Von Christian Wyler
«Unabhängigkeit»: Seit Kassem Soleimani und Abu Mahdi al-Muhandis am 3. Januar in Bagdad getötet worden sind, ist dieses Wort im Irak omnipräsent. Es ist die Forderung, die auf der Strasse genauso wie von Politikerinnen und Politikern angeführt wird. «Unabhängigkeit», das erinnert an die Kolonial- und Protektoratszeit in der Region, an fremde Herrscher und fehlende Souveränität. Und tatsächlich wird die amerikanische Truppenpräsenz im Irak seit dem Sturz Saddam Husseins 2003 von verschiedenen irakischen Akteuren als Besatzung bezeichnet. Doch auch der iranische Einfluss wird von grossen Teilen der irakischen Bevölkerung kritisch gesehen.
Milizen als verlängerter Arm Irans
Die iranischen Revolutionsgarden sind seit Jahren im Irak präsent. Viel stärker als über eigene Truppen erfolgt der iranische Einfluss im Irak aber über die Unterstützung und Finanzierung von Milizen, die seit dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein 2003 einen bedeutenden Machtfaktor im Irak darstellen. Seit 2014 sind sie in den Verband von Volksmobilisierungseinheiten Haschd eingebunden.
Die Haschd-Milizen haben eine wichtige Rolle beim Kampf gegen den Dschihadverband Islamischer Staat gespielt. Seither hat ihr Nimbus als Retter der Nation für die Bevölkerung aber stark an Strahlkraft eingebüsst. Ihre Kämpfer werden als marodierende Banden wahrgenommen, teilweise haben sich gar mafiöse Strukturen entwickelt, die in Schmuggel und Drogenhandel verwickelt sind. Zudem werden die iran-treuen Milizen für die Gewalt gegen die seit dem vergangenen Oktober andauernden Demonstrationen verantwortlich gemacht.
Wie entwickelt sich die iranische Aussenpolitik?
Die Demonstrationen richten sich (neben der Kritik an Korruption und dem politischen System insgesamt) denn auch explizit gegen den iranischen Einfluss. Eine irankritische Haltung ist selbst unter Teilen der schiitischen Bevölkerung im Irak weit verbreitet. Die aktuelle anti-iranische Welle, die die Proteste trägt, ist in ihrer Heftigkeit und Beständigkeit aber doch aussergewöhnlich. Der iranische Einfluss wird nicht mehr als Garant für Sicherheit, sondern als Gefahr wahrgenommen. Der iranisch-amerikanischen Gewalt auf irakischem Territorium hat die irakische Regierung nichts entgegenzusetzen, ausser dazu aufzufordern, die irakische Souveränität zu respektieren – eine rhetorische Geste, die die eigene Machtlosigkeit deutlich vor Augen führt. Über eine künftige Konfrontation auf irakischem Boden wird denn auch nicht im Irak entschieden werden. Gerade ein solcher indirekter Konflikt droht weiterhin, auch wenn ein offener Krieg fürs erste abgewendet scheint.
Für das amerikanische Vorgehen wird entscheidend sein, ob man den Irak als Aufmarschgebiet und damit als Drohkulisse gegenüber dem Iran halten will. Irakische Forderungen nach einem amerikanischen Truppenabzug werden sich kaum gegen dieses strategische Interesse durchsetzen können.
In Iran hat Revolutionsführer Khamenei das Budget der Revolutionsgarden um 220 Millionen Dollar aufgestockt – Geld, von dem anzunehmen ist, dass es in erster Linie für Milizen im Ausland verwendet werden soll. Dies weist darauf hin, dass der Druck auf die USA aufrechterhalten werden soll. Allerdings sind Khamenei und die Revolutionsgarden durch den Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs stark unter Druck geraten. Sollte die Regierung von Hassan Rouhani von dieser Schwächung profitieren und die eigene Position stärken können, ist von einer Reduktion des (auch in der iranischen Bevölkerung unbeliebten) Engagements im Ausland auszugehen. Ob die Lage im Irak weiter angeheizt wird oder eine Entspannung eintritt, wird somit in erster Linie in Iran entschieden werden.
Amerikanische Präsenz als Machtausgleich
Der iranische Einfluss im Irak beschränkt sich aber nicht auf die Kontrolle von Milizen, sondern reicht bis in Teile des Parlaments und der Regierung. Kombiniert mit massiver Korruption und konfessionalistischen Parteistrukturen führt dies dazu, dass sich grosse Teile der irakischen Bevölkerung von der Regierung in Bagdad nicht repräsentiert fühlen. Das gilt besonders für die kurdisch und sunnitisch geprägten Teile des Landes.
Aus diesen Regionen wird denn auch die Kritik an einem Rauswurf der US-Truppen aus dem Irak immer lauter. Sunniten wie Kurden sehen die amerikanische Präsenz als Gegengewicht zum iranischen Einfluss. So wurde in den vergangenen Wochen von sunnitischen Politikern inoffiziell auch wieder das Gespenst einer sunnitischen Region beschworen, einem Zusammenschluss der sunnitischen Provinzen, der über zusätzliche Autonomie verfügen würde. Dadurch würden die konfessionellen Gräben im Land weiter vertieft.
Noch erscheinen solche Pläne wenig realistisch; dass diese Drohkulisse aufgebaut wird, illustriert aber, wie stark sich gerade die Sunniten durch den iranischen Einfluss bedroht sehen, und wie sehr dadurch die Stabilität im Irak gefährdet ist. Und selbst durch die schiitische Bevölkerung geht ein tiefer Riss, der sich entlang der Haltung gegenüber der Regierung und dem iranischen Einfluss öffnet – die Proteste der vergangenen Monate finden gerade auch in den konfessionell gemischten und den schiitischen Landesteilen statt. Angesichts dieses schwierigen Verhältnisses zum Iran stellt die ungeliebte amerikanische Präsenz für den Irak gegenwärtig eine Möglichkeit dar, angesichts der stark eingeschränkten Souveränität zumindest die Gräben in der eigenen Bevölkerung nicht noch tiefer werden zu lassen.
Christian Wyler ist Mitarbeiter am Forum Islam und Naher Osten (FINO) an der Universität Bern.