männlichkeit. Auch für Jairo.
Der 35-jährige Lagerarbeiter in einem Supermarkt in Recife hat im Alter von neun Jahren seine erste Waffe bekommen und seither immer eine besessen. „Ich muss doch meine Frau und meine achtjährige Tochter beschützen können“, rechtfertigt er sich. Den Einwand, dass dies eigentlich Aufgabe der Polizei wäre, lässt er nicht gelten. Wie die meisten seiner Landsleute fühlt er sich von den staatlichen Sicherheitsorganen nicht genügend geschützt und pocht deshalb auf sein Selbstverteidigungsrecht.
Bildung statt Gewalt
Da sich ein Grossteil der Bevölkerung durch die stetig zunehmende Gewalt direkt bedroht fühlt, überrascht es nicht, dass immer lauter der Ruf nach härteren Strafen ertönt. Laut Meinungsumfragen soll eine Mehrheit sogar mit der Wiedereinführung der 1979 abgeschafften Todesstrafe liebäugeln.
Heftig diskutiert wird ferner die Verschärfung des Jugendstrafrechts. Selbst mehrfache Mörder kommen heute nach verhältnismässig kurzer Zeit wieder auf freien Fuss, wenn sie minderjährig sind. Viele Brasilianer fordern deshalb, dass bei jugendlichen Straftätern die Volljährigkeit von 18 auf 16 Jahre herabgesetzt wird.
Präsident Lula hat sich stets gegen populistische Massnahmen zur Bekämpfung der Jugendkriminalität ausgesprochen. Er teilt die Ansicht vieler Fachleute, dass Armut, Massenarbeitslosigkeit, gigantische Einkommensunterschiede und die gesellschaftliche Diskriminierung die Ursachen für das hohe Gewaltniveau sind und der Hebel deshalb dort angesetzt werden muss. Am ehesten lassen sich all diese Defizite mit Bildung verringern, allerdings nicht von heute auf morgen.
Hier wartet auf die Nachfolgerin oder den Nachfolger des charismatischen Staatschefs viel Arbeit, ist doch die Situation im brasilianischen Bildungssystem auch nach acht Jahren Mitte-links-Regierung immer noch gravierend. Allzu oft müssen internationale oder nationale Nichtregierungsorganisationen in die Lücke springen, weil der brasilianische Staat sich nicht genügend um alle seine Kinder und Jugendlichen kümmert. Und auch sie erfassen nur ein Teil jener, die ohne Hilfe nicht in der Lage sind, den Teufelkreis von Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.
Mit der Macho-Tradition gebrochen
Marcelo hat es geschafft. Er hat bei der NGO AdoleScER (Heranwachsen) eine dreijährige Ausbildung zum Informationsmultiplikator abgeschlossen und die Kraft gefunden, mit der Macho-Tradition in seiner Familie zu brechen und dem Milieu der Dealer und Killer den Rücken zu kehren.
Die vor zehn Jahren gegründete und hauptsächlich mit Spenden aus Deutschland finanzierte Organisation bemüht sich, die Lebensperspektiven von sozial und wirtschaftlich benachteiligten Kindern und Jugendlichen in Elendsvierteln von Recife zu verbessern. Sie klärt sie über ihre Bürgerrechte auf, bringt ihnen umweltgerechtes Verhalten bei, betreibt mit ihnen Gewalt- und Drogenprävention, spricht mit ihnen über HIV/AIDS, Geschlechtskrankheiten, Jugendschwangerschaften und Berufschancen.
Die Jugendlichen erweitern auf diese Weise nicht nur ihr Wissen, sie stärken auch ihr Selbstwertgefühl. Nach Abschluss der Ausbildung geben sie dann das, was sie gelernt und erfahren haben, an Gleichaltrige weiter: in ihrem direkten Umfeld, in Jugendzentren, an Schulen oder in Vereinen. „AdoleScER ist Teil meines Lebens geworden“, schrieb die 14-jährige Alcione in einer Grussbotschaft zum zehnjährigen Bestehen der Organisation, „dort finde ich Halt und Unterstützung.“
Das Gefühl, von einer Gruppe getragen zu werden und dort seine Persönlichkeit entfalten zu können, war auch für Edson wichtig, damit er nicht wie sein Onkel eine kriminelle Laufbahn einschlug. „Er handelte mit Marihuana und Crack, aber ich hatte ihn dennoch gern“, sagt der heute 20-Jährige, der heute dank seiner Ausbildung bei AdoleScER in einem Reisebüro arbeitet. „Er war für mich wie ein Vater, hat im Haushalt geholfen und war immer grosszügig, wenn er Geld hatte.“
Doch dann geriet er in Zahlungsverzug gegenüber seinen Drogenlieferanten, und die kannten kein Pardon: Der Dealer wurde mit 15 Schüssen niedergestreckt. Wäre Edson nicht in der Ausbildung bei der NGO gewesen, hätte er sich möglicherweise verpflichtet gefühlt, seinen Onkel zu rächen. Doch er hatte inzwischen gelernt, seinen eigenen Weg zu gehen. „Mein Onkel war sehr wichtig für mich“, sagt er, „aber ich habe mir schon früh vorgenommen, nicht so zu werden wie er. Und sein Tod hat mich endgültig gelehrt, dass man Drogenschulden immer mit dem Leben bezahlt.“