«Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde» – mit dieser Novelle von 1886 hat der Schotte Robert Louis Stevenson (1850-1894) einen zentralen Mythos des 20. Jahrhunderts geschaffen, nämlich die Verkörperung eines Subjekts, das zutiefst zerrissen ist zwischen inneren Antrieben und den Anforderungen der Kultur. Im Mittelpunkt der Geschichte steht ein viktorianischer Gentleman, der hoch ambitionierte Arzt Henry Jekyll, der sich den moralischen Zwängen seiner Zeit und seiner Schicht so rigide unterwirft, dass er es selbst nicht aushält. In der Folge setzt er durch ein Experiment ein Alter Ego frei, welches ihm das bisher Versagte auszuleben erlaubt, ihn damit aber in den Abgrund reisst.
Nicht eins, sondern zwei
Eine schriftliche Lebensbeichte am Schluss der Erzählung gewährt Einblick ins Innenleben des Protagonisten, in die Qual der Spaltung, die ihn zu seinem riskanten Ausbruch getrieben hat. Henry Jekyll betont in diesem Brief, dass bei ihm keineswegs eine bösartige Anlage vorlag, bloss die Neigung, einmal gehörig über die Stränge zu schlagen. Ihn trieb nichts weiter um als eine Lebenslust, der sich manch einer wohl noch gerühmt hätte.
Aber diese Seite auszuleben, das hätte sich Dr. Jekyll nie zugestanden. Sein Denken kreiste ums Ansehen in seinem Umfeld, er war fixiert auf Prestige, «legte Wert auf die Achtung der Klugen und Guten unter seinen Mitmenschen». Um diese Achtung zu gewinnen, sah er sich allerdings gezwungen, eine permanente, praktisch lückenlose Selbstkontrolle aufrecht zu erhalten. Jeder noch so kleine Riss in der Fassade wäre für ihn in höchstem Masse schambehaftet gewesen. Deshalb war ihm auch der Ausweg in die Doppelmoral verbaut, die vielen seiner Zeitgenossen ein Ventil bot.
Jekyll blieb bloss übrig, in eine andere Gestalt zu schlüpfen, wozu ihn eine medizinische Entdeckung befähigte. Nur in diesem Negativ, als Mr. Hyde, konnte er alle Hemmungen fahren lassen. Nicht in der Lage, die spontan-vitale Anlage in sein Leben zu integrieren, war er gezwungen, seine Person buchstäblich physisch zu spalten: auf der einen Seite nun Dr. Jekyll, moralisch hoch integer, bibelfest und wohltätig; auf der andern Mr. Hyde, gänzlich asozial und den – meist aggressiven – Impulsen des Augenblicks ausgeliefert.
Das Konzept des Narzissmus
Sigmund Freud (1856-1939) hat das besondere Selbstverhältnis des Dr. Jekyll auf den Begriff gebracht, und zwar in seinem Konzept vom Narzissmus. Narzisstisch verhält sich ihm zufolge ein Mensch, der den Selbstwert nicht aus der Befriedigung seiner Bedürfnisse schöpft, sondern weitgehend aus der Erfüllung seines Ichideals (Zur Einführung in den Narzissmus, 1914). So ist er quasi einem Bild verfallen, das er sich von sich selbst gemacht hat, in das aber auch die Erwartungen von andern eingegangen sind. Vor allem die Eltern, doch auch weitere Erziehungspersonen haben es in seinen Grundzügen geprägt, und letztlich spiegeln sich darin gesellschaftliche Leitvorstellungen.
Die narzisstische Fixierung kann Menschen dazu bringen, ihre spontanen Antriebe möglichst zu unterdrücken; insofern bewegen sie sich in der Tat jenseits des Lustprinzips. Die Statuenhaftigkeit, in die das mündet, ist allerdings gefährlich, weil ihre Aufrechterhaltung mitunter über alle Kraft geht. Das überhöhte Selbstbild wird zum Götzen, dessen Dienst einen auslaugt – bis zur Erschöpfung. Und nach dem finalen Zusammenbruch steht der Narzisst vor dem Nichts bzw. vor der Erkenntnis, dass alles umsonst war. Stevensons «Seltsamer Fall» erzählt nicht zuletzt auch diese Geschichte.
Freuds Plädoyer für die Kultur
Der spätere Linksfreudianismus hat seine Kulturkritik stark auf Freuds Konzept von der narzisstischen Verführung gestützt: Es sind moralische Normen und gesellschaftliche Ideale, welche Einzelne ins Labyrinth fruchtloser Selbstbespiegelung hineinziehen und damit in die Entfremdung treiben. In der Folge stellen sie ein Reich der Trugbilder dar, das die Menschheit zu ihrem Vorteil hinter sich lassen sollte.
So weit wäre Freud selbst allerdings nie gegangen. Er erkannte zwar als einer der Ersten die Gefahr, die von kulturell auferlegten Versagungen ausgeht, aber er hielt Kultur für unverzichtbar im Zusammenhang mit der kollektiven wie der individuellen Menschwerdung. Für ihn ist der Mensch das Kulturwesen schlechthin. Es macht ihn aus, dass er die unmittelbar andrängenden Bedürfnisse kontrollieren und Aufschub ertragen kann.
Genau darum geht es denn auch bei Freuds Konzept von Sozialisation: Das Kind soll über seine unmittelbare Natur hinausgelangen, das heisst über seine infantile Selbstbezogenheit wie auch über das reine Lustprinzip. Selbst wenn Freud die neurotisierenden Fallen in der Kultur sah, hat er nie an deren grundsätzlichem Wert gezweifelt, sondern sie lediglich als ein höchst ambivalentes Spannungsfeld dargestellt.
Der Preis der Moralität
Die viktorianische Moral verlangt vor allem eines: strengste Disziplin und rigide Selbstkontrolle. Diese manifestiert sich zum einen in einer kühl-steifen Fassade, zum andern im festen Charakter, der sich niemals durch flüchtige Lustbarkeiten vom Weg abbringen lässt. Das Persönlichkeitsideal eines Dr. Jekyll ist gekennzeichnet durch vollständige Identifikation mit Werten und Geboten, die durch die Tradition gegeben und damit unverrückbar sind. Solche Identifikation ist wie ein moralisches Standbild, dessen Intaktheit es um jeden Preis aufrecht zu erhalten gilt. Der viktorianische Gentleman – ebenso natürlich der wilhelminische oder habsburgische – hat alles an sich abzutöten, was seine starre Identität aufweichen könnte, allem voran das sinnliche Begehren.
Wer vor diesem Hintergrund der narzisstischen Selbstbespiegelung verfällt, muss eine enorme Härte gegen sich selbst entwickeln, eine Härte, die zwangsläufig auch Empfindungslosigkeit gegen andere nach sich zieht. Genau das offenbart sich in der empathiefreien Brutalität, mit der Mr. Hyde auftritt – bis hin zum völlig sinnlosen Mord auf offener Strasse. Das Standbild lässt sich nur unbefleckt erhalten durch erbarmungslose Aggressivität nach innen wie nach aussen. Die ist in der Tat auch nötig, um in jenem Wettkampf um moralische Exklusivität zu bestehen, in dem der narzisstisch Fixierte den Daseinszweck sieht.
Gestürzte Standbilder
Die Kollateralschäden bei diesem Verhalten liegen auf der Hand: Einige halten die Pace schon nach innen nicht durch, andere fallen im moralischen Rattenrennen zurück; ihnen allen ist eine tiefe Kränkung gewiss. Nicht zuletzt dient der Hypermoralismus aber auch dazu, die bestehenden Verhältnisse – damals die Klassenspaltung – zu rechtfertigen: Arm bleibt eben, wer seine Bedürfnisse und Begierden nicht zu zügeln vermag. Der tiefe Status ist hinreichend begründet in der Neigung zur Ausschweifung oder zu Disziplinlosigkeiten. Die oben dagegen, die im Lichte, verdanken ihre Privilegien allein dem Umstand, dass sie sich so gut im Griff haben.
Am Anfang des 20. Jahrhunderts begannen kritische Geister die Kosten des moralischen Wettrüstens aufzurechnen. Vor allem aus der psychoanalytischen Ecke kamen immer schärfere Einwände. Sie bezogen sich zuerst auf die individuellen seelischen Folgen, dann immer mehr auf die gesellschaftlichen Konsequenzen einer Ideologie, die einem überzogenen Reinheitsideal frönt. Unter dieser Kritik, aber nicht weniger unter einer verschärften wirtschaftlich-technischen Dynamik begann die rigide bürgerliche Moral zu erodieren, und im Wohlstand der Nachkriegszeit verflüchtigte sie sich vollends.
Aber der Sturz der alten Standbilder bedeutet keineswegs, dass wir nun frei sind. Die Gefahr der narzisstischen Verführung mit all ihren Verirrungen besteht nach wie vor – nun einfach um andere Fetische herum.
American Psycho
1991 veröffentlichte der Amerikaner Bret Easton Eillis (*1964) den Roman «American Psycho», der offenbar den Nerv der Zeit traf und rasch zum Kultbuch avancierte. Der Protagonist Patrick Bateman, ein erfolgreichen Jungbanker, unterscheidet sich zunächst einmal grundlegend von Henry Jekyll, denn er fühlt sich weder einer Familientradition verpflichtet noch gar einer Moral. Auch Genuss ist ihm keineswegs untersagt, im Gegenteil: Sein Umfeld pflegt einen hedonistisch ausschweifenden Lebensstil. Das Persönlichkeitsideal des modernen Erfolgsmenschen entspricht also in keiner Weise, dem für Viktorianer typischen Standbild. Das rettet ihn aber nicht vor der narzisstischen Fixierung.
Auch Bateman geht es primär darum, nach aussen hin etwas darzustellen. Dabei orientiert er sich allerdings nicht an einem fixen Typus. Sein Ideal bildet vielmehr ein durch und durch elastifiziertes Selbst. Für ihn ist es ungemein wichtig, in ständig fluktuierenden Szenen und bei rasch wechselnden Moden nur ja den Anschluss nicht zu verlieren. Im Fokus steht, was gerade angesagt ist: Markenartikel, Szenenlokale, der letzte Insider-Klatsch. Dabei würde einen etwas wie Prinzipien oder charakterliche Substanz bloss behindern.
Vom Standbild zum elastifizierten Selbst
Jekyll hat gegen Antriebe zu kämpfen, die in der Konsequenz an der starren Fassade kratzen, Bateman gegen Impulse, die ihn festlegen und in seiner Beweglichkeit einschränken könnten. Was am Ende des 19. Jahrhunderts das sinnliche Begehren war, ist hundert Jahre später das Bedürfnis nach Halt oder Bindung. Im einen wie im andern Fall geht es um elementare menschliche Antriebe, die dem jeweils geltenden Persönlichkeitsideal nicht entsprechen und darum abzuwehren sind.
Weil das aber nicht ohne Gewalt geht, hat Ellis' Yuppie-Banker nicht anders als Stevensons Gentleman eine unkontrolliert aggressive Kehrseite. Ellis beschreibt in seinem Roman abscheuliche Gewaltexzesse, von denen allerdings nicht restlos klar ist, ob sie real sind oder bloss der perversen Phantasie des Protagonisten entspringen. Ist letztlich auch egal, denn im Phantasma vom gänzlich sinnlosen sadistischen Mord verkörpert sich auf jeden Fall das Aufkündigen jeglicher menschlichen Bindung.
Oberflächlicher Kulturwandel
Schlägt man den Bogen von Dr. Jekyll zum American Psycho, so können schon Zweifel am Resultat einer fast hundertjährigen Kulturkritik aufkommen. Sie hat zwar dazu beigetragen, die überstrenge Moral des bürgerlichen Zeitalters zu stürzen; doch im Rücken dieses Prozesses vermochte sich fast unbemerkt eine neue Werteordnung zu etablieren. Die sieht, was ihre Leitlinien betrifft, wohl gänzlich anders aus. Sie bietet nämlich gleichsam verflüssigte Ideale an, doch die sind letztlich einer rigiden Auslegung mit all ihren destruktiven Folgen nicht weniger offen.
Flexibilität mag als das pure Gegenteil der moralischen Standhaftigkeit erscheinen, doch auch sie lässt die narzisstische Überidentifikation zu. Das führt dann genau so zur individuellen Überforderung, zur Ausgrenzung vieler im Rahmen einer verwilderten Konkurrenz und nicht zuletzt zur Rechtfertigung der aktuellen sozialen Spaltung. Einmal mehr sind die Verlierer selber schuld: Jetzt nicht mehr, weil sie ihre Triebe nur ungenügend im Griff haben, sondern weil sie nicht bereit sind, sich selbst bis zum Äussersten auf Beweglichkeit zu trimmen.
Insofern die Leitbilder der neuen Werteordnung den traditionellen geradezu diametral entgegenstehen, lassen sie sich leicht als positive Erfüllung der antimoralischen Kulturkritik darstellen, ja als sichtbares Zeichen, dass die westlichen Gesellschaften endlich und endgültig im Stand der Freiheit angekommen sind. Die libertären Ideologien zeichnen denn auch genau dieses Bild, und weil die herkömmlichen moralkritischen Argumente an den flexibilisierten Werten abtropfen, bleiben diese bislang vor grundsätzlichen Einwänden weitgehend verschont.
Condition postmoderne
Es wäre im Übrigen auch nicht leicht, plausible Alternativen zu entwickeln. Hoch dynamische Gesellschaften brauchen elastische Leitvorstellungen. Von daher schliesst sich die simple Rückkehr zur guten alten Moral aus, die zum Sehnsuchtsort vieler Frustrierter geworden ist. Anders als vor hundert Jahren kann es auch nicht mehr darum gehen, den Aufbruch in ein ganz Anderes zu versprechen. Im gelobten Land der dynamisierten Gesellschaften sind wir längst angekommen; da mögen im Einzelnen die Beschleunigungen weiter zunehmen, doch ein grundsätzlicher qualitativer Wandel lässt sich kaum absehen – und damit auch kein zwingender Paradigmenwechsel, was die Orientierungen betrifft.
Eine Kritik an der liberalen Ideologie heute wird also kaum gänzlich andere Wertvorstellungen postulieren können. Umso entschiedener sollte sie für einen anderen Umgang mit den heute geltenden eintreten. Dabei könnte ein Rückgriff auf Freuds Narzissmuskonzept in der Tat hilfreich sein. Freud hat nämlich entdeckt, dass es ein Zuviel des Guten geben kann, eine Überidentifikation mit dem Ideal, welche Lust aus der puren Selbstüberwindung schöpft und damit einen gnadenlosen Überbietungswettkampf in Gang setzt. Das gilt eben nicht nur für die Tugenden des viktorianischen Typs, sondern genauso für das, was wir heute Sozialkompetenzen nennen. Und es läuft zurzeit eine gewaltige Propagandamaschine, welche die narzisstische Bewirtschaftung aktueller Ideale permanent anheizt.
Für eine alternative Selbstkultur
Dieser Maschine lässt sich derzeit kein konträrer Werterahmen entgegenhalten – aber sehr wohl eine alternative Selbstkultur. Die hätte mit Freud eine Inkulturation zu bejahen, welche dem individuellen Lustprinzip Schranken setzt; aber sie müsste zugleich ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass jenseits des Lustprinzips eine neue Gefahr lauert: Es ist die Verführung zur masslosen Selbststeigerung, welche einen Konkurrenzkampf in Gang setzt, der die Einzelnen überfordert und die Gesellschaften bis zur Selbstzerfleischung spaltet.
So wäre also ein Modell der Selbstwerdung zu entwerfen, das Bremsen gegen den Narzissmus enthält, ohne gleich die Vorstellung kollektiver Grundorientierungen über Bord zu werfen. Die hätten natürlich – gemäss dem Entwicklungsstand westlicher Gesellschaften – inklusiv zu sein, pluralistisch-tolerant und auf Veränderungen offen, aber sie müssten gesichert werden gegen die Fetischisierung, die ihnen durch die Jagd nach exklusiver Übererfüllung droht.
Mit dem Makel leben
Das entsprechende Modell der Selbstwerdung billigt Mündigkeit nur einem Subjekt zu, das sich von seiner ersten, kindlichen Natur abgesetzt hat, das also hinausgelangt ist über reine Selbstbezogenheit und den Wunsch nach dem geringsten Widerstand. Zugleich aber müsste das Modell Hemmschwellen enthalten gegenüber dem individuellen wie dem kollektiven Narzissmus, der seine Befriedigung ganz aus der Unterdrückung der ersten Natur zieht und dabei den Wert von Menschen daran bemisst, wie weit ihnen diese Unterdrückung gelungen ist.
Genau dieses Spiel fand im 19. Jahrhundert statt; es hat Individuen zerrieben und die Klassenspaltung legitimiert. Auch heute wird es gespielt, und das erst noch im Rahmen einer Werteordnung, die eigentlich mit einem menschlicheren Gesicht daherkommt. Wir müssen es stoppen, denn es spielt die Menschen gegeneinander aus und verhindert damit konstruktive Lösungen bei Fragen, die uns alle betreffen. Es mag ja löblich sein, nach dem Guten zu streben, doch es in seiner Reinheit haben zu wollen, führt definitiv zu Ungutem. So wird uns nichts anderes übrigbleiben, als auf narzisstische Befriedigung zu verzichten und mit dem Makel zu leben.