Seit 2007 kursiert in Frankreich eine Schrift mit dem Titel: L’Insurrection qui vient, deutsch: „Der kommende Aufstand“. Verfasst wurde sie von einem Comité invisible, einem unsichtbaren Komitee. Und im vergangenen Jahr sorgte Stéphane Hessel mit seinem Pamphlet Indignez-vous !, „Empört Euch“ für Furore. Diese schmale Schrift des 93-jährigen ehemaligen Resistance-Kämpfers wurde inzwischen in Frankreich mehr als eine Million Mal verkauft.
Während die Schrift von Stéphane Hessel ohne Anmerkungen gerade mal 14 Seiten stark ist, umfasst „Der kommende Aufstand“ um die 90 Seiten – je nach den unterschiedlichen Ausgaben, die im Internet kostenlos heruntergeladen werden können. Beiden Schriften ist gemeinsam, dass sie ihre politische Kritik kulturell artikulieren: Unser alltägliches Leben, unsere Beziehungen zu den Mitmenschen und zur Natur, unsere Werte, Hoffnungen und Sehnsüchte sind von der herrschenden Ökonomie und Politik durch und durch verdorben worden. Es geht nicht mehr nur um die Verteilung von Geld und Gut, sondern um die tiefgreifenden Deformationen, wie sie nur Diktaturen anrichten.
Bürgerliche Werte
Wie um diese Schriften zu bestätigen, sind es die Demonstrationen in der arabischen Welt, die das Vorbild für die „Empörten“ in Spanien lieferten. Die wiederum waren die Blaupause für die Protestformen, wie wir sie in den USA und jetzt auch in zahlreichen Metropolen Europas beobachten. In dieser Geschwindigkeit und mit dieser Resonanz hat sich selbst die 68er Bewegung samt ihren Protesten gegen den Vietnamkrieg nicht ausbreiten können.
In den immer zahlreicher erscheinenden Berichten der Medien wird unisono hervorgehoben, dass der Protest im Grunde bürgerliche Werte zum Ausdruck bringt. Auf die Stabilität des Geldes und die ausufernden Staatsausgaben zu schauen, ist ebenso bürgerlich wie der Wunsch, eine Arbeitsstelle zu finden und anständig bezahlt zu werden. Es ist bürgerlich, eine lebenswerte und berechenbare Zukunft für sich und seine Kinder haben zu wollen. Der kalte Zynismus, mit dem im Zeichen der „Globalisierung“ alles zum Alten Eisen geworfen wurde, was dem Durchschnittsbürger Halt und Orientierung bot, musste über kurz oder lang eine heftige Gegenbewegung auslösen.
Aber die Gefahr dieser Gegenbewegung liegt gerade in ihrer Berechtigung. Wer die Evidenz der moralischen Rechtfertigung auf seiner Seite hat, ist kaum zu stoppen. Denn wenn er nachgibt, verrät er das, wofür er sich mit allem Recht und aller Verpflichtung erhoben hat. Und muss nicht jeder, der sich einmal an der hell lodernden Flamme der Empörung gewärmt hat, nichts so sehr fürchten wie deren Verlöschen?
Gleichschaltung der Parteien
Jetzt wäre die Zeit der Historiker, Politologen und Soziologen, nach Ähnlichkeiten und Entsprechungen dieses Protests in Geschichte und Gegenwart zu suchen. Ein paar Überlegungen drängen sich auf. So kann man an die ökologischen und Anti-AKW-Bewegungen denken. In Deutschland sind daraus die Grünen hervorgegangen, die mit ihrem Innenminister Otto Schily gezeigt haben, was Law and Order ist, und deren Aussenminister Joschka Fischer die Bundesrepublik Deutschland in ihren ersten Krieg geführt hat. Umgekehrt haben Teile der CDU von den Grünen bis zum Identitätsverlust gelernt. Protest kann also diffundieren.
Aber die Protestbewegungen der Gegenwart zeigen auch, dass sie zum Sturz von Regierungen führen können. Aber Halt! Gilt das nicht nur für Diktaturen? Ist es daher nicht völlig abwegig, im bürgerlichen Protest gegen die Banken und gegen die diversen Rettungsversuche eine Parallele zum Aufstand gegen Diktatoren zu sehen? Abwegig wäre das nur, wenn die erstrebten Veränderungen allein mit den Mitteln demokratischer Willensbildung möglich wären.
Das aber ist nicht mehr der Fall. Ganz im Gegenteil führt die Regierungspolitik nicht nur in Deutschland vor, wie sie die Rechte des Parlaments beschränkt und sich sogar über selbst beschlossene Rechtsgrundsätze hinwegsetzt, wenn der Ruf der Finanzmärkte ertönt. Und was das Ganze noch dramatischer macht: Es gibt nicht einmal mehr eine nennenswerte Opposition in den Parlamenten, die das Nein der Mehrheit im Wahlvolk zum Ausdruck bringt. Die Finanzmärkte haben die Parteien gleichgeschaltet.
Teilhabe aller
Man muss aber nicht gleich von Diktatur reden, um auf die dramatische Veränderung der westlichen Staaten aufmerksam zu machen. Denn unter den Händen hat sich ihr der Code verändert. Dieser Code lag im Wissen um die Fragilität menschlicher Gesellschaften. Frieden herrscht nur dann, wenn die Teilhabe aller gesichert ist. Wenn die Anzahl der Menschen wächst, die „nicht mehr mit von der Partie sind“, wie der Soziologe Ralf Dahrendorf formuliert hat, dann ist der Frieden schnell dahin. Genau das erleben wir jetzt.
Wir brauchen einen neuen Code, und der kann nicht gekauft werden. In seiner viel beachteten Rede über die Wertorientierung der Politik der CDU im August dieses Jahres hat der ehemalige Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, danach gefragt. Wir brauchen einen Code, der das Selbstwertgefühl der Menschen auch ohne Geld anspricht und zur Geltung bringt. Die etablierte Politik ist davon universenweit entfernt.
Trickling down
Deswegen dieser Protest. Deswegen auch die Gefahr. Denn die prekären Lebensumstände werden zunehmen, nicht weniger werden. Deswegen brauchen wir endlich wieder eine Politik, die nicht nur Geld verteilt, sondern Beziehungen schafft, in denen Menschen auch ohne materiellen Komfort ihren Wert erfahren. Die jetzigen Proteste zeigen, dass allein schon die Möglichkeit, sich zu artikulieren, ein eminent wichtiges Mittel zur Bewahrung des Selbstwertgefühls ist.
Leider ist aber die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Protest der Anfang einer Anarchie von unten ist, die oben schon längst herrscht. Darin steckt ein bitterer Witz. Denn zu den Zeiten des ungebremsten Neoliberalismus sprachen seine Propagandisten gerne vom „trickling down“. Damit ist gemeint, dass Güter, die sich anfangs nur wenige Reiche leisten können, dank der wunderbaren Kräfte des Marktes später auch für die untereren Einkommensschichten erschwinglich werden. In Bezug auf das Handeln bedeutet dies: Wenn oben nur noch die Orientierung am kurzfristigen Eigennutz zur Norm wird, wird das auf Dauer auch unten so sein. Das lässt sich dann auf den oberen Etagen im Brustton der moralischen Empörung lautstark kritisieren: "Die Mitarbeiter werden immer unzuverlässiger!"
Übergang in Gewalt
Derzeit richtet sich der Protest gegen eine vergleichsweise kleine Clique von Bankern und Politikern. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass sich die Zahl der Feindbilder ausweiten wird. Denn diejenigen, die „nicht mehr mit von der Partie“ sind, werden ihre eigenen Zuordnungen treffen. Am Ende werden sie gegen alle opponieren, denen es besser geht als ihnen. Erst recht, wenn ihnen immer mehr Opfer abverlangt werden: Rentenzahlungen, Gesundheitskosten der Alten, Ausbildung für die Jungen.
Das, was insbesondere liberale Ökonomen einst so faszinierend gefunden haben, die Unerbittlichkeit des Marktes, wird der Stoff sein, an dem sich die Empörung immer weiter und immer wieder neu entzündet. Und es wird schwierig werden zu erklären, dass jede Wut auch ihre Grenzen haben muss. Dagegen wird in den letzten vier Kapiteln von „der kommende Aufstand“ detailliert beschrieben, in welcher Weise sich der Protest gewaltsamer Mittel bedienen kann. Stolz wird von gewaltsamen Übergriffen auf die Polizei in den Banlieues berichtet und es werden Überlegungen angestellt, wie sich diese Methoden nach und nach so verfeinern lassen, dass der Staat sich an ihnen die Zähne ausbeisst.
Das „unsichtbare Komitee“ und Stéphane Hessel sind keine dummen Leute. Sie stehen ganz bewusst in der Tradition des französischen Existenzialismus und der ihm nachfolgenden Soziologen. Auch die Demonstranten sind nicht auf den Kopf gefallen. Und dank der „social networks“ und anderer Kommunikationsmittel können sie viel bewirken. Um so wichtiger ist es, dass glaubhafte Persönlichkeiten sich verantwortungsvoll einmischen. Sonst werden wir uns eines Tages noch nach den friedlichen Anfängen dieser Bewegung zurück sehnen.