Der 11. November ist hier in Belgien noch 94 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ein arbeitsfreier Feiertag. Im Wald von La Ferté bei Compiègne, fünfzig Kilometer östlich von Paris, steht einsam in einer Lichtung ein Denkmal für die Zeitgenossen, die sich einen Eindruck von damals verschaffen wollen: die originalgetreue Kopie des Eisenbahnwagens, auf dessen schmalem Tisch 1918 zwei Oberbefehlshaber der deutschen Armeen den zwei französischen und englischen gegenübersassen und die Kapitulation unterzeichneten. Es ist zu erahnen, was in ihnen in jener Minute vorging.
Beginn eines kriegerischen Jahrhunderts
Im Juli und August 1914 war in einer langsamen, von keiner der beiden Seiten gewollten, aber unerbittlichen Eskalation der Erste Weltkrieg ausgebrochen. Die Geschichte, wie sich starre Bündnisse und nationalistische Feindschaftsgefühle in sechs Wochen eigentlich gegen den Willen aller Länder aufschaukelten und zum Ausbruch eines das ganze Jahrhundert prägenden Kriegs führten, ist nachzulesen in der hervorragenden Schilderung der amerikanischen Historikerin Barbara Tuchman (August 1914. Ausbruch des Ersten Weltkriegs, Scherz Verlag Bern und München 1979). In kurzer Zeit veränderte sich damals eine scheinbar festgefügte Welt: Bündnissysteme lösten sich auf, Strategien brachen zusammen, Revolutionen bahnten sich an, und bereits wurde die Saat für den Zweiten Weltkrieg gelegt.
Die deutschen Armeen stiessen, Belgiens Neutralität missachtend, weit nach Frankreich vor. Sie wurden nach einigen Monaten gestoppt, worauf vier Jahre lang von der Nordsee bis an die Schweizer Grenze eine 800 Kilometer lange Front gefror und der grässliche, vier Jahre dauernde, alle Feinde zermürbende Schützengrabenkrieg begann.
Sinnloser Krieg und untauglicher Frieden
In den noch heute die Völker traumatisierenden Schlachten von Verdun, Ypern und anderswo rückten die Gegner immer wieder einige hundert Meter vor oder zurück, bis ab 1917 die Hilfe der Amerikaner die Deutschen zurückzutreiben begann. Als am 11. November 1918 frühmorgens um 5 Uhr 15 die Tinte auf der Kapitulationsurkunde trocknete, stand der Eisenbahnwagen 200 Kilometer vor der deutschen Grenze. Doch die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die Alliierten hatte Kaiser Wilhelm II. und die deutsche Regierung bewogen, einen Waffenstillstand zu suchen, so lange noch kein französischer, englischer oder amerikanischer Soldat auf deutschem Boden stand.
Die damals Regierenden in Deutschland waren gescheiter als Hitler, der sich 1945 erst vergiftete, als ganz Deutschland erobert war. Nicht gescheit hingegen waren die Alliierten, die den Deutschen 1919 nach ihrer ehrenvollen Kapitulation den erniedrigenden Frieden von Versailles diktierten, der 1933 diesen Hitler an die Macht brachte und ihnen einen weiteren Weltkrieg bescherte.
Einschnitt im Gedächtnis Europas
Der 11. November 1918 war für alle kriegführenden Europäer – die Deutschen, Franzosen, Engländer, Belgier, Luxemburger – eine Erlösung in totaler Erschöpfung, mit unendlicher Trauer über die zehn Millionen sinnlos hingemetzelten Toten. Ein Einschnitt im kollektiven Gedächtnis Europas, viel tiefer als der 8. Mai 1945, der den Zweiten Weltkrieg beendete. Der 11. November steht für ein Jahrhundertereignis, welches die Belgier, die Franzosen, die Engländer und andere – ausser den Deutschen, die es wohl nie gefeiert haben – eint und das sie weiterhin feiern, solange sich noch der letzte Kriegsveteran daran erinnert.
Der neugewählte französische Präsident Giscard d’Estaing wollte 1974 die Gedenkparade auf den Champs Élysées als Geste an die Deutschen abschaffen, die ja jetzt versöhnte Verbündete in EG und Nato waren, doch nach einem landesweiten Protest musste er zurückkrebsen.
The Last Post
Vor den Toren des flämischen Ypern fielen 1914-18 eine halbe Million Soldaten, denen befohlen ward – einmal den alliierten, einmal den deutschen –, aus ihren Schützengräben heraus zu stürmen, um gegen Maschinengewehre ein paar hundert Meter Front zu erobern. Unter dem grossen Gedenkbogen wird in diesem westflämischen Städtchen noch heute jeden Tag von Clairons «The Last Post» geblasen, die Militärmelodie, die der Gefallenen gedenkt. An der Mauer der 1927 eingeweihten Steinhalle, wo die Namen der Gefallenen eingemeisselt sind, werden am 11. November jedes Jahr von Veteranen der Regimenter aus aller Welt – weil in Ypern vor allem die Royal Army kämpfte, auch aus ehemaligen britischen Kolonien wie Südafrika und Indien – hunderte von Kränzen niedergelegt. 2011 waren zehn olympische Goldmedaillengewinner anwesend. Die fühlten allerdings nichts von der Tragik, schwatzten und lachten mitten unter den ernsten Leuten. In den lustlos-steif und möglichst schnell wiederaufgebauten Häusern des zerbombten Ypern spürt man das Grauen jenes Kriegs aber noch heute.
Giftgas!
Zur Abwehr eines britischen Angriffs versprühten die Deutschen auf diesem Schlachtfeld am 12. Juli 1917 zum ersten Mal in der Geschichte Giftgas, das davon den Namen «Yperit» bekam. Sie gaben das auf, als der Westwind das Gas auf ihre Linien zurücktrieb. Zum Glück merkten alle Kriegführenden schon bald, dass der Wind an der Front drehen kann. Giftgas ist im Ersten Weltkrieg - wie der Gebrauch von Atomwaffen seit dem Zweiten - tabu geworden. Nach dem Verbot durch eine Genfer Konvention 1925 ist Giftgas nur noch sporadisch gebraucht worden: in den Dreissigerjahren von Spanien gegen Marokko, von Italien gegen Libyen (Wikipedia: «Ypern-Yperit») und dann noch im Irak von Saddam Hussein, der über ein rebellisches kurdisches Dorf Giftgas versprühen liess. Abgesehen von diesen Ausnahmen hat das Giftgas-Tabu bisher 90 Jahre gehalten; eine solche Ächtung von Waffen aus humanitären Gründen hat es in der Kriegsgeschichte zuvor nie gegeben.
Das Abseitsstehen der Schweiz in Europa
Europa hat die Lektion von 1918 in einer historischen Umkehr gelernt und sich nach 1945 friedlich zu einigen begonnen. An eine Waffenstillstands-Gedenkfeier im flämischen Löwen sind auch die Deutschen eingeladen worden. Dies zeigt, dass solche Zeremonien heute nur noch im äusserlichen Ritual den Sieg über die Deutschen feiern. Im Kern sind sie zum Ausdruck eines kollektiven, ganz Europa einigenden Gedenkens an die leidvolle Geschichte des 20. Jahrhunderts geworden.
Und ich? Ich fühle Frustration, dass wir Schweizer bei dieser europäischen Trauerfeier nicht dabei sind. Pervers: Wir waren damals eines der wenigen vernünftigen Länder, immun gegen die Kriegshysterie. Die Mehrheit unserer Schweizer Mitbürger ist aber heute noch froh und stolz, mit diesem Europa nichts zu tun zu haben. Wir sondern uns nicht nur von der aktuellen Europapolitik ab, gegenüber der wir – was selbstverständlich alle andern Länder auch tun – unsere Interessen verfolgen, sondern auch von einem tieferen, über den Tag hinausweisenden Europagedanken, einer Art historischer Solidarität Europas. Wie wenn uns Leiden und Schicksal unseres Kontinents nichts angingen.
Europa hat sich gewundert, dass im September 1989 unsere Gedenkfeiern für die Mobilmachung unserer Armee, also für den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs vor fünfzig Jahren, viel grösser begangen wurden als 1995 für dessen Ende.