Das zeigt ein Aufsehen erregender Blog, dessen angebliche Verfasserin unter Pseudonym aus Damaskus berichtete. Amina Arrafs Blog erschien erstmals am 19. Februar unter dem Titel „A Gay Girl in Damascus“: ein lesbisches Mädchen in Damaskus.
„Wann immer ich mich mündlich oder schriftlich mit anderen Lesben, Schwulen, Bi- und Transsexuellen unterhalte, scheinen sie sich zu interessieren, wie es sich als Lesbe hier in Damaskus lebt“, schrieb die 35-Jährige, die angab, in Virginia als Tochter eines syrischen Vaters und einer amerikanischen Mutter geboren worden zu sein: „Nun, ich pflege jeweils zu antworten, es sei nicht so leicht, wie ich mir das wünsche, aber wahrscheinlich leichter als befürchtet. Und das wirft natürlich einen nicht versagenden Fluss von Fragen auf…“. Aminas erster Eintrag erschien rund einen Monat vor Ausbruch der politischen Unruhen in ihrer Heimat.
In der Folge sollte die Syrerin, die ein Foto über dem Blog als Brünette mit kurzem Haar und einem Muttermal über dem linken Auge auswies, über drei Monate lang über ihre Beziehungen und ihren Alltag in einem grossen Haus in der Altstadt von Damaskus berichten, wo sie mit ihrem Vater lebte, der ihre sexuelle Prefärenz kannte und befürwortete. Amina Arraf beschrieb ihre wachsenden Aktivitäten als Agitatorin und Botschafterin der syrischen Freiheitsbewegung, Tätigkeiten, die sie mit der Zeit dazu zwangen, sich vor den Häschern von Präsident Bashar al-Assad zu verstecken.
Plötzliches Verstummen
Gleichzeitig erntete ihr Blog wachsende internationale Aufmerksamkeit: CNN interviewte sie per Email, Zeitungen berichteten über sie und eine Korrespondentin des Londoner „Guardian“ versuchte, sie persönlich zu treffen. Doch das Rendez-vous platzte, weil Amina am vereinbarten Treffpunkt Agenten des syrischen Regimes gesichtet haben wollte. Einzelne Medien verglichen die junge Frau in Damaskus mit Salam Pax, dem „Bagdad Blogger“, der 2003 nach der amerikanischen Invasion aus der irakischen Hauptstadt berichtet und für den „Guardian“ Kolumnen verfasst hatte. Im Gegensatz zur fiktiven Amina Arraf war Salam Pax aber ein real existierender Schriftsteller.
Am 6. Juni verstummte Amina Arraf plötzlich. Auf ihrem Blog erschien die detaillierte Mitteilung ihrer Cousine Rania Ismail, wonach drei bewaffnete Sicherheitsleute, von einer anonymen Augenzeugin beobachtet, die politische Aktivistin gewaltsam festgenommen und in ein rotes Auto mit einem Kleber von Basil Assad (dem verstorbenen Bruder des Präsidenten, die Red.) gezerrt hätten. Niemand wisse, schrieb Rania, wo sich Amina befinde, da es in Syrien nicht weniger als 18 verschiedene Geheimdienste und zudem noch mehrere Parteimilizen und Banden gebe.
Seltsames Verschwinden
Neben einheimischen und ausländischen Journalisten versuchten auch Vertreter der US-Botschaft in Damaskus vergeblich, den Aufenthaltsort der Bloggerin zu eruieren, da sie amerikanisch-syrische Doppelbürgerin war. Einen Tag vor ihrer Festnahme hatte Amina Arraf noch geschrieben: „Heute oder morgen könnte mein letzter Tag sein; es könnte aber auch der erste Tag des neuen Syrien sein. Ben Ali ist verschwunden, Mubarak ist verschwunden, Saleh (der jemenitische Präsident, die Red.), sagen sie, wird auch bald verschwinden. Assad bleibt nicht mehr viel Zeit, und ich plane, ihn abtreten zu sehen.“
Je intensiver sich die Suche nach Amina Arraf gestaltete, desto grösser wurden die Zweifel an ihrer Authentizität: Niemand hatte sie je persönlich getroffen oder gesprochen; alle Kontakte fanden ausschliesslich digital über das Internet statt. Zwar gab es eine Freundin in Kanada, mit der sie Hunderte von E-mails ausgetauscht hatte, aber eben nicht mehr. Niemand unter bekennenden Lesben und Homosexuellen in Damaskus hatte je von ihr gehört.
Aus London meldete sich eine Frau, die berichtete, die Aufnahmen von Amina Arraf im Netz seien in Tat und Wahrheit Bilder von ihr und von ihrer Facebook-Seite gestohlen worden. Derweil gelang es der amerikanischen Botschaft trotz intensivem Bemühen nicht, eine US-Bürgerin namens Amina Arraf zu finden, weder als Person in Damaskus noch in Dokumenten in den Vereinigten Staaten.
Fiktion und Wirklichkeit
Folglich verdichtete sich der Verdacht, dass es sich beim Blog aus Damaskus um einen zynischen Schwindel handeln musste. Die Ursprungsadressen einzelner E-mails liessen sich zu Servern der Edinburgh University zurückverfolgen, und eine Diskussionsgruppe auf Yahoo, die eine „Amina Arraf“ einst geleitet hatte, tauchte unter einer Adresse in Georgia auf. Am Ende gestand der 40-jährige Amerikaner Tom MacMaster, der in Edinburgh studierte, als Amina Arraf posiert und gebloggt zu haben.
„Derweil die Erzählstimme fiktiv war, stimmen die Fakten dieses Blogs und zeichnen ein genaues Bild der Vorgänge in der Wirklichkeit“, schrieb der mit einer Syrien-Spezialistin verheiratete Student: „Diese Erfahrung hat mich, traurigerweise, in meiner Überzeugung bestätigt, wie oberflächlich die Berichterstattung aus dem Nahen Osten oft ist und wie einflussreich neue Formen des liberalen Orientalismus geworden sind.“ Er glaube nicht, fügte der Amerikaner hinzu, jemandem geschadet zu haben. Erst später entschuldigte er sich bei der Britin, deren Bilder er gestohlen hatte, und bei der Kanadierin, die er im Glauben gelassen hatte, Amina Arraf liebe sie.
Syrische Aktivisten teilten MacMasters anfängliche Einschätzung nicht. Er habe sich, schrieb ein Homosexueller in Damaskus, bei der realen Suche nach der fiktiven Amina in ernsthafte Gefahr begeben. Auch gebe es Blogger in Syrien, die unter grossen persönlichen Risiken ihr Allermöglichstes täten, um über die Vorgänge in ihrem Land zu berichten. Der Schwindel des Amerikaners, schloss ein pseudonymer Sami Hamwi, wecke Zweifel an der Glaubwürdigkeit seriöser Blogger und erweise der Sache der Freiheitsbewegung einen Bärendienst.
Flirt unter falschen Voraussetzungen
Zweifellos versucht die syrische Regierung, wie andere diktatorische Regime der Region, über fiktive Profile auf Facebook und erfundene Tweets Propaganda zu verbreiten oder über das Netz Oppositionelle zu identifizieren. Im Iran zum Beispiel ist der prominente Blogger Hossein Derakhshan im vergangenen Jahr wegen angeblicher Subversion des Islamischen Republik zu nahezu 20 Jahren Gefängnis verurteilt worden. Und erst unlängst hat ein Blogger auf der Webseite der iranischen Revolutionsgarden einen Artikel publiziert, der beschreibt, was nach einem Test der ersten Atombombe des Landes geschehen könnte: „Der Tag nach dem ersten Atomversuch des Iran ist ein normaler Tag.“
Indes gestand nur einen Tag nach der Demaskierung des „Gay Girl in Damascus“ der 58-jährige Amerikaner Bill Graber, seinerseits seit 2008 auf der lesbischen Webseite „Lez Get Real“ als deren Redaktorin Paula Brooks posiert zu haben. Graber, ein früherer Pilot der Air Force, war unter Verdacht geraten, als bekannt wurde, dass Amina Arraf, bevor sie ihren eigenen Blog startete, gelegentlich auf Brooks’ Webseite aus Syrien berichtet hatte. Bill Graber gab an, die Webseite „nur mit besten Absichten“ gestartet zu haben, nachdem er erlebt habe, wie die Gesellschaft ein eng befreundetes lesbisches Paar diskriminierte. Er habe, sagte der Mann aus Ohio weiter, Aminas reale Identität nicht gekannt, und auch MacMaster habe nicht gewusst, dass Paula Brooks in Wirklichkeit ein Mann war. Amina und Paula hätten online sogar miteinander geflirtet.
Wer überprüft die Identität?
Bill Graber und Tom MacMaster dürften nicht die letzten Blogger bleiben, die als Schwindler entlarvt werden. Bereits in der Vergangenheit hat es ähnliche Fälle gegeben, wie etwa jenen des Blogs „Plain Layne“, des angeblichen Tagebuchs einer jungen bisexuellen Frau, das aber ein Mann namens Odin Soli verfasst hatte. Soli gibt sich heute als Verfasser von „Online-Fiktion“ aus. Auch erschien im Internet das Online-Tagebuch einer Mittelschülerin aus Kansas, die an Leukämie erkrankt und 2001 angeblich nach einer Hirnblutung gestorben war. Was seinerzeit unter Leserinnen und Lesern des Blogs „Kaycee Nicole“ weltweit Betroffenheit und Nachfragen nach ihrem Begräbnis auslöste. Den Teenager aber hatte es in Realität nie gegeben, sondern nur in der Phantasie der Bloggerin Debbie Swenson, die sich zudem noch als Mutter des Mädchens ausgab.
Inzwischen wird erneut die Frage diskutiert, wie statthaft es ist, sich anonym im Internet zu bewegen. Selbst Befürworter des Rechts auf Anonymität räumen ein, dass es möglich sein müsse, in einzelnen Fällen im Netz Quellen zu verifizieren, da falsche oder gefälschte Angaben von erheblicher Tragweite sein könnten. Möglich wäre zum Beispiel, ähnlich wie bei WikiLeaks, die Schaffung eines Systems, wonach sich ein Dissident oder ein „Whistleblower" bei einer vertrauenswürdigen Drittinstanz als „reale Person“ registrieren lassen könnte, die wiederum seine Identität verifizieren und für ihn bürgen würde – bei allen Risiken punkto Sicherheit, die ein solches System bergen würde. „Die Gefahren der Anonymität überwiegen deren Nutzen nicht“, schreibt indes die „Washington Post“ zum Thema Amina Arraf: „Wir müssen den realen Gay Girls in Damascus- und den echten Lez Get Real-Bloggern Platz einräumen, wer immer sie sein mögen.“
(Quellen: The Guardian, Washington Post, New York Times)