Im Schatten des Duells zwischen Regierungspartei und Opposition fechten zwei Ökonomen-Gespanne einen Stellvertreterkrieg aus. Er ist zumindest unterhaltsamer als die öden Anfeindungen der beiden Erbfeinde.
Ökonomen sind die Propheten und Deuter unserer wirtschaftsbesessenen Welt. In Indien sind sie dies noch mehr, weil das klassische ökonomische Paradigma hier nicht ‚the Wealth of Nations‘ lautet, sondern ‚The Poverty of the Nation‘. Indiens materielle Not hat sowohl den ökonomischen Sachverstand wie den Bedarf danach geschärft. Zudem ist Ökonomie eine exakte Wissenschaft, die sich mit oft irrationalem Verhalten befasst. Dies kommt indischen Vorlieben entgegen, denn Inder bewegen sich gern im Minenfeld von Widersprüchen. Vielleicht ist dies ein Grund, warum es so viele international anerkannte indische Namen gibt, die sich in der ökonomischen Forschung und Praxis tummeln.
Streit mit allen Mitteln der verbalen Kriegskunst
Zu diesen Namen gehören auch Amartya Sen, seines Zeichens Nobelpreisträger in dieser Disziplin, und die zwei Columbia University-Professoren Jagdish Bhagwati und Arvind Panagariya. Man könnte auch Jean Dreze dazuzählen, der belgischer Herkunft ist und die indische Nationalität gewählt hat. Er war Ko-Autor mehrerer Bücher Sens, bevor er als einflussreiches Mitglied eines regierungsnahen NGO-Thinktanks selber Gelegenheit erhielt, seine und Sens Rezepte in staatliche Programme umzusetzen.
Nun haben Bhagwati und Panagarya gegen Sen und Dreze einen Streit angezettelt, der alle Register der verbalen Kriegskunst einsetzt, vom Florettfechten bis zur Schmutzschlacht. Es geht, wie könnte es anders sein, um die alten Fragen: Ist Indien immer noch im Würgegriff der Armut? Und wer ist dafür schuld – ein Zuviel an Markt, wie es Sen/Dreze suggerieren, oder ein Zuviel an Staat, so die Überzeugung von Bhagwati und Panagarya. Beide Seiten streiten nicht nur mit Argumenten, sondern auch – wir leben in der Zeit der Einschaltquoten – mit Etikettierungen, die so treffend wie ungerecht sind.
Was gibt es Besseres als ein Duell?
Bhagwati nennt seinen berühmten Kollegen „die Mutter Teresa der Ökonomie“; manchmal auch „Lord Shiva“, denn wie dieser ewig-zornige junge Mann der Götterwelt habe er den vielen Armen Indiens enormen Schaden zugefügt mit seinen Theorien. Da ein Gott seinen Fuss natürlich niemals in ein Fernsehstudio setzt, hat sich Sen geweigert, mit den beiden Streithähnen von Columbia ein Rededuell zu veranstalten. Dies hat die beiden natürlich in Rage versetzt – „die typische Arroganz eines Harvard-Ökonomen“. Dafür sandte Sen seinen Ko-Autor in den TV-Ring, den „Nandi-Stier, das Begleittier von Gott Shiva“ (Bhagwati). Dreze schmuggelte ein Plüschtierchen – ein Einhorn namens Panagariya – ins Studio, quasi Bhagwatis Tragtier.
Wer weiss, möglicherweise ist das Publikum einfach naiv, wenn es glaubt, es gehe hier um ernsthafte Divergenzen. Vielleicht ist es nur ein simuliertes Ringen, wie bei den Schaukämpfen des ‚World Wrestling Council‘. Haben nicht beide Pärchen soeben Bücher herausgebracht, die nun Käufer finden müssen? Und was gibt es Besseres als ein Duell, in dem die Gegner zu Boden gehen, damit die Verkaufszahlen in die Höhe schnellen?
Warum Streit?
Das Buch von Bhagwati/Panagariya artikuliert bereits in seinem Titel die Hauptthese der beiden: ‚Why Growth Matters’. Es ist nicht die Verteilungspolitik des Staats mit seinen 330 Armutsprogrammen, die Armut gesenkt hat, sondern eine Politik beschleunigten Wachstums, mit offenen Märkten und der Schaffung von Wohlstand. Sie sehen in Amartya Sen den heimlichen Vater der Verteilungswirtschaft vieler Kongress-Regierungen, die den Privatsektor derart mit Steuern und Steuerungen einschnürten, dass er in akute Atemnot geriet.
Der Titel des Buchs von Sen&Dreze lautet viel zurückhaltender. ‚An Uncertain Glory‘ heisst es, mit dem Untertitel ‚India and its Contradictions‘. Auf den ersten Blick erstaunt es, dass es überhaupt zum Streit kommen musste. Denn Sen geht, der Titel tönt es an, hart mit der Regierung seines ehemaligen Uni-Kollegen Manmohan Singh ins Gericht. Und die beiden Autoren sind natürlich intelligent genug, um die Notwendigkeit von Wachstum anzuerkennen, denn wenn der Kuchen nicht aufgeht, fallen bekanntlich auch die Schnitten mager aus.
Höchste Inflationsrate
Das Buch ihrer Kontrahenten spiegelt dieses Paradox ebenfalls. Sie kritisieren lautstark Singhs Regierung, behaupten aber auch, dass das höhere Wachstum der letzten zwanzig Jahre die Armutsquote drastisch gesenkt hat – ausgerechnet in einer Zeitspanne, die zu zwei Dritteln Kongressregierungen am Ruder sah. Allerdings sind es die letzten zehn Jahre dieser Herrschaft, die die Kritik der beiden Columbia-Ökonomen provozieren. Denn mit riesigen Armutsprogrammen – einem garantierten Einkommen von hundert Tagen für zwei Drittel der Bevölkerung, und ganzjährigen Gratis-Nahrungsmitteln für rund 800 Millionen – hat der Staat die Dynamik der Wirtschaft gebrochen.
Er tat dies gleich doppelt: Erstens durch eine verschärfte Steuerpolitik, um die Sozialausgaben zu finanzieren. Dieses Geld fehlte dann aber, um den massiven Bedarf nach Infrastruktur – Verkehr, Energie, Bildung, Gesundheit – zu decken. Und dann folgt der Gnadenstoss: Mit seinen ungedeckten Schecks für Armutsprogramme hat Manmohan Singh die Inflation zur höchsten in der Geschichte der Republik hochgetrieben. Und damit trifft er die Armen am härtesten; denn nichts ist grimmiger für einen armen Haushalt als rasch ansteigende Kosten für Grundbedürfnisse.
Düstere Prognose für die die Gandhi-Dynastie
Auch Sen und Dreze werfen der Regierung vor, viel zu wenig für die soziale Infrastruktur – namentlich Erziehung und Gesundheit – geleistet zu haben. Aber ihr ärztliches Gutachten für den kranken Mann Indien lautet: Mehr vom Gleichen. Zur Verbesserung des Gesundheitswesens fordern Beide massive staatliche Injektionen in dieselben Institutionen, die dem Land das Schlamassel beschert haben. Warum, so der Ökonom Bibek Debroy in seiner Buchbesprechung, soll der Staat weiterhin Dorfkliniken errichten und ausstatten, so wie er es nun fünfzig Jahre getan hat? Warum nicht das Strassennetz ausbauen, sodass Patienten rasch ins nächste Distrikt-Hospital kommen? Folgt man Sens Rezeptur, so Debroy, „wird sich die Geschichte wiederholen, als Tragödie und als Farce. Sie stellen die richtigen Fragen. Aber sie geben die falschen Antworten“.
Debroy spricht Bhagwati und Panagariya aus dem Herzen; deshalb der Streit. Aber seine Schärfe erhält er nicht nur wegen der unterschiedlichen ökonomischen Wegweiser. Wie immer mischt sich auch die Politik ein. Nächstes Jahr stehen Wahlen an, und die Prognosen sind düster für den Kongress und die Gandhi-Dynastie. Ihr rotes Tuch ist der Politiker Narendra Modi, der Kandidat der hindu-nationalistischen Opposition. Er ist seit zwölf Jahren Regierungschef von Gujerat und hat dort eine wachstumsfreundliche Politik betrieben.
Ausgerechnet in Gujerat erkennen Bhagwati&Co. nun eine positive Abweichung in ihrer Bilanz. Dass der Staat schneller als der Durchschnitt Indiens gewachsen ist, mag ja noch angehen. Aber er ist auch besser als die Andern in der Minderung der Zahl der Armen, und – man höre und staune – in der Zahl armer Muslime. Ist Shivas Stier am Ende bloss ein Plüschtierchen? Und das Einhorn namens Bhagwati&Panagariya ein trojanisches Pferd der BJP?