Dabei stellt der Verzicht auf feste Strukturen in diesen Protesten ein Risiko dar, kann aber auch als Chance begriffen werden.
Ausweitung der Proteste und konfessionelle Orientierung
Die Proteste im Irak halten trotz der Gewalt gegen die Demonstrierenden an. Mit Tikrit haben sie nun auch eine Stadt nördlich von Bagdad erreicht und damit den Sprung über die schiitisch dominierten Landesteile hinaus geschafft. Wie ernst es den Menschen auf den Strassen mit ihrem Protest ist, zeigen auch die Orte, die sie zu besetzen versuchen: den Zugang zum Regierungsviertel in Bagdad, den wichtigen Hafen in Basra und eine Ölraffinerie in Nasiriya – strategische Punkte mit hoher politischer und wirtschaftlicher Bedeutung.
Gleichzeitig haben die Demonstrierenden ihre Protestfelder ausgeweitet. Die Demonstrierenden lehnen es ab, sich stärker zu organisieren, selbst Sprecher werden nicht akzeptiert. Listen mit Forderungen werden ad hoc verfasst, immer wieder variierend. Nur die Kernforderungen bleiben dieselben: Neuwahlen, ein neues Wahlrecht und insbesondere ein neues politisches System.
Absage an Parteien und Konfessionelle Orientierung
«Sie repräsentieren uns nicht», zitiert der Sender al-Jazeera einen Demonstranten, und in dieser Aussage zeigt sich die eigentliche Dimension dieser Proteste. Nicht einzelne politische Forderungen stehen im Zentrum. Die Parteien, die Orientierung an Konfessionen, ihr Repräsentationsanspruch, das gesamte politische System, also die politische Führung der Verwaltung und das Parlament, sind delegitimiert. Und wenn das System selbst das Problem ist, reicht es den Demonstrierenden nicht, wenn einzelne wirtschaftliche Verbesserungen versprochen werden.
Auffallend ist, dass das politische Establishment für die Bevölkerung ein Fremdkörper geworden ist. Die alte Gegenüberstellung von Staat und Gesellschaft vermag diese Situation nicht mehr zu beschreiben. Mit unzähligen geschwenkten, umgebundenen und aufgemalten irakischen Fahnen reklamieren die Demonstrierenden für sich, «der Irak» zu sein; Gesellschaft und Nation verschmelzen in ihrer Vorstellung. Das ungeliebte System dagegen wird exkommuniziert.
Folgerichtig lautet eine Standardforderung der Proteste, eine Expertenregierung einzusetzen, oder wie die Demonstrierenden es nennen: eine Technokratie einzurichten. Gefragt ist denn auch keine Repräsentation über Parteien mit politischen Programmen, sondern eher eine interessenspolitisch neutrale Verwaltung.
«Wir alle sind der Irak»
Das umfassende, inklusive Bild eines vereinten irakischen Volkes erfüllt noch eine zweite Funktion in der Systemkritik. Das Parlament ist nach wie vor primär nach konfessioneller Zugehörigkeit strukturiert, tonangebend sind die grossen schiitischen Parteien. Wenn diesem Konfessionalismus ein übergeordneter Bezug auf die gesamte Bevölkerung entgegengehalten wird, dann ist das nichts weniger als die Überwindung des bisherigen Partikularismus, der für Korruption und Klientelismus mitverantwortlich gemacht wird.
«Wir alle sind der Irak» – dieser Leitspruch schliesst das aktuelle politische System gleich doppelt aus: Das Volk repräsentiere den Irak und nicht das System; und legitim sei nur die Orientierung an der gesamten Bevölkerung, nicht an einzelnen Konfessionen.
Eine Fahne, viele Positionen
Rhetorisch steht damit das «Wir» der Bevölkerung als Nation im Vordergrund. Das irakische Fahnenmeer sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Diversität unter den Protestierenden sehr gross ist und dass die Unbestimmtheit der Systemkritik sehr unterschiedliche Vorstellungen erlaubt. Die Proteste umfassen konservative genauso wie liberale Kreise, unterschiedliche soziale Schichten und Milieus beteiligen sich daran, religiöse Symbolik findet sich neben anarchistisch anmutenden Aktionen.
Daher überrascht es nicht, dass sehr verschiedene Ziele der Proteste formuliert werden. Ein neues Wahlrecht unter Aufsicht der UNO wird genauso gefordert wie die Abschaffung der Parteien oder die Einführung einer Präsidialrepublik. Die Verbesserung der Infrastruktur spielt genauso eine Rolle wie die Gleichstellung der Geschlechter. Die Demonstrierenden widerstehen dem Versuch, als eine einheitliche Gruppe identifiziert zu werden.
Man sollte sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass hinter der Wir-Rhetorik auch Vorstellungswelten verborgen sind, die mit einem zivilgesellschaftlichen Emanzipationsprozess nur schwer in Übereinstimmung zu bringen sind. Dazu gehören vor allen Dingen jene Positionen, die auf die Rückkehr eines starken Führers hoffen und die die Nation wieder zum Staat machen wollen. Machtvoller hingegen scheint jenes Projekt zu sein, das die Nation als plurale Ausgestaltung zivilgesellschaftlicher Interessen definiert. Diese Divergenz macht Prognosen zur weiteren Entwicklung der Proteste schwierig.
Gefahr des Scheiterns
So sind Befürchtungen, dass die Proteste scheitern oder in einem populistischen System enden, durchaus berechtigt. Sie widerspiegeln die Gefahren, die in Reformprozessen im Rahmen von Repräsentationskrisen immer bestehen. Doch sollte ein wichtiger Aspekt der Proteste im Irak darüber nicht übersehen werden: Sie etablieren einen gesellschaftlichen Dialog, den das alte politische System nicht mehr glaubwürdig gewährleisten konnte. Somit steht die inhaltliche Unbestimmtheit nicht notwendig für die Überwindung von Gräben in der Bevölkerung, sondern illustriert, dass hier ein neuer Raum geschaffen wird, in dem unterschiedliche Kritiken am System nebeneinanderstehen können.
Die staatstragende Elite steht in der Pflicht. Sie kann entscheiden, ob die Proteste gewalttätig zugrunde gerichtet werden, oder ob der Staat vertrauensbildende Massnahmen ergreift, die zeigen, dass der Staat seine Untertanen als freie Bürger anerkennt. Sie können die Spielräume für eine Gegenöffentlichkeit schaffen, in der das geleistet wird, was das politische System nicht mehr vermag: Alternativen zur alten Ordnung der Gesellschaft zu diskutieren und dadurch am Aufbau einer neuen, als legitim erachteten Repräsentationsstruktur mitzuwirken.
Der Autor ist Mitarbeiter des «Forum Islam und Naher Osten», Universität Bern.