Die südlichen Millionen-Metropole Ho-Chi-Minh-Stadt entwickelte sich in den vergangenen zwanzig Jahren zu einem urbanen Zentrum, ähnlich wie etwa das indonesische Jakarta, das malaysische Kuala Lumpur oder die chinesischen Shenzhen, Guangzhou, Shanghai und Peking. Mit allem was dazu gehört, also Verkehrsstaus, dicke Luft, Luxusboutiquen, Hochhäuser, neue aus dem Boden gestampfte Satellitenstädte, Einkaufsstrassen, Autobahnen aber auch innovative Kleine und Mittlere Unternehmen. Neuerdings wird Saigon gar an der ersten U-Bahn-Linie gebaut. Auch Hanoi, die Hauptstadt im Norden oder Danang in der Mitte des Landes sind in einer ähnlichen kreativen Aufbruchstimmung. Und das seit Jahren.
Doi Moi 1986
Vietnam hat heute im Westen und zumal in den USA und in der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich einen ganz neuen, diesmal positiven Klang. Schon einmal in den 1990er-Jahren suchte eine ökonomische Euphorie das Land heim. Westliche Ökonomen, Experten und Journalisten verglichen Vietnam mit den vier asiatischen Wunderländern, den Drachen- oder Tigerstaaten Südkorea, Vietnam, Hongkong und Singapur. Die asiatischen Finanz- und Wirtschaftskrise von 1997-99 hinderte dann aber den „kleinen Drachen“ daran, vollends wirtschaftlich abzuheben. Doch beharrlich wurde weitergearbeitet. Mit Erfolg.
Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Bei der vietnamesischen Version der chinesischen Reform und Öffnung „Doi Moi“ 1986 war Vietnam ein armes, ausgehungertes Land mit einem Brutto-Inlandprodukt (BIP) pro Kopf der Bevölkerung von gerade einmal 100 amerikanischen Dollar. Die Armut war grenzenlos, d.h. rund sechzig Prozent der Bevölkerung vegetierten unter der absoluten Armutsgrenze.
Heute liegt die Armutsquote noch bei rund 15 Prozent und das BIP pro Kopf ist auf ansehnliche 2‘000 Dollar geklettert. In den letzten fünfzehn Jahren ist das jährliche Wachstum im Durchschnitt mit fast sieben Prozent ausgewiesen. Die städtische Arbeitslosigkeit ist nach offiziellen Statistiken auf vier Prozent gesunken, wenngleich andere Schätzungen – u.a. von der Asiatischen Entwicklungsbank – von sechs bis acht Prozent ausgehen.
90 Millionen Einwohner
Nicht nur die kommunistische Regierung und das Volk haben sich den Herausforderungen gestellt. Auch Investoren aus dem Ausland haben massiv Geld in Vietnam angelegt. Vor fünfzehn Jahren waren das gerade einmal 2,5 Milliarden Dollar. Im vergangenen Jahr ist die Zahl auf erkleckliche 12,5 Milliarden emporgeschnellt. Kein Wunder, denn im Vergleich mit dem grossen Nachbarn China sind die Arbeitskräfte noch erschwinglich.
Da Vietnams Bevölkerung von rund 90 Millionen Einwohnern noch sehr jung und vergleichsweise gut ausgebildet ist, haben nicht nur die internationale Textilbranche sondern immer mehr auch die Elektronik- und Nahrungsmittelindustrie erfolgreich Standorte nach Vietnam verlegt. Der Hauptharst der Investoren kommt traditionell aus Asien, zumal aus Japan, Südkorea, Taiwan, Thailand und Singapur, doch sind auch prominente amerikanische und europäische Firmen vertreten. Aus der Schweiz zum Beispiel Nestlé und Holcim.
Das Wachstum freilich stösst jetzt an seine Grenzen. Nach rund dreissig Jahren Reform und Öffnung ist ein neues Wirtschaftsmodell gefragt. Ungleich China visiert Vietnam mehr Export an, um Arbeitsplätze und somit auch mehr Konsum zu schaffen. Partei und Regierung sind auch bemüht, eine Weg zu finden, um besser mit den natürlichen und finanziellen Ressourcen umgehen zu können. Innovation und mehr Rechtssicherheit – entscheidend für die Direktinvestitionen aus dem Ausland – sind weitere Reformziele. Das wird nicht leicht sein, denn innerhalb der obersten Führung der allmächtigen Kommunistischen Partei gibt es Meinungsverschiedenheiten über den einzuschlagenden Weg.
In Frieden leben
Die junge Generation – 42 Prozent der Bevölkerung sind jünger als 25 – jedenfalls blickt optimistisch in die Zukunft, ohne den Blick in die Vergangenheit ganz zu vergessen. Die jungen Vietnamesinnen und Vietnamesen sind dankbar, dass sie in Frieden leben können. Das ist nicht selbstverständlich. Jahrzehntelang war Vietnam in vom Ausland angezettelte Kriege verwickelt. Nach dem Ende des II. Weltkrieges erhielt der National-Kommunist Ho-Chi-Minh hochmütige Lektionen von den französischen Kolonialherren und deren amerikanischen Freunden.
Ho, der vor dem Weltkrieg dreissig Jahre im Ausland gelebt hatte und mehrere Sprachen - unter ihnen Französisch und Chinesisch - sprach, hat mit seinen Vietminh gegen die japanischen Besetzer gekämpft. Fast ganz Nordvietnam war am Ende des Krieges unter Kontrolle des Vietminh. Ho erklärte die Unabhängigkeit. Die französischen Kolonialisten schritten, mit amerikanischem Einverständnis ein, zum Teil mit noch nicht entwaffneten japanischen Truppen.
Mehrere Briefe Hos an den amerikanischen Präsidenten Truman blieben unbeantwortet. Ein siebenjähriger Befreiungskrieg begann. Er endete mit der finalen Niederlage Frankreichs in Dien Bienphu 1954. Das Land wurde an der Genfer Konferenz geteilt. Vereinbarte Wahlen fanden nie statt.
Domino-Theorie
Präsident Kennedy schickte 1962 zunächst 10‘000 „Berater“ und Nachfolger Johnson 1965 Hunderttausende von amerikanischen Soldaten nach Vietnam. Damit wollten die USA die Domino-Theorie verhindern, wonach ein Land nach dem andern dem Kommunismus zum Opfer falle, wenn nicht manu militari eingegriffen werde. Es war die hohe Zeit des Kalten Krieges. Der Vietnam-Krieg, den die Vietnamesen den Amerikanischen Krieg nennen, endete mit einer amerikanischen Niederlage.
1976 wurde Nord- und Südvietnam wiedervereinigt. Militärischer Architekt zunächst der japanischen, dann der französischen, schliesslich der amerikanischen Niederlage war der vor zwei Jahren in hohem Alter verstorbene General Vo Nguyen Giap. Vietnams moralisches Gewissen aber war Ho Chi Minh, der unbestrittene Führer. Noch heute wird er als „Onkel Ho“ verehrt, nicht zuletzt von den jungen, weltoffenen Vietnamesinnen und Vietnamesen.
Tausend Jahre „chinesische Okkupation“
Der geschichtliche Exkurs zeigt, wie verstrickt Vietnam in geopolitischer Hinsicht schon immer war, und wie delikat das Verhältnis zum grossen Nachbarn im Norden ist. Noch heute beklagen sich Vietnamesen über die „chinesische Okkupation“. Nordvietnam war vor zweitausend Jahren eine chinesische Provinz und übernahm eins zu eins die chinesische Kultur. Die „Okkupation“ dauerte rund tausend Jahre. Obwohl mittlerweile seit über tausend Jahre beendet, bleibt „die Schmach“ im kollektiven Bewusstsein unvergessen. Vietnamesinnen und Vietnamesen sind äusserst geschichtsbewusst und seit je glühende Kämpfer für ihre Unabhängigkeit.
Wichtigste Handelsroute der Welt
Auch jetzt, wo sich das wirtschaftliche und politische Schwergewicht vom atlantischen in den pazifischen Raum verschoben hat, spielt Vietnam wieder eine tragende Rolle. Das Land hat eine 2‘000 Kilometer lange Küste am Südchinesischen Meer, das die Vietnamesen das Vietnamesische Meer nennen. Diese Region ist heute neben Nordkorea sowie Pakistan/Indien wohl das gefährlichste Sicherheitsrisiko in Asien. Das wiedererstarkte China beansprucht das Meer und seine felsigen Inselchen als „nationales Territorium“. Ansprüche aber stellen auch Taiwan, Malaysia, die Philippinen und Brunei und vor allem Vietnam.
Es geht sicher um reichlich vorhandene Bodenschätze wie Erdöl und Gas. Es geht aber auch um eine der wichtigsten Handelsrouten der Welt zwischen dem Indischen Ozean und dem Pazifik, wo 40 Prozent des Welthandels passieren.
Bereits Ho Chi Minh hat während des Amerikanischen Krieges erfolgreich zwischen Moskau und Peking laviert und hat beide Grossmächte bei Laune gehalten. Etwas Ähnliches versucht Hanoi heute unter neuen Bedingungen. US-Präsident Bill Clinton hat in den 1990er-Jahren die diplomatischen Beziehungen wiederhergestellt und die Wirtschaftssanktionen aufgehoben. Hanoi und Washington verstehen sich seither bestens. Bill Clinton wurde bei seinem Vietnambesuch vor fünfzehn Jahren wie ein Held empfangen. Amerikanische Importe, Rüstungsgüter eingeschlossen, sind seither hochwillkommen und Exporte nach Amerika von Textilien, Nahrungsmitteln – vor allem Meerfrüchten – und Elektronik boomen.
Erzfreund und Erzfeind
Während also Vietnam mit seinem ehemaligen Erzfeind USA wieder ins Reine gekommen ist, unterhält es gleichzeitig mit seinem ehemaligen Erzfreund Russland wieder gute Beziehungen. Auch mit China, dem seit Jahrhunderten bestimmenden Nachbarn ist derzeit das Verhältnis wieder leidlich normal. Das ist nicht selbstverständlich. Nicht nur wegen der chinesischen Ansprüche im „Vietnamesischen Meer“.
1979 nämlich, nur vier Jahre nach dem Ende des Vietnam-Krieges, kam es an der chinesisch-vietnamesischen Grenze zu einem siebenwöchigen Krieg. Vietnam hatte damals mit einer Invasion in Kambodscha die von China (und Amerika) unterstützten mörderischen Khmer Rouges vertrieben. Chinas Reform-Architekt wollte Vietnam eine „Lektion erteilen“. Der kurze Krieg gewann zwar China, doch deren Volksbefreiungsarmee zählte über 40‘000 Gefallene.
Auf dem Hintergrund der geopolitischen Lage und den neuen ökonomischen Bedürfnissen macht es deshalb für Vietnam Sinn, sich dem von den USA initiierten Transpazifischen Handelsabkommen (TPP) von vorläufig zwölf Staaten anzuschliessen. Washington hat zwar Peking auch eingeladen, doch Peking traut der Sache nicht. Vielmehr wird spekuliert, dass das TPP gegen China gerichtet ist.
Keine politische Öffnung
Ob auch in Vietnam das „Normale Neue“, wie Chinas Parteichef Xi Jinping das neue Wirtschaftsmodell Chinas bezeichnet, zum tragen kommt, ist derzeit kaum zu beantworten. Korruption, überbordende Bürokratie, arrogante Staatsfirmen und eine nicht geeinte Führung sind, wie schon in den euphorischen 1990er-Jahren, die grössten Probleme. Ähnlich wie in China wird es in absehbarer Zeit auch keine politische Öffnung geben.
Allerdings spielt das Internet in Vietnam eine wichtigere Rolle als in China. Premier Nguyen Tan Dung hat neulich hohen Parteikadern ungewöhnlich offen gesagt, dass es „unmöglich“ sei, die „sozialen Medien zu kontrollieren“. In der Tat, Vietnam kann mangels Geld und Expertise nicht wie China eine „Grosse Internet-Feuer-Mauer“ hochziehen. Immerhin tummeln sich schon über 50 Prozent der Bevölkerung, vor allem die Jungen, auf dem Netz der Netze. Die mit dem Internet verbundenen Hoffnungen von Regierung und Partei: mehr Innovation, mehr Kreativität, mehr Wachstum. Handkerum werden gleichzeitig die Gesetzte verschärft. Allzu mutige Blogger landen ohne viel Federlesens im Gefängnis.