Ein deutsch-jüdischer Funktionär, der selber Auschwitz überlebt hatte und nach dem Krieg als hochstehender Funktionär für die Entschädigung jüdischer Opfer und gegen alte Nazis kämpfte, zerbrach am deutschen Nachkriegsantisemitismus. Eine Biografie zeigt seine Geschichte und gleichzeitig ein beschämendes Bild dieser Epoche.
Am 16. August 1952 nahm sich der 46-jährige schwerkranke Philipp Auerbach mit einer Überdosis Schlaftabletten in einem Münchner Krankenhaus das Leben. Es war der letzte Protest eines gebrochenen Mannes, der als deutscher Jude Verfolgung und KZ überlebt hatte und später in einem beispiellosen Prozess zu Unrecht verurteilt worden war. War Philipp Auerbach damals eine weitherum bekannte – und vor allem umstrittene – Persönlichkeit, ist sein Name heute kaum noch jemandem geläufig ausser Fachhistorikern.
Der «Fall» Auerbach zählt zu den wichtigsten und bezeichnendsten Episoden deutsch-jüdischer Nachkriegsgeschichte. Exemplarisch zeigte sich hier die Abwehrhaltung in der Bevölkerung wie von Politik, Justiz und auch Medien gegenüber den Verbrechen des NS-Zeit und gegenüber den überlebenden Opfern. Zwar gibt es eine Fülle von Forschung zu diesen Jahren, aber merkwürdigerweise taucht Philipp Auerbach immer nur am Rande auf.
Deshalb ist es ein grosses Verdienst von Hans Hermann Klare, einem ehemaligen Journalisten des «Stern», zum 70. Todestag Auerbachs eine gründliche Biografie dieses aussergewöhnlichen Mannes aufgeschrieben zu haben. Schon der Untertitel gibt den Kern dieser Geschichte preis: «Eine deutsch-jüdische Tragödie oder wie der Antisemitismus den Krieg überlebte». Letzteres ist die «nüchterne» Version der zynischen Feststellung, dass Juden nach Krieg und Holocaust nicht trotz, sondern wegen Auschwitz mit einem neuen und teils auch gewalttätigen Antisemitismus konfrontiert wurden. «Die Deutschen werden uns Auschwitz nie verzeihen», hiess es, und recht sollten die Überlebenden behalten.
Auerbach war 1906 in Hamburg in eine gutbürgerliche Familie geboren, wurde Industriechemiker und Kaufmann. 1933 floh er vor den Nazis nach Antwerpen, baute eine grosse Firma auf und unterstützte im spanischen Bürgerkrieg die republikanischen Kämpfer. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 schoben ihn die belgischen Behörden nach Frankreich ab, wo ihn die deutschen Besatzer erst ins südfranzösische Gurs und 1944 am Ende nach Auschwitz deportierten. Befreit wurde er nach einem Todesmarsch 1945 in Buchenwald. Seine Frau und seine Tochter waren aus Belgien noch in die USA entkommen, doch die Ehe endete in einer Scheidung. Im Nachkriegsmünchen gründete Auerbach eine zweite Familie.
So weit die dürren Daten
Nach seiner Befreiung nahm Auerbachs Leben eine völlig andere Wendung als das der anderen jüdischen Überlebenden, die sich durchgehend gegen ihren Willen in Deutschland als «displaced persons», sogenannte DPs, wiederfanden. Die allermeisten von ihnen stammten aus Osteuropa, nur wenige kamen ursprünglich aus Deutschland. War ihr einziges Bestreben, mit Hilfe der Alliierten, unter deren Schutzschirm sie anfänglich standen, so schnell wie möglich nach Palästina oder in die USA auszuwandern, sah Philipp Auerbach fortan seine Aufgabe darin, ihnen dabei zu helfen und für ihre materielle Entschädigung zu kämpfen. Die Alliierten und die deutschen Behörden brauchten ihrerseits jemanden, der die Brücke zu den DPs bildete. Er selber dachte nicht daran, Deutschland zu verlassen. Bald wurde er zum wichtigsten jüdischen Funktionär, ab 1946 in Bayern als «Staatskommissar für die Betreuung der Opfer des Faschismus» Leiter einer eigenen Behörde. Gleichzeitig wurde er Mitglied im ersten Direktorium des Zentralrats der Juden (der Dachorganisation der sich neuformierenden jüdischen Gemeinden).
Er wurde zum leidenschaftlichen Kämpfer und geriet bald mit allen offiziellen Stellen in Konflikt, den amerikanischen Besatzungsbehörden wie den bayrischen Ämtern und Politikern und selbst mit anderen jüdischen Funktionären. Das lag auch an seiner schwierigen Persönlichkeit: Rechthaberisch, aufbrausend, zuweilen unehrlich, penetrant, aufschneiderisch, so gab er sich. Er «frisierte» auch seinen Lebenslauf, schmückte sich schon mit einem Doktortitel, ehe er ihn dann tatsächlich erworben hatte.
Auerbach begnügte sich nicht mit seiner aufreibenden Tätigkeit für Entschädigung und Wiedergutmachung, Geld, Nahrung, Wohnung. Gleichzeitig deckte er die NS-Vergangenheit vieler Deutscher auf, die nun schon wieder in Amt und Würden sassen, manchmal nach gar keiner oder nur geringfügiger Strafe. Macht man sich bewusst, dass kein öffentliches und politisches Lebens wiederaufgebaut werden konnte ohne alte Nazis – es waren einfach zu viele – kann man sich vorstellen, in welche Konflikte Auerbach geriet und wie leicht er sich so Feinde machte. Aber er machte unbeirrt weiter. Klare gelingt eine ausgezeichnete Darstellung aller Interessen, die hier aufeinanderprallten, Auerbach und die jüdische Gemeinschaft mittendrin.
Die sah sich sofort und überall wieder mit Antisemitismus konfrontiert, auch wenn er den Umständen gemäss anders auftrat. Nun wurden Juden bezichtigt, sich auf Kosten der Deutschen zu bereichern, die ja so viel durchgemacht hatten und sich vor allem selber als Opfer sahen. Man warf Juden vor, von den Alliierten unverdienterweise bevorzugt zu werden und sich diese Hilfe zu erschleichen. Keine antijüdische Stereotype, die nicht zum Vorschein kam und nun die Funktion hatte, entweder Juden als nicht besser als die Nazis hinzustellen oder aber zu zeigen, dass sie an der Verfolgung noch immer selber schuld gewesen waren. Der Schwarzmarkt, der überall blühte und an dem auch Juden beteiligt waren, bot einen willkommenen Anlass. Dass sie hier wie überall nur eine kleine Minderheit bildeten im Gegensatz zu den nichtjüdischen Deutschen und DPs, wurde verdrängt und verschwiegen.
In dieser vergifteten Atmosphäre machte Auerbach einen erstaunlichen Aufstieg, machte sich mit seiner fordernden, auftrumpfenden, selbstherrlichen und manchmal aggressiven Art aber allseits unbeliebt, bei den Alliierten und erst recht bei deutschen Politikern, deren Vergangenheit er nachforschte.
Das konnte nicht lange gut gehen und ging es auch nicht. Seine Gegner formierten sich, besonders jene in der politischen Führung in München. Schliesslich brachten sie Auerbach 1951 mit einem üblen Gemisch von Unterstellungen und Anschuldigungen vor Gericht. Im wesentlichen lautete die Anklage auf Unterschlagung und Selbstbereicherung, Erpressung, Untreue, Bestechung und unerlaubtes Führen eines akademischen Titels. Ihn klagte ein Staatsanwalt an, der NSDAP-Mitglied gewesen war, und über ihn urteilte ein Richter, der ein ehemaliger Oberkriegsgerichtsrat gewesen war. Nach fünf Monaten der Verhandlung waren alle wesentlichen Anklagepunkte bis auf den fälschlicherweise geführten akademischen Titel zusammengebrochen. Und dennoch wurde der inzwischen schwerkranke Auerbach zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und 2700 Mark Strafe verurteilt. Noch am Abend des Urteils, in seinem Krankenhausbett, nahm Auerbach sich das Leben. Der Hauptbelastungszeuge wurde später des Meineids überführt, zweieinhalb Jahre später wurde Auerbach von einem Untersuchungsausschuss des bayrischen Landtags rehabilitiert.
Hans-Hermann Klare gelingt eine eindringliche und anschauliche Darstellung dieser Nachkriegszeit, die heute aus dem Geschichtsbewusstsein der meisten Deutschen verschwunden sein dürfte. Er verweist auch auf die himmeltraurige Rolle der Medien, seien es der Spiegel, die Zeit oder die Süddeutsche Zeitung. Deren oft antisemitische und revisionistische Haltung in der Nachkriegszeit inzwischen in vielen Untersuchungen gut belegt ist. Denn auch die Redaktionen waren anfänglich durchsetzt mit alten Nazis, worin sie sich vom Rest der Gesellschaft nicht unterschieden. Auerbach wurde auch ihr Opfer.
Einziger Einwand gegen das Buch ist, dass Klare zu oft in den Stil eines Stern-Reporters verfällt, was heisst, er schmückt aus, spekuliert häufig, was sich wer nun in welcher Situation gedacht haben mochte und was Motive seines Handelns hätten sein können. Hier geht ihm Anschaulichkeit über die quellenbelegte Darstellung, was den Journalisten vom Historiker unterscheidet. Dennoch, wer etwas über eine vergessene und verdrängte Episode deutscher Geschichte erfahren möchte, sollte dieses Buch lesen.
Hans-Hermann Klare: Auerbach. Eine deutsch-jüdische Tragödie oder wie der Antisemitismus den Krieg überlebte. Aufbau Berlin, 2022, 471 S., Fr. 42.90, ebook 24.90