Die politische Elite im Irak ist gescheitert. Das eröffnet neue Perspektiven für mehr Demokratie. Doch über dem politischen Prozess schwebt die Gefahr einer bewaffneten Eskalation.
Im Irak geht die Regierungsbildung in die entscheidende Phase. Die Parlamentswahlen vom vergangenen Oktober haben zu einer Machtverschiebung geführt. Muqtada as-Sadr, der mit seinen national-religiösen Sadristen die meisten Parlamentssitze gewonnen hat, arbeitet zusammen mit sunnitischen und kurdischen Parteien daran, eine Mehrheitskoalition zu bilden und so die neue Regierung zu dominieren.
Aktuell wird zwischen den grossen parlamentarischen Blöcken darum gerungen, wer der neue Präsident des Landes wird. In den folgenden Wochen ist dann der mächtigste Posten im Land, das Amt des Premierministers, zu besetzen. Doch was heisst das für die Hoffnungen auf mehr Demokratie, für die Tausende von Irakerinnen und Irakern in den vergangenen drei Jahren auf die Strasse gegangen sind?
Durchbrochene konfessionelle Fronten
Der einflussreiche schiitische Geistliche Muqtada as-Sadr ist nicht als grosser Rhetoriker bekannt. Dafür reicht ihm manchmal ein Zettel mit wenigen handgeschriebenen Zeilen, fotografiert und auf Twitter veröffentlicht, um den Kern seiner Position zu umreissen: «Nationale Mehrheitsregierung» (aġlabīya waṭanīya) steht neben einigen anderen Schlagworten darauf, mit einem Hashtag-Zeichen versehen, selbstverständlich.
Sadrs Gegner, ihrerseits nicht verlegen um knappe Formulierungen, befürworten dagegen eine Regierung des «nationalen Ausgleichs». Was nach einem Detailunterschied zwischen unverbindlichen Politslogans klingt, steht für einen Bruch mit der politischen Ordnung, die den Irak in den bald zwanzig Jahren seit 2003 dominiert hat.
«Ausgleich» (tawāfuq) – das ist das Konzept, nach dem das politische System seit dem Sturz von Saddam Husseins Baath-Partei organisiert gewesen ist. Macht und Zugang zu staatlichen Ressourcen sollten unter den drei grossen Bevölkerungsgruppen – Schiiten, Sunniten und Kurden – aufgeteilt werden.
Das Versprechen auf ein friedliches Zusammenleben durch dieses als «Konfessionalismus» bezeichnete System wurde indes nicht erfüllt. Die sunnitische und die kurdische Bevölkerung fühlen sich durch die Regierung in Bagdad diskriminiert. Der «Ausgleich» erfolgte in erster Linie unter den mächtigen schiitischen Akteuren, die nun um ihre Machtbeteiligung fürchten.
Zudem repräsentieren die politischen Eliten im aktuellen System zwar die Bevölkerungs-gruppen anhand ihrer konfessionellen und ethnischen Zugehörigkeit. Wie die irakische Bevölkerung schmerzhaft erfahren musste, folgte daraus aber nicht die Repräsentation politischer Inhalte oder gar die Arbeit im Dienst der Bevölkerung. Stattdessen ist eine der weltweit korruptesten Regierungen entstanden.
Der Ausdruck «Mehrheit» hat bisher auf die Bevölkerungsmehrheit verwiesen, die es zu repräsentieren gelte – so haben die schiitischen Parteien als Vertretung der schiitischen Bevölkerungsmehrheit ihren Machtanspruch legitimiert. Die «Nationale Mehrheit», die Sadr nun anstrebt, setzt sich neben seinem schiitisch dominierten Block auch aus sunnitischen und kurdischen Parteien zusammen, während andere wichtige schiitische Akteure aussen vor bleiben. Auch wenn schon früher überkonfessionelle politische Zusammenarbeit üblich war, wäre dadurch zum ersten Mal eine Koalition an der Macht, die das konfessionelle politische System explizit ablehnt. Einen vereinten schiitischen Block scheint es dagegen nicht mehr zu geben.
Die Zusammenarbeit der verschiedenen schiitischen Parteien war in den vergangenen Jahren durch den einflussreichen Nachbarn Iran gefördert worden. «Nationale Mehrheit» verweist daher auch auf eine explizit irakische Ausrichtung. «Nicht östlich, nicht westlich» lautet der neuste Schlachtruf der Sadristen, womit diese Betonung irakischer Interessen gemeint ist und Einmischungen aus dem Iran, aber auch von den USA oder den Golfstaaten, zurückgewiesen werden. Es ist ein wenig origineller Ansatz, der im Irak bereits seit den 60er Jahren anzutreffen ist. Er trifft aber aktuell auf Zuspruch in weiten Teilen der irakischen Bevölkerung, die die Einmischung externer Akteure als Hauptgrund für die irakische Misere ausmachen.
Kurdische Spaltung
Die Regierungsbildung hat auch in der Autonomen Region Kurdistan im Norden Iraks Auswirkungen. Die beiden grossen kurdischen Parteien KDP (Demokratische Partei Kurdistans) und PUK (Patriotische Union Kurdistans) haben sich bislang die politische Macht geteilt: Die KDP stellt mit Masud Barzani den Präsidenten der autonomen Region, die PUK den irakischen Präsidenten (ein Amt, das seit 2003 im Rahmen der ethnisch-konfessionellen Machtteilung jeweils kurdisch besetzt wurde).
Nun greift die KDP als Verbündete der Sadristen die Präsidentschaft von PUK-Vertreter Barham Salih mit einem eigenen Kandidaten, Reber Ahmed, an. Sie dürfte damit erfolgreich sein und die Chancen stehen gut für Ahmed, den aktuellen Innenminister Kurdistans, zum neuen irakischen Präsidenten zu werden.
Die innerkurdische Machtteilung wird damit untergraben. KDP und PUK pflegen schon lange eine schwierige Beziehung, die in den 1990er Jahren gar zu einem offenen Konflikt eskalierte. Auch wenn ein erneuter bewaffneter Konflikt zwischen den beiden Parteien gegenwärtig wenig wahrscheinlich ist: Die Strategie der KDP, in Zusammenarbeit mit nichtkurdischen Parteien gegen ihre Rivalin vorzugehen, stellt einen Bruch dar mit der politischen Ordnung, wie sie seit 2003 geherrscht hat. Es erstaunt denn auch nicht, dass sich die PUK auf die Seite der Gegner Sadrs schlägt und die Regierung der «Nationalen Mehrheit» zu verhindern versucht.
Entwaffnung der Haschd?
Sadrs Gegenspieler, die eine Regierung des «Ausgleichs» fordern, sind einerseits alte politische Eliten, andererseits die politische Vertretung der Haschd. Die Haschd sind paramilitärische Verbände, die eine wichtige Rolle im Krieg gegen den IS gespielt haben. Obwohl sie formell unter der Kontrolle der Regierung stehen, agieren sie weitgehend nach eigenen Interessen. Sie richten ihre Waffen mitunter gegen den Staat selbst, wie die (gescheiterten) Anschläge auf Ministerpräsident Kadhimi vergangenen November und auf Parlamentssprecher Halbusi im Januar gezeigt haben.
Für die Haschd stellt die aktuelle Regierungsbildung einen Schicksalsmoment dar. Sadr fordert, dass nur noch der Staat über militärisches Gerät verfügen dürfe. Das bedroht die Haschd in ihrer Existenz. Dementsprechend unklar ist, ob sie ihre Waffen auf friedliche Weise abgeben würden, sollte Sadrs Forderung in den nächsten Monaten tatsächlich auch von der neuen Regierung erhoben werden.
Es gibt erste Anzeichen, wonach Sadr tatsächlich Erfolg haben könnte. Seine Strategie ist, führende Köpfe der Haschd zu entmachten, die Interessen der Organisation aber möglichst zu wahren und sie von der neuen Regierung profitieren zu lassen. Trotzdem bleibt das Risiko bewaffneter Auseinandersetzungen hoch, wie die zunehmenden Morddrohungen gegen die Mitglieder des sadristischen Blocks zeigen. Sollte es Sadr gelingen, eine politische Mehrheit für sein Vorgehen zu schaffen und sollte er die Entwaffnung der Haschd tatsächlich durchführen, wäre das ein gewaltiger Schritt hin zu einer Stärkung des irakischen Staates.
Gewalt gegen Proteste als Wendepunkt
2019 und 2020 erlebte der Irak monatelange Massenproteste gegen die Regierung. Vor allem Bagdad und die südlichen Landesteile waren von den Demonstrationen betroffen – just die mehrheitlich schiitischen Gebiete, deren Interessen doch eigentlich durch die schiitischen Parteien vertreten sein sollten. Stattdessen ist die Bevölkerung mit maroder Infrastruktur und korrupten Behörden konfrontiert – selbst das Trinkwasser ist im Süden mittlerweile krankheitserregend. Die Demonstrationen richteten sich gegen die politische Elite, das konfessionalistische System und die grassierende Korruption.
Es waren aber nicht in erster Linie die staatlichen Sicherheitskräfte, sondern die Haschd, die die Proteste angriffen – nicht zuletzt aufgrund der irankritischen Haltung der Demonstrantinnen und Demonstranten. Dabei standen sich zeitweise gar Haschd-Kämpfer und die irakische Polizei gegenüber, die versuchte, die Demonstrationen zu schützen. Die Gewalt gegen die Proteste dürfte entscheidend dazu beigetragen haben, dass die Haschd bei den Wahlen im Oktober abgestraft wurden und ihre politische Vertretung drei Viertel ihrer Parlamentssitze abgeben musste.
Sadr, der Demokrat?
Die Wahlen haben gezeigt, dass die Zivilgesellschaft mittlerweile ein Faktor im irakischen Machtgefüge ist. Zwar hat ein Teil der Protestbewegung die Wahlen boykottiert. Trotz-dem ist den Protestparteien ein Achtungserfolg gelungen. Auch wenn sie im Parlament wahrscheinlich keinen entscheidenden Einfluss ausüben werden, bilden sie nun eine unabhängige parlamentarische Opposition – eine Neuerung in der irakischen Politik und ein wichtiger symbolischer Schritt hin zu einer breiteren politischen Partizipation.
Allerdings sind Zweifel berechtigt, ob das neue Parlament tatsächlich zu einer Stärkung der Demokratie führen wird. Vieles ist abhängig vom grossen Wahlsieger, Muqtada as-Sadr. Sadr hat sich zwar gegen das politische Establishment, externen Einfluss und die Haschd gestellt. Dadurch konvergieren seine Interessen mit denjenigen der Demonstrantinnen und Demonstranten. Das macht ihn aber noch lange nicht zu einem Demokraten. Der schiitische Geistliche hat nie einen Hehl aus seiner Ablehnung der parlamentarischen Demokratie gemacht und auch nie selbst ein Amt angestrebt. Sadr hat den Anspruch, den Irak zu repräsentieren, sieht sich aber als eine ausserhalb der Politik stehende, übergeordnete Instanz. Ob er demokratische Spielregeln respektieren wird oder ob er einfach seine Gegner innerhalb der politischen Elite ausschalten und anschliessend die eigene Machtposition stärken will, bleibt abzuwarten.
Ein beunruhigendes Signal ist diesbezüglich Sadrs Umgang mit seinen eigenen paramilitärischen Einheiten, den sogenannten «Friedensbrigaden». Während er die Waffen in den Händen der Haschd geisselt, betont er gleichzeitig die Kampfbereitschaft der eigenen Truppen. Selbst im Parlament sind Sadristen in Umhänge mit Schriftzügen der Friedensbrigaden gehüllt eingezogen. Derartige Provokationen und Machtdemonstrationen deuten darauf hin, dass die Entwaffnung nichtstaatlicher Akteure vor den Truppen Sadrs haltmachen dürfte. Deren militärische Bedeutung würde dadurch deutlich zunehmen.
Die Zukunft der «Oktoberrevolution»
Kaum etabliert, steht die irakische Zivilgesellschaft also bereits wieder unter Druck. Die Proteste von 2019 und 2020 haben aber gezeigt, dass die Reduktion des Staates auf ein Elitenprojekt gescheitert ist – genauso wie die Idee, politische Repräsentation auf Basis der konfessionellen Zugehörigkeit zu gestalten. Selbst wenn die direkte Macht der Protestparteien im gegenwärtigen Machtpoker beschränkt bleibt, ist die «Oktoberrevolution», wie die Proteste genannt werden, keineswegs gescheitert. Ihre Forderungen sind zu einem wichtigen Bezugspunkt in der irakischen Öffentlichkeit geworden. Die Zivilgesellschaft im Irak hat sich unter enormem Aufwand einen Platz in der politischen Debatte erkämpft. Das eröffnet Räume für eine künftig stärkere demokratische Partizipation.
Das ändert allerdings nichts an der prekären Situation der Aktivistinnen und Aktivisten. Mindesten 36 wichtige Persönlichkeiten aus den Reihen der Demonstrantinnen und Demonstranten sind durch gezielte Anschläge ermordet worden. Noch immer muss, wer sich unabhängig politisch engagiert, um sein Leben fürchten. Zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten haben denn auch in Kurdistan oder ausserhalb des Iraks Schutz suchen müssen. Es wird entscheidend für die Stärkung der Demokratie sein, ob ihre Sicherheit künftig gewährleistet werden kann.