„Früher rangen wir um Wörter, um das beste Adverb, das beste Adjektiv. Es war ein ständiger Kampf um bestmögliche Formulierungen. Und heute?“.
Mario Cortesi ist 71. Er sprüht vor Dynamik und Energie. „Heute ist man schnell zufrieden", sagt er. "Die Journalisten sind genügsam geworden“.
Cortesi hatte 1965 in einer über hundertjährigen Villa am Bielersee das „Büro Cortesi“ gegründet – unterstützt vom Schweizer Fernsehen und der Basler „National-Zeitung“. Bis zu 50 Journalisten arbeiteten dort. Sie belieferten grosse Schweizer Blätter, arbeiteten für die „Tagesschau“ und die „Antenne“, die damalige Regionalsendung.
Für viele ist Journalismus "irgendein Beruf"
„Heute fragen die Journalisten bei einer Anstellung als erstes: Wie viel verdiene ich, wie viele Ferien habe ich, muss ich am Samstag arbeiten – und abends?“. Früher habe man nie zuerst über Finanzielles geredet. Man habe den Zeitungen Projekte vorgestellt und gesagt: „Schauen Sie zuerst, was wir liefern, und dann sagen Sie uns, was es wert ist.“ Man sei stolz gewesen, sich in einer Zeitung mitteilen zu können. Heute überlege man sich zuerst, ob man mit dem Honorar ein neues Auto kaufen könne. Für viele sei Journalismus heute „irgendein Beruf“. Das Herzblut fehle.
Cortesi, energisch, engagiert und voller Ideen, hat nichts von seinem Kampfgeist verloren. Wir sprechen am Sitzungstisch in seiner Firma am Bielersee, dort wo auch viele Bundesräte sassen und den Cortesi-Leuten Red und Antwort standen. Schlecht stehe es heute um die Ausbildung der jungen Leute. „Als ich zwanzig war, hatte ich sicher schon tausend Bücher gelesen“, sagt er.
Lest Hemingway, lest Tucholsky!
„Den jungen Journalisten befahlen wir: Ihr müsst alle Hemingway lesen, verinnerlicht euch seine Sprachbilder“. Und heute?
Heute lese kaum einer Hemingway, auch keinen Tucholsky. „Wir haben Tucholsky mehrmals gelesen und sagten uns, wow, diese Formulierungen“.
Unter Werner Wollenberger und Roman Brodmann „musste man noch formulieren können“. Da wurde nicht einfach ein Satz hingeschrieben, „da musste man um jedes Wort kämpfen“.
Heute gehe alles so schnell. Die SMS-Generation überlege sich nicht mehr, ob der jeweilige Satz der beste sei.
Viele junge Journalisten hätten nicht mehr das Bedürfnis, etwas kritisch auszuloten. Alles werde zur Routine. Auch die Recherche leide. „Man erforscht die Dinge nicht mehr, geht ihnen nicht mehr auf den Grund. Man denkt, bei Google finde ich dann schon etwas“. Das Verdikt ist klar: „Der Journalismus ist schlechter geworden“.
Um 18.00 Uhr schaltet man ab
Cortesi stellt auch fest, dass die jungen Journalisten nicht mehr eingehend miteinander sprechen. Sie sitzen in ihren Büros und schicken sich Mails oder Messages. „Wir hatten noch eine unglaublich starke Kommunikation, da wurden gemeinsam Ideen geboren. Oft sassen wir noch am Abend zusammen, redeten und sinnierten über mögliche Themen“. Heute würden die Journalisten um 18.00 Uhr nach Hause gehen - und abschalten.
Seit jeher gehört Mario Cortesi zu den mutigen und hartnäckigen Journalisten. Immer wieder greift er heisse Eisen auf. So schrieb er früher auch kritisch für Dienstverweigerer und gegen Kampfflugzeuge – und wurde stante pede zum Linken gestempelt, zum Kommunisten. Er wurde bespitzelt, sein Telefon wurde abgehört, seine Post wurde geöffnet. Im Restaurant, in dem er zu essen pflegte, fragte die Bundesanwaltschaft den Pächter, ob man Mikrofone unter dem Tisch montieren dürfe.
Es war die Zeit des Kalten Krieges, die unschöne Zeit von Bundesanwalt Hans Walder, des Hofer-Clubs und der krankhaften Fichen-Manie. Die Mächtigen im Land mochten ihn nicht, weil er manchen auf die Füsse trat. Überall witterten die Schnüffler Landesverrat und kommunistische Konspiration. Zwei Kilo schwer ist das Dossier zu den Fichen, die man über Cortesi angelegt hat. „Ich, ein Kommunist“, sagt er heute, „das wäre mir nie eingefallen“.
Manches wird verschwiegen
Noch immer ist er der kritische Journalist. Viele Freunde in der Politik hat er deshalb nicht. Aber in der Journalistenszene einen guten Namen. Er beklagt, dass die Journalisten heute nicht mehr hartnäckig nachfragen. Manches würde verschwiegen. Viele Journalisten pflegten gute Beziehungen zu Politikern und hohen Beamten, auch zu Bundesräten. Von ihnen erhalte man dann ab und zu wichtige Informationen. Solche Quellen wolle man nicht mit kritischen Berichten brüskieren – sonst versiegen die Quellen.
„Was mir in der Schweiz fehlt, ist der harte Journalismus. Dass man auch einmal einem Bundesrat an den Karren fährt und sagt: So nicht“.
"Wir arbeiteten von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends"
Cortesi, der das Büro lange Zeit mit Frank A. Meyer führte, belieferte nicht nur Zeitungen und Zeitschriften mit recherchierten Artikeln. Bald begann er Dokumentarfilme zu drehen, die immer wieder ausgezeichnet wurden, auch mit internationalen Preisen. „Wir arbeiteten von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends“. Gemeinsam habe man das Morgenessen im Büro eingenommen und über neue Projekte diskutiert („Frank A. Meyer ass immer zwei Spiegeleier mit Schinken“).
In den Gründung-Statuten war festgeschrieben, dass das Büro nie mehr als 50 Journalisten beschäftigen dürfe, damit es nicht zur Fabrik wird und die Qualität der Arbeit in gegenseitiger Kontrolle gewährleistet bleibt. „Wir mussten grosse Aufträge ablehnen, da wir sonst mehr Leute hätten einstellen müssen“. Heute beschäftigt das Büro 40 Mitarbeitende.
400 Journalisten ausgebildet
Das Büro war die erste schweizerische Ausbildungsstätte für Journalisten – lange vor dem Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern. „Wir haben nie ausgebildete Journalisten angestellt“, sagt er, „wir haben alle selbst ausgebildet“.
400 Journalistinnen und Journalisten lernten in den 47 Jahren das Handwerk in Biel. Viele sind gross herausgekommen, viele arbeiten heute für die wichtigen Medien in der deutschen und französischen Schweiz. Noch heute bildet Cortesi junge Journalisten aus. Seit 1978 gibt er auch die grösste Gratiszeitung in der Region heraus: „Biel/Bienne“ erscheint mit einer Auflage von 110‘000 Exemplaren, die einzige echte Zweisprachen-Zeitung der Schweiz.
Das Büro Cortesi startete 1965 mit einem mutigen Geschäftsmodell. Jeder Journalist war Mitbesitzer zu gleichen Teilen wie der Chef. Jeder legte sich – im Rahmen des Möglichen - seinen Lohn selber fest. 13 Jahre lang funktionierte dieses idealistische Modell perfekt. Dann 1978 musste man zwanzig neue Kräfte anstellen, um „Biel/Bienne“ herauszugeben. Seither gibt es „Besitzer des Büros“ und „Angestellte“.
Das Filmhotel auf Ibiza
Ein Mal pro Jahr zog es Cortesi und sein Team nach Ibiza. Dort diskutierte die Crew während einer Woche intensiv über das vergangene Jahr und über neue Projekte. Dort auch entdeckten die Cortesi-Leute 1985 eine tausendjährige verfallene Villa. „Se vende“. Sie kauften sie und verwandelten sie in ein „Filmhotel“ mit sieben Suiten. Im „El Palacio“ gab es eine Marilyn Monroe-Suite oder eine James Dean-Suite. Bekannte schweizerische und deutsche Künstler stiegen dort ab, so Emil oder Udo Lindenberg. Vor drei Jahren wurde das Haus verkauft. „Nicht, weil es kein Erfolg war, im Gegenteil“, sagt Cortesi, „aber die Büro-Gesellschafterin, die es führte, ist jetzt über siebzig“.
Auch Cortesi ist über siebzig, doch ans Aufhören denkt er noch lange nicht. Was hält er von der heutigen Presse?
Der Journalismus im Internet muss besser werden
Die Zeitungen seien uniform geworden. Überall gebe es Kopfblätter, man habe kein Geld für tief gehende Recherchen, es fehlten die Spezialitäten. „Auch die Sonntagszeitungen sind leider sehr oberflächlich geworden“. Aber: Obwohl man überall spare, gebe es in der Schweiz immer noch einige gute Zeitungen.
Im Internet sieht Cortesi eine Chance. „Doch wenn der Journalismus im Netz Erfolg haben will, muss er besser werden“. Es brauche grosse Investitionen. „Und es braucht Journalisten, die nicht nur im SMS-Stil schreiben können“.
Cortesi glaubt, dass es die Papierzeitungen noch lange geben wird, trotz Internet. Rupert Murdoch investiert Millionen und Abermillionen in Druckereien. „Er täte das nicht, wenn er an den baldigen Tod der Papierzeitung glaubte“.
Erschreckende Genügsamkeit der Jungen
Doch die Bezahlzeitungen kommen laut Cortesi immer mehr unter Druck. Die Jungen, die heute nur Gratiszeitungen lesen, würden sich – wenn sie erwachsen sind – wohl keine Bezahlzeitungen leisten. Sie seien anspruchslos. „Ihnen reichen die Informationen der Gratiszeitung und die Online-Berichte. Man will gar nicht mehr. Die Jungen sind aufgewachsen mit einer erschreckenden Genügsamkeit. Wenn sie dreissig sind, werden sie noch immer genügsam sein“.
„Wenn ich heute die Tageszeitung aufschlage und fünf Todesanzeigen sehe, dann denke ich: Fünf Abonnenten sind für immer verloren. Niemand wird sie ersetzen.“