Die deutsch-amerikanische Schauspielerin Leonie Merlin Young ist nur einige Jahre älter als die damals, 1943, am düsteren, unfreien Zeitgeist verzweifelnde Basler Autorin Lore Berger. Aber Young steht in dieser grossartigen Textbearbeitung der österreichischen Regisseurin Katrin Hammerl, nur unterstützt von Videoeffekten (Tabea Rothfuchs) und Sounddesign (Franco Visoli) so bebend vor Intensität allein im kleinen Schauspielkabinett des Theaters Basel, genannt „Box“, so fragil, ja, fast hyperventilierend von einer unerfüllten Liebe, von Klarsicht, Lebensgier und Hoffnungslosigkeit, dass einem der doch immerhin schon 75 Jahre alte Text schmerzend unter die Haut fährt.
Der Tod zu Basel
„Es müsste ein Lied geben, das so schön wäre, dass seine Melodie die Tränen trocknete. Es müsste einen Menschen geben, in dessen Gegenwart man Ausgestandenes vergässe ... Aber die Tage sind so grau und haben wenig Schönheit zu geben.“ Die an einer sowohl intellektuellen als auch gefühlsmässigen Unerfülltheit und inneren Einsamkeit leidende Heldin des Romans heisst Esther. Sie liebt (und mit ihr tun dies auch heute noch viele Baslerinnen und Basler) die grüne Oase, welche in bester Wohnlage rund um den Wasserturm angelegt wurde – ein für Lore Berger von Glanz und sanftem Licht und Vogelklang erfüllter Raum, den sie schliesslich zu ihrer Todesstätte wählen sollte.
Die Faszination des „Tod zu Basel“ ist nicht nur in Hans Holbeins weltberühmtem „Totentanz“ lebendig – das Bewusstsein der Endlichkeit ist, bei aller bürgerlichen, vornehmen Zurückgezogenheit der Alteingesessenen, immer zu spüren – unter anderem in den oft düsteren Sujets der berühmten Basler Fasnacht.
Die Mechanismen des Marktes
Aber zurück zum ganz und gar nicht glanzvollen Leben der Lehrerstochter Lore Berger. Nach ihrem Literaturstudium und diversen Sprachstudien arbeitete sie als freie Journalistin und trat 1941 dem militärischen Frauenhilfsdienst bei. Seit 1938 litt sie (wie ihre Heldin Esther) an Magersucht und schrieb heimlich an ihrem ersten Roman, den sie an den Gutenberg-Literaturwettbewerb von 1943 einsandte.
Sie war die einzige Frau, welche in die engere Wahl kam, aber trotz positiver Jury-Beurteilung erhielt sie keinen Preis, da, wie der Sprecher der Jury, Kurt Guggenheim, ausführte, man sich in dieser Zeit angestrengt hatte, „... alles, was hoffnungslos und – wie man damals sagte – negativ war, möglichst auszuschalten. Es war da etwas in dieser Zeit damals, und zwar will ich nicht sagen, es sei Angst gewesen, aber es war ein Gefühl einer furchtbaren Vereinsamung.“
Eine Ironie des Schicksals, oder besser gesagt, die zynischen Mechanismen des Marktes führten dazu, dass „Der barmherzige Hügel“ nach Lore Bergers Freitod von der Gutenberg-Gilde 1944 dann doch noch verlegt wurde. Das Buch erregte zwar einiges Aufsehen in der literarischen Szene, doch einige Jahre später war es in der allgemeinen Aufbruchstimmung der Nachkriegszeit mehr oder weniger vergessen.
Neuauflage mit Tagebuchnotizen
Der Schweizer Literaturwissenschaftler Charles Linsmayer, welcher sich für seine qualitätsvollen Bemühungen um (fast) vergessene Schweizer Literatur seit langem verdient macht, nahm sich 1980/81 zum ersten Mal einer Wiederauflage an. Das Buch erlebte damit sofort seinen beachtlichen Durchbruch, wurde ins Französische und Italienische übersetzt und 1982 von Beat Kuert unter dem Titel „Die Zeit ist böse“ verfilmt.
Eine weitere Neuauflage erschien im Jahre 2000 mit einem Nachwort von Charles Linsmayer im Arche-Verlag. Am 5. Juni nun fand im Theater Basel im Anschluss an die anfangs beschriebene Theater-Aufführung „Esther. Eine Geschichte vom Bruderholz“ die Buchvernissage der nunmehr 4. Auflage von „Der barmherzige Hügel“ statt, wiederum betreut und ergänzt durch Charles Linsmayer.
Diese neueste Auflage erschien, zum ersten Male überhaupt bereichert durch Lore Bergers Tagebuchnotizen, im Zürcher Th. Gut Verlag. Die Tagebuchnotizen machen erst deutlich, mit welch schonungsloser Offenheit Lore Berger sich und die Welt betrachtete, was zu Aufschreien wie diesem führte: „Wälzt euch, ihr Utopien einer verzagten Nachwelt!“ Aber auch zu zartesten Sehnsuchtssätzen: „Ich will mich berauschen am zitternden Blütenblatt einer Mohnblume.“
In dieser Spielzeit wird der Theatermonolog „Esther. Eine Geschichte vom Bruderholz“ nur noch einmal aufgeführt, und zwar im Zürcher Neumarkt-Theater am 16. Juni.
Das Buch „Der barmherzige Hügel“, 4. Auflage, erschienen Juni 2018 im Th. Gut Verlag Zürich.