Der Skandal um die Verfolgung des völlig unschuldigen Juden Joseph Süsskind Oppenheimer ereignete sich vor annähernd 300 Jahren, aber bis heute hat sein Schicksal etwas Aufwühlendes. Raquel Erdtmann hat die Prozessakten gesichtet und rollt diesen Justizmord ganz neu auf.
Am 4. Februar 1738 wurde Joseph Süsskind Oppenheimer in Stuttgart an einen zwölf Meter hohen eisernen Galgen, dem höchsten im ganzen Land, gehenkt. Zu diesem Ereignis waren mehr als 10’000 Schaulustige geströmt. Der Leichnam wurde nicht etwa beigesetzt, sondern dafür hatte man sich etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Es war ein roter Gitterkäfig angefertigt worden, in dem man den Erhängten sechs Jahre lang am Strick baumeln liess.
Allein diese Umstände zeigen, dass Oppenheimer für die damaligen Zeitgenossen weitaus mehr war als ein gewöhnlicher Delinquent. Seine Hinrichtung hatte eine höhere Bedeutung als den blossen Vollzug einer Strafe als Sühne und Abschreckung. Etwas entlud sich an Oppenheimer, aber was?
Die Arbeit im Archiv
Im Jahr 1919 wurde das Archiv mit den Gerichtsakten öffentlich zugänglich gemacht. Lion Feuchtwanger, der 1925 seinen Roman, «Jud Süss», herausbrachte, hat sich dafür allerdings kaum auf das Archiv gestützt, sondern auf eine Biografie, die im Jahr 1874 von einem Manfred Zimmermann verfasst worden war. Auch die Novelle von Wilhelm Hauff im Jahr 1827 entstand ohne Zugriff auf das damals noch verschlossene Archiv.
Die in Ost-Berlin geborene Schauspielerin, Autorin und Gerichtsreporterin (FAZ, Die Zeit) Raquel Erdtmann hat als Erste die acht laufende Meter umfassenden Prozessakten im Stuttgarter Hauptstaatsarchiv im Verlauf von mehreren Jahren akribisch durchgearbeitet. Motiviert war sie von Lion Feuchtwanger, durch den, wie sie schreibt, die «Romanfigur ‚Jud Süss‘ seit meiner Kindheit ein spitzer Stein in meinem Schuh war». Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie ohne den Zuspruch einiger Freunde «oft verzagt» wäre. Aber in diesen Jahren hat sie sich eine überragende Souveränität im Umgang mit den verwickelten und verzweigten Geschehnissen um Oppenheimer angeeignet. Diese Souveränität zeigt sich in ihrer Sprache: anschaulich, pointiert, manchmal witzig und nicht selten sarkastisch. Allein deswegen lohnt sich die Lektüre.
Das Unglück mit dem Erfolg
Dieser Süss Oppenheimer muss ein in jeder Hinsicht ungewöhnlicher Mensch gewesen sein. Er war ein ungeheuer tüchtiger und erfolgreicher Geschäftsmann, ein Genie im Knüpfen von Kontakten und ein Mann mit höchsten Ansprüchen an den Lebensstil. Raquel Erdtmann schildert eindringlich, wie miserabel die Lebensumstände der damaligen Juden in in Ghettos oder Judengassen waren und mit welcher Chuzpe sich Oppenheimer über diese Begrenzungen hinwegsetzte. Er konnte sich das leisten, weil er zum Berater und Finanzier von Fürstenhöfen aufstieg und im Grunde niemand ohne seinen Rat auskam.
Sein Unglück begann mit einem grossen Erfolg. Er machte die Bekanntschaft mit Carl Alexander, der am Hof in Wien aufwuchs und schon mit 14 Jahren in die kaiserlichen Kriegsdienste eintrat. Dort machte er rasch Karriere, wurde mit 25 Jahren zum Generalfeldmarschall befördert und bereiste als Kosmopolit ganz Europa. 1719 wurde er von Karl VI. zu seinem Statthalter in Serbien ernannt.
Beide Herren fühlen sich zueinander hingezogen, denn beide waren in höchstem Masse anspruchsvoll und eigenwillig. Als am 31. Oktober 1733 der Herzog von Württemberg, Eberhard Ludwig, starb, wurde Carl Alexander die Thronfolge übertragen, denn er war dessen Cousin. Die Württemberger waren davon alles andere als begeistert, denn Carl Alexander zählte zum Umfeld des Kaisers und war Katholik. Und er hatte Ideen zum Umbau des Staates, die er schon in Serbien umgesetzt hatte. Für die Württemberger war das ein Schreckensszenario.
Zwischen Baum und Borke
Akribisch beschreibt Raquel Erdtmann, wie Oppenheimer daran ging, die staatliche Verwaltung zu reformieren, um nicht zuletzt einen Überblick über die Staatsfinanzen zu erhalten, so dass sie saniert werden konnten. Zudem übertrug ihm Carl Alexander die Aufgabe, das Münzwesen neu zu ordnen, was mehr als anspruchsvoll war. Ausserdem mussten die Verwaltungsstrukturen neu geordnet werden, denn das «Ländle» wurde von Honoratioren beherrscht, die seit Generationen vor sich hin wurstelten und sich mit Händen und Füssen dagegen wehrten, in irgendeiner Weise ihre angestammten Privilegien zu verlieren.
Oppenheimer sass dabei zwischen Baum und Borke. Wieder und wieder ermahnte er Carl Alexander, sich nicht arrogant über die Mentalität der Württemberger hinwegzusetzen. Auf der anderen Seite war er derjenige, der die modernen Methoden der Finanzverwaltung und der Wirtschaft implementierte. Und was die biederen Württemberger besonders fuchste, war sein Lebensstil. Er wohnte an mehreren Orten, seine Häuser waren beliebte Treffpunkte mit allem Prunk, und er selbst trat stets in sorgfältig gewählter luxuriöser Kleidung auf. So hatte man sich damals Juden nicht vorgestellt und so wollte man sie schon gar nicht sehen.
Fassungslosigkeit
Es wäre eine interessante Frage, ob Oppenheimer ahnte, auf wie dünnem Eis er sich bewegte. Die Darstellung von Raquel Erdtmann auf der Basis der Prozessakten legt den Gedanken nahe, dass er sich dessen nicht bewusst war. Denn als Carl August am 12. März 1737 unerwartet an einem Schlaganfall stirbt und Oppenheimer am 13. März nach Stuttgart eilt, um der Herzogin Maria Augusta die Nachricht vom Tod ihres Gatten zu überbringen, wird er von der Stadtwache zunächst in seinem Haus festgesetzt und später inhaftiert. Er ist fassungslos.
Und nun schildert Raquel Erdtmann in aller aller Ausführlichkeit anhand der Prozessakten, wie von Anfang an alles, was Oppenheimer in bester Absicht, rechtlich absolut einwandfrei und akribisch dokumentiert unternommen hatte, systematisch ins Gegenteil verkehrt wurde. In den Abschnitten vor dem Prozessbeginn schildert Erdtmann diese verschiedenen Reformen und Verbesserungen bei den Staatsfinanzen und in der Verwaltung, um jeweils sarkastisch anzufügen: eine weitere Sprosse auf der Leiter am Galgen.
Zynismus bis zuletzt
Es ist ein Lehrstück, wie aus vermeintlichen Freunden übelste Verleumder und wie aus scheinbar loyalen Geschäftspartnern Verräter werden. Und auch diejenigen, die Oppenheimer Amt und Einfluss verdankten, scheuten sich nicht, ihn mit ihren Aussagen aufs Schafott zu schicken. Erdtmann schreibt eine Sozialgeschichte eigener Art. Man lernt viel über diese Zeit und speziell über die Mentalität der damaligen Württemberger. Wie lange das Gift wirkte, das sie zusammenbrauten, sieht man auch daran, dass die Nazis es noch 1940 für ihren antisemitischen Propagandafilm «Jud Süss» verwenden konnten.
Die Vernichtung von Joseph Süsskind Oppenheimer fand nicht nur im Gerichtssaal statt. Dazu dienten auch die Haftbedingungen und die Verhörmethoden unter Anwendung der Folter. Alles lief in den sieben Monaten der Haft darauf hinaus, diesen stolzen Mann zu brechen. Als man ihn zum Schafott führte, war er weniger als ein Schatten seiner selbst, aber in ihrem Zynismus haben die Henker ihn noch in scharlachrote Staatstracht gekleidet.
Raquel Erdtmann: Joseph Süsskind Oppenheimer. Ein Justizmord. 272 Seiten. Göttingen: Steidl, 2024, 24 Euro