Was eine Geste nicht alles bewirken kann! Am 4. Februar wurde Abdul Qadir Mollah von einem Gerichtsgebäude in der bengalischen Hauptstadt Dhaka ins Gefängnis zurückgebracht, nachdem er von einem «Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal» zu lebenslanger Haft verurteilt worden war. Er entstieg dem Polizeiwagen und erhob triumphierend seine Hand zum Victory-Zeichen. Er hatte Grund zum Lachen: «Lebenslang» bedeutet eine Haftstrafe von fünfzehn Jahren; nicht schlecht für die Mitschuld an einem Genozid.
Nachwirkungen des Unabhängigkeitskriegs
Die Ereignisse liegen bereits vierzig Jahre zurück. Mollah ist einer von vierzehn Männern – die meisten von ihnen Mitglieder des «Jamaat-E-lslami» – die im Unabhängigkeitskrieg von 1971 mehrere tausend Bengalen ermordet haben sollen. Der Jamaat hatte sich damals auf die Seite Pakistans geschlagen und wollte die Trennung von Ost- und West-Pakistan verhindern. Dessen «Razakar»-Milizen hatten laut Anklage Studenten, Lehrer, Anwälte und Politiker der separatistischen «Awami-Liga» eliminiert.
Rund drei Millionen Menschen kamen im Unabhängigkeitskrieg um, und das Trauma nistete sich tief in das Selbstverständnis des neuen Staates ein; es beeinflusst das politische Leben bis heute. Der Jamaat wurde 1973 verboten, aber vom Militärregime fünf Jahre später wieder zugelassen. Er etablierte sich nach der Rückkehr der Demokratie als radikale islamistische Partei und beteiligte sich einmal als Juniorpartner an der Regierung. Als die Awami-Liga 2008 wieder ans Ruder kam, setzte sie zwei Gerichtshöfe ein, um die Verbrechen von 1971 zu sühnen und die Täter zu bestrafen; deren Unparteilichkeit ist umstritten. Mollah war der zweite Angeklagte, der am 4. Februar 2013 verurteilt wurde.
Von lokalen Sit-ins zur landesweiten Protestwelle
Während der Gerichtsverhandlungen der letzten Monate versammelten sich bei einer grossen Kreuzung vor der Universität Dhaka täglich einige hundert alte Unabhängigkeitskämpfer und Studenten zu Sit-ins. Als sich die Bilder von Mollahs Siegergeste mit Windeseile in den sozialen Medien verbreiteten und mit der Aufforderung zu Protesten unterlegt wurden, verwandelte sich die kleine Protestgemeinde am «Shahbagh Square» am nächsten Tag in eine wogende Menschenmenge von mehreren zehntausend Demonstranten.
Die erst vor kurzem zugelassenen Nachrichtensender nutzten ihre Chance zur Profilierung und begannen rund um die Uhr vor Ort zu berichten. Zu den Studenten gesellten sich neugierige Zuschauer aus der Zehnmillionenstadt, die sich im Gedröhne der Lautsprecher rasch in Demonstranten verwandelten. Hunderte von Bussen karrten junge Leute aus dem ganzen Land herbei, aber auch Textilarbeiter und Bauern. Der Subkontinent hatte seinen ersten «Tahrir Square».
Protest «mit umgekehrten Vorzeichen»
Aber es ist ein «arabischer Frühling» mit umgekehrten Vorzeichen. In Nordafrika und der arabischen Halbinsel war die Kampagne anfänglich eine informelle Koalition säkularer Protestgruppen und islamischer Organisationen; deren gemeinsame Zielscheibe war ein korruptes und autoritäres Regime. In Bangladesch ist beides anders. Der Gegner ist nicht die Regierung oder der Staat, und statt dass sich religiöse Organisationen in den Kampf für mehr Demokratie werfen, werden sie hier zur Zielscheibe.
Der Grund liegt im Geburtsmythos des ehemaligen Ost-Pakistan, der die bengalische Sprache und Kultur als nationales Einigkeitssymbol feiert – und dies ausdrücklich gegen die islamische Staatsideologie Pakistans, die zudem das Urdu (mit dessen arabische Schrift) als einzige Staatsprache durchsetzte. Der «Märtyrerplatz» in der Nähe des Shahbagh Square war bis heute der zentrale sakrale Ort dieser Ideologie. Dort waren 1953 Studenten von der Polizei erschossen worden, als sie für Bengali als zweite Nationalsprache demonstrierten.
Islamisierung und Demokratisierung im Widerstreit
Die Unabhängigkeit hatte damals keine Wiedergeburt des «Goldenen Bengalen» gebracht. Weder bengalische Nationalideologie noch die tolerante Sufi-Tradition des südasiatischen Islam konnten die Islamisierung des Staates aufhalten. Armee und Jamaat ersetzten die säkularistische erste Verfassung mit einem Grundgesetz, das Bangladesch zum islamischen Staat erklärte. Die Generäle brauchten die Religion zur ideologischen Verbrämung ihres Regimes, und die Islamisten nutzten die Hintertür zu ihrer «Reconquista». Erst als – im Jubeljahr 1989 – die weltweite Demokratiebewegung auch Bangladesch erfasste, wurde die unheilige Allianz von Militärmacht und Religion gebrochen. Die kulturelle Identität der bangalischen Nation verband sich wieder mit ihrer ursprünglichen demokratischen Zielsetzung und machte diese zur einigenden Klammer.
Seit nun drei Wochen bildet der Shahbagh Square das Zentrum einer weitgehend spontanen Bewegung, die diesen Prozess der Säkularisierung gegen die Einschränkungen islamischer Verhaltensregeln abschliessen will. Das relativ milde Urteil über Qadir Mollah hat auch zu einer Radikalisierung der Forderungen geführt. «Fushi Chai» – «sie sollen hängen!» – wurde der beherrschende Slogan der Bewegung. Er eskalierte bald zum Ruf, mit dem Todesurteil gegen die Führer der Jamaat-Partei auch diese selbst zu eliminieren.
Gewollte, aber aus dem Ruder laufende Radikalisierung
Die regierende Awami-Liga hat mit der Einsetzung der Kriegsverbrecher-Tribunale der Bewegung eine symbolträchtige Zielscheibe vorgesetzt, indem sie die Islamisten zu Verrätern der bengalischen Nation macht. Aber sie war von der explosiven Ausbreitung der Shahbagh-Proteste ebenso überrascht wie die nationale und internationale Öffentlichkeit. In knapp einem Jahr stehen Parlamentswahlen an, und die Partei von Sheikh Hasina (der Tochter des Staatsgründers Mujibur Rahman) nutzt nun den Druck der Strasse als Vorwand, den Jamaat durch ein Gesetz schon zuvor aus dem Feld zu schlagen.
Aber der Jamaat ist keineswegs erledigt. Wie in Ägypten die Muslim-Bruderschaft ist die Partei kaderartig organisiert und verfügt im ganzen Land über lokale Milizen und Berufsverbände. Der Geldfluss aus Saudiarabien erlaubt ihr den Bau von Moscheen und Madrassen und bietet eine wirtschaftliche Absicherung mit parteinahen Banken und Wohlfahrtsorganisationen. Die studentischen Blogger am Shahbagh Square sind voll damit beschäftigt, den ausgestreuten Gerüchten der zahlreichen religiösen Websites entgegenzutreten, etwa, dass viele junge Frauen auf dem Platz die Nacht verbrächten und dass Demonstranten die Religion verhöhnten. Kurz nach Beginn des Facebook-Kriegs wurde ein prominenter Blogger, Rajib Haider, ermordet; er hatte sich als Atheist bekannt. Die schweren Unruhen am letzten Freitag im Gefolge eines dritten Urteils im Kriegsverbrecher-Prozess – sie forderten 46 Tote – beweisen, wie rasch der Jamaat das Land zum Stillstand bringen kann.
Politische Erneuerung oder Todesstrafen?
Zu den Vorwürfen an die Adresse der jungen Leute kommt jener, sie seien nur eine Front der Awami-Liga, von der man ja wisse, wie korrupt sie ist. Letzteres ist eine Binsenwahrheit, und auch die demokratische Weste der Awami-Liga ist alles andere als blütenweiss. Die Regierung beobachtet die Shahbagh-Demonstranten mit einiger Nervosität, so gelegen sie ihr kommen mögen. Auch diese wollen sich nicht von den Politikern und von der Vergangenheit vereinnahmen lassen, selbst wenn sie ihnen mit dem Kriegsverbrecher-Tribunal eine landesweite Plattform bieten. Sie haben den Shahbagh Square zum «Platz der neuen Generation» umgetauft. Aber Slogans wie «Lasst sie hängen!» können auch in eine Lynchjustiz ausarten, zumal sie vom Staat stillschweigend gefördert werden. Und sie genügen nicht für eine politische Erneuerung des Landes. Für den Augenblick allerdings beweist Bangladesch, dass man sehr wohl ein Muslim sein und gleichzeitig für einen säkularen Staat kämpfen kann.