Der 3. Oktober 2013 ist ein Donnerstag. Noch ist es sommerlich warm. Um sechs Uhr steht Costantino Barratta auf. Er will mit seinem pensionierten Freund Onder Vecchi fischen gehen. Es kommt anders.
Jetzt gehört Costantino Barratta zu den bekanntesten Männern Italiens. Das linksliberale Nachrichtenmagazin „L’Espresso“ hat sein Bild auf die Titelseite gesetzt und ihn zum „Mann des Jahres“ bestimmt.
„Man of the Year“
„Männer des Jahres“ gibt es seit 1927. Damals hatte die Redaktion des amerikanischen Nachrichtenmagazins „Time“ zum ersten Mal einen „Man of the Year“ bestimmt; das war Charles Lindbergh. Der „Man of the Year“ soll jemand sein, der „im Guten oder Schlechten“ die Welt entscheidend verändert oder beeinflusst hat. Zu den Erkorenen gehören Hitler, Stalin (zwei Mal), Churchill, Roosevelt, Adenauer, Kennedy, Willy Brandt, Putin, Mark Zuckerberg und Obama. 1982 wurde der Computer ausgezeichnet. In diesem Jahr ist es Papst Franziskus.
Mehrere Zeitungen, Nachrichtenmagazine und Zeitschriften folgten dem „Time“-Beispiel und küren jetzt jedes Jahr ihren „Mann oder Mensch des Jahres. Edward Snowden wurde 2013 oft geehrt.
„Wir sind eine normale Familie“
„L’Espresso“ geht einen andern Weg. Keine international berühmte Persönlichkeit soll es sein – sondern jemand, der in Italien Aussergewöhnliches tat.
Costantino Barratta stammt aus der apulischen Hafenstadt Trani. 1976 war er das erste Mal in Lampedusa und verliebte sich in eine „Lampedusana“, die er bald heiratete. Mit 26 Jahren zog das Paar dann endgültig auf die Insel. „Wir sind eine normale Familie, wie viele andere“, erklärt er. „Ich bin Maurer und habe immer genug Arbeit“.
646 Tote in elf Tagen
Er weiss, dass die Insel, auf der er lebt, international bekannt ist. Sie liegt am äussersten, südlichen Rand der Europäischen Gemeinschaft. Seit 20 Jahren landen hier Flüchtlinge – oder ertrinken vor der Insel im Meer. Allein im vergangenen Oktober sind während elf Tagen 646 Menschen vor Lampedusa ertrunken.
Kaum haben an diesem 3. Oktober Costantino Barratta und sein Freund Onder Vecchi den Hafen mit ihrem fünfeinhalb Meter langen Fischerboot verlassen, sehen sie zwei kleine Boote im Meer treiben. Plötzlich sehen und hören sie Menschen, die im Wasser treiben und schreien. Auch Leichen sehen sie. Es geht darum, die Toten schwimmen zu lassen und die Lebendigen zu retten.
Innerhalb kurzer Zeit ziehen sie mehrere Menschen aus dem Meer. Sie sind alle verschmutzt, teils nackt, verschmiert mit Dieselöl.
Erbrochenes Dieselöl
Dann wollen Costantino und Onder eine weitere Person ins Boot hissen, von der sie nicht wissen, ob sie noch lebt oder schon tot ist. Es gelingt ihnen zunächst nicht, schliesslich dann doch. Die Person beginnt sich zu übergeben und Dieselöl zu erbrechen. „Help me, help me“. Es ist eine 24-jährige Frau namens Uam.
Zwölf Menschen, alle aus Eritrea, haben Costantino Baratta und sein Freund an diesem 3. Oktober 2013 gerettet. Er nimmt sie bei sich zu Hause auf; seine Frau betreut und verpflegt sie. Sie können sein Telefon und seinen Computer benutzen, um den Angehörigen in Eritrea Bescheid zu geben. Uam befindet sich heute in Schweden, die andern Geretteten in Deutschland und Rom.
Weshalb er das alles getan habe, fragte ihn „L’Espresso“. „Ich weiss es nicht. Vielleicht haben wir das auf dieser Insel in uns. Vielleicht ist es, weil wir alle von Immigranten abstammen. Alle Leute auf Lampedusa haben immer allen geholfen“.
Lampedusa – Friedensnobelpreis?
„L’Espresso“ richtet in dem Artikel scharfe Angriffe gegen die italienischen Behörden. Flüchtlinge würden nach ihrer Ankunft auf Lampedusa zum Teil aufs Schändlichste behandelt. Zudem würde zu wenig getan, um ihre kenternden Boote ausfindig zu machen und ihre Insassen zu retten.
Das Nachrichtenmagazin hat in Italien und im Ausland 55‘000 Unterschriften gesammelt. Die Unterzeichner fordern, dass Lampedusa und seinen Bewohnern im Jahr 2014 der Friedensnobelpreis zugesprochen wird. Eine Insel als Nobelpreisträgerin.