Es ist der 17. August 1970. Etwa hundert linke Aktivisten treffen sich im Dorf Pecorile in der Emilia-Romagna. Der Onkel einer der Teilnehmer besitzt dort ein Restaurant und ein Hotel.
Aus Anlass des bevorstehenden Jahrestages gelang es Concetto Vecchio, einem Journalisten der italienischen Zeitung „La Repubblica“, mit Franceschini ein Interview zu führen.
„In Pecorile beschlossen wir, in den Untergrund zu gehen und den bewaffneten Kampf aufzunehmen.“ In den folgenden 18 Jahren haben die „Brigate Rosse“ 128 Menschen getötet. Prominentestes Opfer ist der frühere Ministerpräsident Aldo Moro.
Mit Hilfe der Unterwelt
„Wir mussten unsere Identitätskarten vor den anderen verbrennen. Ich selbst nahm vier verschiedene Identitäten an“, erklärt Franceschini fünfzig Jahre danach im „Repubblica“-Interview. „Bei der Fälschung der Dokumente half uns die Mailänder Unterwelt.“
„Waren die Instrumente, die die Demokratie bot, nicht ausreichend, um Ihre Ziele zu erreichen?“, wird er gefragt. „Nein, das waren sie nicht. Im Gegenteil.“ Viele der Brigadisten betrachten die Demokratie nur als Betrug am Volk.
Er ist 23, als die Brigaden gegründet werden, ein angehender Ingenieur. „Ich sagte meinem Vater, dass ich nach Mailand ziehe, um mich am Polytechnikum einzuschreiben. Stattdessen ging ich in den Untergrund.“
Erinnerung an Garibaldi
„Am Anfang herrschte eine Art Euphorie. Auch die allerersten Jahre waren freudig, wenn auch der Begriff heute übertrieben erscheinen mag. Was wir am Anfang gespielt haben, war noch keine Tragödie, es war eher eine Komödie. Erst in den folgenden Jahren wurde eine Reihe völlig negativer Entscheidungen getroffen.“
Franceschini gründet die Brigaden zusammen mit Renato Curcio und dessen Frau Mara (Margherita) Cagol. „Renato und Mara waren es, die den Namen ‚Rote Brigaden‘ vorschlugen“, erzählt jetzt Franceschini. Der Name sollte an die revolutionären Garibaldi-Brigaden erinnern. Curcio sagte später, der Name sei auch eine Anlehnung an die deutsche „Rote Armee Fraktion“ (RAF), mit der die Brigaden immer wieder Kontakte pflegten.
„Symbol aller revolutionären Kräfte“
„Das Symbol der Brigaden, der fünfzackige Stern, entsteht auf einer Serviette in einer Trattoria“, erzählt Franceschini. Der Stern erinnert an das Logo der kommunistischen Guerilla-Bewegung Tupamaros in Uruguay. „Der Stern ist das Symbol aller revolutionären Kräfte“, sagt Franceschini. „Wir versahen ihn noch mit einem Kreis.“
„Zuerst finanzierten wir uns mit Banküberfällen.“ Doch bald schon zündeten die Brigadisten Autos von Fabrikmanagern an. „Viele von uns waren Kinder von Partisanen. Wir wollten den Kampf weiterführen, der 1945 noch nicht zu Ende war“, erklärt Franceschini.
„Der heisse italienische Herbst“
Blicken wir zurück: Mitte der Sechzigerjahre begannen sich Studenten und Arbeiter in Europa zu politisieren. In Deutschland entstand die „Aussenparlamentarische Opposition“ (APO). In Italien formierten sich Arbeiter zu eigentlichen Kampftrupps. In den Fabriken wurden Flugblätter verteilt, linke, teils linksextreme Fabrikzeitungen entstanden. Der Aufruhr erreichte 1968 einen Höhepunkt. Es war die Zeit des Vietnamkrieges. Der Kampf richtete sich gegen das „korrupte System“, gegen „die Ausbeutung der Arbeiter“ und „die Profitgier der Mächtigen“. 1969 entstand in Italien eine radikale Arbeiterbewegung, die den „heissen Herbst“ (autunno caldo) dominierte.
Im ganzen Land wurden Betriebe durch Massenstreiks lahmgelegt. 300 Millionen Streikstunden wurden 1969 registriert. Überall entstanden linke Studentenzellen und Arbeiterkollektive, unter anderem „La lotta continua“. Auch Renato Curcio und Mara Cagol hatten in Mailand ein linkes Kollektiv gegründet.
Rechtsextremer Terror
Neben den legal operierenden Organisationen wie „La lotta continua“ entstanden bald auch illegale. Dazu gehört die „Partisanenaktionsgruppe“ des linksextremen Mailänder Verlegers Giangiacomo Feltrinelli. Der Aufruhr erreichte 1968 einen Höhepunkt.
Angeheizt wurde der linke Kampf auch durch rechtsextremen Terror. Am 12. Dezember 1969 ereignete sich in Mailand der bisher verheerendste rechtsterroristische Anschlag. Auf der Piazza Fontana explodierte vor einer Bank eine Bombe und tötete 17 Menschen. Anschliessend folgten weitere rechtsextreme Terroranschläge.
Die 20-Minuten-Entführung
Idalgo Macchiarini, ein Siemens-Manager, ist der erste, der von den Brigaden entführt wird. Das war im März 1972. „Die Arbeiter sagten uns: ‚Die Manager in den Fabriken massakrieren uns‘. Mit der Entführung wollten wir der Aussenwelt eine Botschaft übermitteln“, sagt Franceschini heute. „Wir beschlossen, eine Foto zu verbreiten, das Macchiarini zeigt, wie eine Waffe auf ihn gerichtet wird“.
- Waren Sie es, der die Waffe auf ihn richtet?, fragt der Repubblica-Journalist.
- „Ja, derjenige, der die Waffe hält, bin ich. Es ist eine ‚Luger‘, eine Nazi-Waffe, die uns die Partisanen übergeben haben.“
Macchiarini wird nach 20 Minuten wieder freigelassen. Das Foto geht um die Welt.
Gemordet wird noch nicht
Am 14. März 1972 stirbt in Segrate bei Mailand Giangiacomo Feltrinelli. Nach offiziellen Angaben wollte er ein Attentat auf einen Starkstrommast verüben um kam bei der Explosion ums Leben. Schnell kamen Zweifel an dieser Sichtweise auf. Heute schliesst auch die Staatsanwaltschaft eine Mitwirkung des Geheimdienstes bei Feltrinellis Tod nicht aus. Der Fall bringt den Brigaden erneut Zulauf. Neue Zellen werden aufgebaut.
Doch gemordet wird noch nicht. 1974 wird in Genua der Richter Mario Sossi entführt. „Es war notwendig, im Herzen des Staates zuzuschlagen. Es musste klar werden, dass man uns nicht ungestraft angreifen kann“, erklärt Franceschini heute. „Wir identifizierten ihn als einen Magistraten, der besonders wütend auf uns war. Am Ende haben wir ihn befreit. Mir wurde klar, dass wir ihn nicht töten konnten.“ 35 Tage verbringen die Entführer mit dem Entführten zusammen, und offenbar entwickelt sich eine Art Stockholm-Syndrom. „Wir hatten uns einen grossen Verfolger vorgestellt, aber er war ein armer Kerl.“
- „Haben Sie jemals jemanden getötet?“, wird Franceschini von Concetto Vecchio gefragt.
- „Nein, und ich habe es abgelehnt zu töten. Im Gefängnis fragte ich immer Genossen, die getötet hatten: ‚Wie konntet ihr nur töten, ohne überhaupt euer Ziel zu kennen?‘“
Andreottis kalter Blick
Im Juli 1974 wollen die Brigaden Giulio Andreotti, den mehrfachen Ministerpräsidenten und einer der wichtigsten italienischen Nachkriegspolitiker, entführen. Beauftragt damit wird Alberto Franceschini. Er zieht nach Rom, um die Entführung zu planen. Er ist erstaunt zu sehen, dass Andreotti kaum bewacht wird.
„Ich traf ihn in der Menge ein paar Meter von mir entfernt. So fragte ich mich: ‚Ist er es wirklich?‘. Also ging ich auf ihn zu und berührte seine Schultern. Er drehte sich um und sah mich mit kaltem Blick an. Er war ein sehr leichtes Ziel.“
Die Entführung findet nicht statt, weil die Polizei Wind von der beabsichtigten Aktion kriegte.
Am 8. September 1974 wird Franceschini verhaftet. Fotos zeigen, wie er von Carabinieri in Zivil festgenommen wird. Er sitzt dann 18 Jahre im Gefängnis.
Weshalb wird er verhaftet? Wurde er verpfiffen? Franceschini schliesst das nicht aus. Innerhalb der Brigaden herrschte keineswegs nur eitel Freude. Seit längerem tobte ein Machtkampf zwischen Franceschini und Mario Moretti. Dieser gehört nicht zu den Gründungsmitgliedern, nimmt aber schnell eine dominante Haltung ein.
„Er war immer mein Feind“
Franceschini beschreibt Moretti als Mann mit „präzisen, radikalen Ideen“, der bis zum Äussersten gehen wollte. Am Tag vor der Verhaftung Franceschinis kommt es während einer Zusammenkunft der Brigaden zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen ihm und Moretti.
„Ich sagte ihm, dass er dem bewaffneten Kampf nicht gewachsen sei, weil er keine richtige Kultur habe, er sei ein sehr sturer Gewerkschafter, der sehr einfachen Mustern folge. Ich riet ihm, zurück in die Fabrik zu gehen.“ Am Tag danach wird Franceschini festgenommen. „Vielleicht hat mich Moretti verhaften lassen. Jetzt konnte er allein entscheiden. Er ist immer mein Feind gewesen.“ Die beiden haben sich nie wieder gesehen.
Auch Renato Curcio wird im September 1974 verhaftet. Ihm gelingt 1975 mit Hilfe eines bewaffneten Kommandos der Brigaden die Flucht aus dem Gefängnis Casale Monferrato im Piemont. Am 16. Januar 1976 wird er erneut festgenommen und verbringt 24 Jahre im Gefängnis. Das Bild zeigt ihn während seines Prozesses. (Foto: PD)
Mara Cagol, Curcios Frau, eine Soziologin ist es, die das bewaffnete Kommando anführte, das ihren Mann im Februar 1975 befreit.
Anschliessend kidnappt Cagol – zusammen mit anderen Brigadisten – einen Industriellen und versteckt ihn auf einem Gehöft. Bei einer Schiesserei mit der Polizei stirbt die damals 30-Jährige. Auch ein Polizist kommt ums Leben. Die deutsche RAF bezeichnet später eines ihrer Kommandos nach ihr.
Mara Cagol ist tot, die beiden anderen „historischen Gründer“ der Roten Brigaden sind im Gefängnis. Jetzt ist der Weg frei für Mario Moretti. Er trägt wesentlich zur Radikalisierung der Brigaden bei.
Acht Schüsse
Der erste gezielte Mordanschlag der Brigaden findet am 8. Juni 1976 statt. Opfer ist der Genueser Staatsanwalt Francesco Coco. Er hatte sich geweigert, während der Sossi-Entführung einem Austausch mit acht marxistisch-leninistischen Aktivisten zuzustimmen. Das bezahlt er mit dem Leben.
Der spektakulärste Coup gelingt den Roten Brigaden am 16. März 1978. 55 Tage lang wird der entführte Aldo Moro festgehalten. Aus seinem Verliess schreibt er Dutzende Briefe an Freunde und Politiker – auch an den Papst. Immer bittet er, mit den Entführern Kontakt aufzunehmen und zu verhandeln. Einzig der Sozialist Bettino Craxi ist dazu bereit. Ministerpräsident Andreotti und auch seine engsten Parteifreunde lehnen ab. Schliesslich wird Moro mit acht Schüssen getötet und in der Via Michelangelo Caetani in Rom im Kofferraum eines roten Renault 4 aufgefunden. Erschossen wurde er von Mario Moretti.
Spekulationen um Moros Tod
Schnell entstehen Verschwörungsgeschichten. Hatte die CIA, der KGB oder andere Geheimdienste bei dem Mord mitgemischt? Oder standen gar Exponenten seiner eigenen Partei, der Democrazia Cristiana, dahinter? Moro war ein Befürworter des „historischen Kompromisses“, also der Beteiligung der Kommunisten an der Regierung. Sollte das anderen eine Warnung sein, nicht mit den Kommunisten zu kollaborieren? Oder umgekehrt: Wollten die Brigaden einen solchen Kompromiss verhindern, weil sie fürchteten, dann geschwächt zu werden?
Die Spekulationen dauern bis heute an. Viele der Verschwörungserzähler gelten als extrem unseriös. Namhafte Experten glauben nicht an eine Einmischung von Geheimdiensten. Sie geben jedoch zu, dass einige Fragen noch immer ungelöst sind. Auch Franceschini glaubt heute nicht an die offizielle Version des Mordes.
Kronzeugenregelung
Am 2. August 1980 explodiert in einem Wartesaal im Bahnhof von Bologna eine Zeitbombe. 85 Menschen sterben. Sofort schiebt man den Roten Brigaden die Verantwortung für das Attentat in die Schuhe. Spätere Untersuchungen ergeben, dass Rechtsextremisten, die im Dunstkreis des P2-Faschisten Licio Gelli agierten, das Attentat verübt hatten.
Anfang der Achtzigerjahre geht die Zeit der Roten Brigaden zu Ende. Einige der Brigadisten beginnen mit der Polizei zusammenzuarbeiten und profitieren von der Kronzeugenregelung. Gegen fast 1’400 Aktivisten ermittelt die Polizei.
Keine Reue
Am 4. April 1981 wird Mario Moretti verhaftet. Er wird zu sechs Mal lebenslänglich verurteilt, wird aber 1994 vorzeitig unter Auflagen entlassen. Später arbeitet er als Beamter in der Lombardei. Das Foto zeigt ihn im Gefängnis. Reue zeigte er bisher keine. (Foto: PD)
Jetzt spaltet sich die Brigade, mordet jedoch weiter. Am 16. April 1988 wird Roberto Ruffilli, Senator der Democrazia Cristiana, getötet. Es ist der letzte Mord der Brigate Rosse.
Renato Curcio sagte später in einem Interview mit der linksradikalen Zeitschrift „Arranca“: „Wir sind sehr naiv gewesen, wir haben uns gewehrt, weil der soziale Druck sehr gross war. Wir sind dann mit einer organisierten Macht zusammengestossen, die uns unbekannt war und die viel stärker war, als wir glaubten.“
Keine alten Wunden aufreissen
Und heute? Franceschini sagt der Repubblica, er sei der einzige der Gründer gewesen, der versucht habe, die Zeit der Brigaden öffentlich zu thematisieren.
- „Um den verursachten Schmerz öffentlich zu verarbeiten?“
- „Um mir selbst Rechenschaft abzulegen.“ Er trage eine grosse moralische Verantwortung.
„Wir müssen uns vor den Menschen für das verantworten, was passiert ist“, sagt Franceschini. „Oft erkennen mich Leute auf der Strasse und halten mich an. Niemand hat mich je angegriffen. Immer gibt es jemand, der sagt: ‚Wir könnten jetzt die Roten Brigaden gebrauchen‘.“
Verkehren Alberto Franceschini und Renato Curcio, die beiden „historischen Gründer“ der Brigaden miteinander? „Ich habe Renato seit 1982 nicht mehr gesehen, um nicht alte Wunden wieder aufzureissen“, erklärt Franceschini.
Treffen mit Hinterbliebenen
Denkt er an die Toten und die Waisen? „Ja, und wie!“. Einige der Hinterbliebenen und Opfer hat er auch getroffen, so auch den entführten Mario Sossi. (Sossi starb im vergangenen Dezember im Alter von 87 Jahren.)
- Sie sind 72 Jahre alt. Glauben Sie, dass Sie Ihr Leben weggeworfen haben?
- „Nein, das glaube ich nicht. Natürlich hätte ich es besser machen können, aber was ich getan habe, war für persönliche Entscheidungen, niemand hat mich gezwungen. Ich bin direkt verantwortlich für das, was ich getan habe.“
- Ohne die Brigaden wären Sie heute ein Ingenieur im Ruhestand.
- „Ja, wahrscheinlich. Ich wollte eigentlich nach Kuba gehen. Ich habe Bergbau-Ingenieurwesen studiert, weil in Havanna die amerikanischen Techniker rausgeworfen worden waren. Sie mussten ersetzt werden. Ich wollte mich zur Verfügung stellen.“
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Quellen:
„La Repubblica“: Interview von Concetto Vecchio mit Alberto Franceschini, 31. Juli 2020
Renato Curcio, Mario Scialoja: Mit offenem Blick: Zur Geschichte der Roten Brigaden, ID-Verlag, 1997
Pino Casamassima: Il libro nero delle Brigate Rosse: Newton Compton, Rom 2007
Marco Clementi: Storia delle Brigate Rosse. Odradek, Rom 2007
„Wiederstand“ in Italien, Texte der Roten Brigaden, https://www.mao-projekt.de/INT/EU/I/Widerstand_in_Italien.shtml
Arranca, Zeitung der Berliner linksradikalen Initiative FelS