Eine Szene aus dem Jahre 2009 in den USA spricht deutlich genug. Es ist die Zeit der heftigen und rauen Debatten über die Gesundheitsreform. Präsident Obama hält eine Rede in Portsmouth, New Hampshire. Ein protestierender Mann bekundet vor dem Rathaus sein Missfallen auf einem Poster mit dem Spruch «Zeit, den Baum der Freiheit zu giessen».
Die Freiheit, die er meint, besteht ganz konkret darin, dass er eine Pistole offen im Beinholster mit sich herumträgt.[1] «Es ist eine politische Aussage», sagt der Mann: «Wenn du deine Rechte nicht gebrauchst, dann verlierst du sie.» Er wurde nicht festgenommen.
Nicht zum Argument, sondern in den Holster greifen
Der Mann mit der Waffe signalisiert eine besondere Art von Gesprächsbereitschaft, eine nämlich, die unter Umständen nicht zum Argument, sondern in den Holster greift. Das zügelt a priori die Lust am Streitgespräch, die offene Auseinandersetzung, die Freiheit des Protests. Als eine «höfliche Gesellschaft» bezeichnete die National Rifle Association (NRA) die bewaffnete Gesellschaft. Gewaltloser Protest wie die Occupy-Bewegung ist also «unhöflich».
Man vernimmt oft, dass private Schusswaffen die Grundversicherung der Freiheit seien, ein Verbot deshalb dem fundamentalen Recht des Indiviuums auf Selbstverteidigung zuwiderlaufe. Die Logik ist einfach: Sicherheit = Selbstverteidigung; Selbstverteidigung = Selbstverteidigung mit Schusswaffen; also: Sicherheit = Schusswaffenbesitz. Ein scheinbar unbezwingbarer Syllogismus, wären die Prämissen richtig. Sie sind es nicht. Pistolen sind nur ein Mittel der Selbstverteidigung, und Selbstverteidigung ist nur ein Mittel, Sicherheit gegen Aggression zu gewährleisten. Man verwechselt hier ein Grundrecht (Sicherheit) mit einem partikularen Recht (Waffenbesitz). Obwohl das Verbot dem Bürger ein Mittel der Selbstverteidigung entzöge, würde es wahrscheinlich im gleichen Zug die Gelegenheiten eines «notwendigen» Waffengebrauchs vermindern. Man kann das Grundrecht des Bürgers auf Sicherheit auch dadurch respektieren und sichern, dass man ihm das partikulare Recht aberkennt – vorausgesetzt, der Staat besitzt das Gewaltmonopol. Und das Vertrauen seiner Bürger.
Privatisierung der Sicherheit
Die Privatisierung der Sicherheit führt zu einer fragmentierten Gesellschaft, im Endeffekt zurück in die freie Wildbahn, die Thomas Hobbes in seinem klassischen Werk «Vom Bürger» als den vorstaatlichen Kampf eines jeden gegen jeden beschrieben hat. Hobbes forderte bekanntlich die Schutzmacht eines überindividuellen «Leviathan», eines Staates, dem die Bürger das Gewaltmonopol überantworten, um nicht ein Leben im «elenden und abscheulichen» Naturzustand fristen zu müssen.
Dieses Monopol wird von Befürwortern privaten Waffenbesitzes regelmässig herausgefordert. Verbot von Angriffswaffen, Magazine mit kleiner Kapazität, eingehendere persönliche Überprüfung beim Waffenkauf – jede solche «Schikane» kontern die Freiheit-dank-Waffe-Apologeten mit ominösen (weniger freundlich: paranoiden) Anspielungen auf eine «despotische» Staatsmacht und ihre heimliche Agenda, die Bürger durch Verbote zu «tyrannisieren». Der Spruch des Pistolenträgers bei der Rede Obamas stammt aus einem Zitat von Thomas Jefferson. Dessen voller Wortlaut sagt alles: «Der Baum der Freiheit muss von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen begossen werden.» Wollte der Mann als «Patriot» implizite zum Mord am «Tyrannen» Obama aufrufen?
Hierarchie der Waffen
Private Schusswaffen etablieren eine Hierarchie. Ein Mensch ohne Schusswaffe ist oder fühlt sich einem Menschen mit Schusswaffe in vieler Hinsicht unterlegen. Früher oder später wird er wahrscheinlich das Bedürfnis verspüren, dieses Ungleichgewicht zu beheben und sich nun selber zu bewaffnen. Dieses Gleichgewicht ist aber labil. Wenn alle Bürger Schusswaffen auf sich trügen, würde der Alltag dadurch nicht sicherer, im Gegenteil. Die Hinterlist dieses individuellen Aufrüstens schafft eine neue Konkurrenzsituation (einen «Markt»): Wer hat mehr Waffen, wer hat die bessere Waffe, wer ist schneller im Ziehen oder Abdrücken? Überhaupt entstünde ein Wettlauf des ständigen präemptiven Handelns, der Alarmbereitschaft, des Sich-Vorteile-Verschaffens: eine Kaskade fortgesetzter Ungleichgewichte, welche die Sicherheit im Ganzen immer mehr unterhöhlt. Man kennt so etwas zur Genüge vom atomaren Wettrüsten her.
Brutalisierung politischer Sitten
Private Schutzwaffen unterminieren das Gemeinwesen, die «res publica». Die Reaktion von Eltern, ihre Kinder nicht mehr in öffentliche Schulen zu schicken, ist nachvollziehbar. Man stelle sich nur einen Augenblick lang das soziale Klima eines Alltags vor, in dem man ständig auf dem Quivive lebt, in Schulen, Rathäusern, Kirchen, Restaurants, Einkaufszentren, öffentlichen Verkehrsmitteln. Die allgegenwärtige Präsenz der Waffe – ob offen oder verdeckt – säht Befürchtungen, Ahnungen, Verdächte, Misstrauen: korrosive emotionale Kräfte also, die ein ziviles und demokratisches Zusammenleben zersetzen. Man kann diese Brutalisierung politischer Sitten in den USA seit einiger Zeit beobachten. Ein republikanischer Senatskandidat – ehemaliger Navy SEAL – trat 2022 in einem YouTube-Video als kombattanter Befürworter des sogenannten «RINO-Hunting» auf. «RINO» ist das Kürzel für «Republican In the Name Only»: Republikaner nur dem Namen nach, also eigentlich «Verräter». Sie gilt es zu jagen. Notfalls mit der Knarre. Die politische Uhrwerk-Orange, die jetzt wieder Präsident werden will, hat stets mit Gewaltanwendung geflirtet, sie als «anständig» und «patriotisch» bezeichnet.
«Es sind Menschen, die töten, nicht Waffen»
Das sagen die Befürworter des privaten Schusswaffenbesitzes. Die Waffe selbst tut nichts. Sie wird böse in den Händen von bösen Menschen; sie wird gut in den Händen von guten Menschen. Das meinte wohl auch der Waffenlobbyist Wayne LaPierre: «Das Einzige, das einen bösen Typen mit Waffe stoppt, ist ein guter Typ mit Waffe.» Das ist das Axiom. Es spiegelt eine vorherrschende Ansicht über Technik: Waffen im Besonderen, Geräte im Allgemeinen, sind willfährige Dinge, gefügige Artefakte, die uns wie Sklaven zu dienen haben. Ihren moralischen Charakter verdanken sie ausschliesslich ihren Benützern. So ist die Pistole in der Hand eines Menschen lediglich ein neutrales Medium, das eine Absicht vermittelt: zu drohen, zu schützen, zu imponieren, zu töten. Nur die Absicht kann moralisch qualifiziert werden, nicht das Medium. Und wer die «gute» Absicht definiert, ist der Schütze.
Der Mensch mit Waffe ist «jemand anderes»
Gerade diese Vorstellung bedarf dringend einer Revision in den Grundfesten unseres Menschenbildes. Der französische Wissenschaftsforscher Bruno Latour sprach in diesem Zusammenhang von einem «symmetrischen» Verhältnis von Mensch und Technik: Der Mensch macht nicht nur die Artefakte; die Artefakte machen auch ihn. So gesehen macht die Pistole im Holster des Bürgers einen Pistolen-Bürger aus ihm (Ähnliches liesse sich sagen über Mensch und Auto oder Mensch und Internet). Beide, Benutzer und Waffe, formieren sich, kurz gesagt, zu etwas Neuartigem, zu einem «Hybrid», wie Latour dies nennt. Es gibt deshalb auch nicht die simple Dichotomie von «richtigen» und «falschen» Händen, in die Waffen geraten.
Auf die Frage «Wer tötet, die Waffe oder der Mensch?» gibt Latour eine auf den ersten Blick eigenartige Antwort: «Jemand anderes (…) Mit der Waffe in der Hand bist du jemand anderes, und auch die Waffe ist nicht mehr dieselbe. (…) Weder Menschen noch Waffen töten. Vielmehr muss die Verantwortung für ein Handeln unter den verschiedenen Akteuren verteilt werden.»
Die Pistole als Identitätshalterin
Selbstverständlich sollte eine solche «Verteilung» nicht als Entschuldigung von Untaten interpretiert werden («Die Pistole sagte mir einfach: Drück ab!»). Auch nicht als Absage an Studien, die uns das psychologische, psychopathologische, soziologische, kulturelle und historische Klima des Waffenwahnsinns einsichtiger machen. Aber mit «jemand anderes» weist Latour auf eine Metamorphose des Menschen in den technisierten Lebensformen hin. Der soziale Akteur ist nicht mehr einfach der Bürger, sondern der Bürger in der ganzen Fahrhabe seiner «persönlichen» Instrumente. Die technischen Artefakte haben sich von ihrem Sklaven-Status befreit. Sie nisten sich in unserer Psyche ein, sie bestimmen unser Handeln, unsere Absichten, sie bestimmen die Politik mit. Nicht die Pistole ist das Gefährliche, sondern die Tatsache, dass sie schliesslich zu meiner Identität gehört.
Wir machen uns deshalb die Sache zu leicht, wenn wir uns damit beschwichtigen, dass die Amerikaner halt Waffennarren seien. Eigentlich dreht sich die Debatte nicht um Waffen, sondern um die private Institution Bürger-plus-Waffe. Die Ereignisse in den USA sind das grosse Warnschild, das sagt: Eine Gesellschaft, die aus lauter solchen armierten Individual-Institutionen besteht, ist keine zivile und offene Gesellschaft freier Menschen mehr.
[1] https://time.com/archive/6915031/when-protesters-bear-arms-against-health-care-reform/